Von Stubenfliegen und Osterhasen. Sabrina Nickel

Von Stubenfliegen und Osterhasen - Sabrina Nickel


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nur noch meine Mutter und ich übrig. Vater verließ vor drei Monaten die Stadt, um nach einem besseren Ort zu suchen, an dem man leben konnte. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Immer wieder träumte ich von ihm, wie er die kaum überwindbare und von bis zu den Zähnen bewaffneten Männern bewachte Stadtgrenze zu durchqueren versuchte. Ich machte mir solche Sorgen.

      Das war das nächste Problem der heutigen Zeit. Die Stadt wurde regelrecht isoliert. Zum Schutz und zur Abwendung weiterer Katastrophen, sagte der Bürgermeister. Nachrichten erfuhr man nur, nachdem sie durch etliche Raster gelaufen waren und geändert wurden, bis nur noch belanglose Dinge die breite Masse erreichen konnten. Hauptsache man kam nicht auf die Idee, den eigenen Kopf zu benutzen. Was war, wenn nicht nur die Umwelt schuld, sondern die Oberhäupter aus den eigenen Reihen eine wahre Plage waren? Ich kannte niemanden, der in der letzten Zeit die Stadt verlassen oder sie bereist hatte. War es auch so außerhalb der Stadtgrenze? Wie würde ein so unbedeutend kleiner Mensch wie ich das je erfahren können?

      „Julia?“ Durch das gekippte Fenster drang Beckys Stimme. Ich trat heran, um nachzuschauen. Ihr Fahrrad gegen einen Laternenmast gelehnt, stand sie auf der Straße und winkte mir lächelnd zu.

      „Ich komme runter“, nickte ich der Frohnatur zu und griff sogleich nach meiner Tasche, die auf der Fensterbank lag.

      Nachdem ich mich von meiner Mutter verabschiedet hatte, nahm ich mein Fahrrad aus dem Schuppen und machte mich zusammen mit Becky auf den Weg zur Arbeit.

      „Hast du nach der Arbeit noch etwas Zeit?“, fragte sie zögerlich, als wir das wuchtige Tor des Fabrikgeländes erreichten.

      Nickend schob ich den rechten Ärmel meines Pullovers hoch und hielt die Innenseite meines Handgelenks an den Scanner. Nichts passierte. „Verdammt“, knurrte ich und Becky sah über mich hinweg auf das Gerät.

      „Stimmt was nicht?“ Wortlos streckte ich ihr mein Handgelenk entgegen und sie zog zischend die Luft ein. „Was hast du gemacht?“

      „Mich am Ofen verbrannt. Am Wochenende“, antwortete ich kleinlaut und rieb mir mit der linken Hand über den von einer Brandnarbe zur Hälfte unkenntlich gemachte QR-Code. Mein gesamter Alltag wurde dadurch lahmgelegt.

      Diese Codes waren der neueste Streich des Landesaufsichtsamtes. Jeder Mensch des Landes wurde durch ihn gekennzeichnet und alle wichtigen Informationen konnten damit abgerufen werden. Er war eine Kombination aus der Weiterentwicklung eines Personalausweises und vielen anderen Dingen. Man konnte damit bezahlen und es wurde gespeichert, was man damit bezahlte. Das Bargeld wurde schon vor Jahrzehnten abgeschafft und man war so gläsern wie ein Wintergarten. Alles wurde überwacht.

      Das erste Mal, als mir dies bewusst auffiel, war, als mein Kollege und guter Freund Daryl sich in das System des Aufsichtsamtes hackte und mir zeigte, was diese tätowierten Codes eigentlich taten. Die Tinte, welche in einem aufwendigen Verfahren hergestellt wurde und eine streng geheime Zusammensetzung hatte, wurde auch Ortungstinte genannt. Beim Stechen des Codes konnte man diesen also gleichzeitig einer Person zuweisen und sie ständig überwachen. Wo man im einundzwanzigsten Jahrhundert noch GPS-Geräte benötigte, waren diese jetzt vollkommen veraltet. Und mir war es schon vor Daryls Aktion schleierhaft vorgekommen, wie Straftäter und vermisste Personen neuerdings so schnell aufgespürt werden konnten. Ich schwor ihm, niemandem davon zu erzählen. Zwei Tage später erschien er nicht mehr bei der Arbeit und bis heute blieb er verschollen. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir klar, dass wir alle in einem Käfig steckten.

      Big Brother is watching you.

      Becky beugte sich über mich hinweg und hielt ihren Arm an den Scanner. Ein tiefer Ton erklang und das wuchtige Tor bewegte sich. Schnell stiegen wir von den Rädern und hielten den riesigen Schornsteinen entgegen, die angeblich frischen Sauerstoff in die Atmosphäre pumpten.

      „Um sechs vor dem Tor, okay?“, lächelte Becky, als sich unsere Wege trennten.

      Nickend erwiderte ich ihr Lächeln. In Gedanken war ich neugierig, was sie mir erzählen wollte, und sorgte mich gleichzeitig, denn schon bald würde das Aufsichtsamt bemerken, dass mein Code nicht funktionierte und mich erneut tätowieren wollen. Der Allmächtige wusste, was passieren würde, wenn ich mich widersetzte. Jede Faser meines Körpers war dagegen, doch wie sollte ich mich wehren? Weder wollte ich meine Familie und Freunde in Gefahr bringen noch mich selbst.

      Der Arbeitstag verlief ohne große Zwischenfälle. Eine Maschine fiel kurzzeitig aus, doch ich hatte schnell die Ursache gefunden und konnte sie beseitigen. Um sechs Uhr tippte ich schließlich meine Arbeitszeit manuell in den kleinen lichtbetriebenen Computer, den wir alle bei der Arbeit am Gürtel trugen, und verließ schließlich die Fabrik.

      Becky stand bereits mit ihrem Fahrrad am Tor, als ich an meinem gerade das Schloss entfernte. „Komm mit“, flüsterte sie schon fast und trat in die Pedale. Meiner Mutter hatte ich bereits mittags eine Nachricht geschickt, dass es heute spät werden würde, und so folgte ich meiner Freundin. Wir fuhren durch ein Viertel, das ich sonst nie durchquerte. Erst als wir in einer menschenleeren Straße ankamen, stoppte sie und ich hielt neben ihr an.

      „Da vorne steht ein alter Fernseher. Siehst du ihn?“

      Ich folgte ihrem Finger und sah in eine Sackgasse. „Ja“, antwortete ich. „Was ist damit?“

      „Es gibt eine Untergrundbewegung“, grinste sie verschwörerisch. „Sie nennt sich 1984. Es sind ein paar Dutzend Leute. Ich weiß das von meinem Bruder.“

      „Und?“, fragte ich erwartungsvoll.

      Schnell hob sie die Hände und bedeutete mir, leiser zu sein. Fast schon ängstlich sah sie sich um. „Diese Leute kämpfen gegen den obersten Rat und die Bewachung der Bürger. Sie wollen einen neuen Lebensraum aufbauen. Das willst du doch auch, oder?“

      „Sicher“, meinte ich und schaute sie verwirrt an. „Wo sind die Leute?“

      Erneut zeigte Becky auf den alten, scheinbar wahllos abgeladenen Fernseher. „Da ist ein Störsender drin, der eine Ortung der Tinte verhindert. Obwohl ich denke, dass du momentan gar nicht geortet werden kannst. Auf dem Boden ist ein Kanaldeckel. Angeblich kann man da hinunter, durch ein Kanalsystem, das aus der Stadt führt und in einen anderen Ort jenseits des Gebiets des Aufsichtsamtes. Dort versuchen die Menschen, unsere Umwelt wieder aufzubauen und die Ländereien wieder bewohnbar zu machen.“

      „Du machst Witze!“, lachte ich auf und konnte ihren Worten kaum Glauben schenken. Energisch schüttelte sie den Kopf. „Du willst mir ernsthaft erzählen, dass es einen Bereich gibt, den sie nicht kontrollieren? Abgesehen davon, dass wir die Stadtgrenze durchqueren, ohne dass jemand etwas merkt?“ Nachdrücklich zeigte ich auf den Gullydeckel.

      Nun nickte Becky. Meine Freundin war durchaus ein abenteuerlustiger Mensch, der des Öfteren mal in Schwierigkeiten geriet, aber angelogen hatte sie mich noch nie. Im Gegenteil – sie war stets absolut ehrlich zu mir und das mochte ich besonders an ihr.

      „Nun“, flüsterte ich und sprang von meinem Rad ab. „Sehen wir mal, ob dein Bruder recht hat.“

      Die Räder versteckten wir in einem alten, verlassenen Hausflur, dessen Fronttür offen stand. Nachdem wir uns erneut vergewissert hatten, dass uns niemand gefolgt war, hoben wir gemeinsam den Kanaldeckel an, kletterten nacheinander hinunter in die Dunkelheit und schlossen ihn wieder. Für Sekunden war es stockdunkel, bis unter mir ein Lichtkegel erschien. Der kleine Wirbelwind hatte doch glatt an eine Taschenlampe gedacht.

      Über eine Dreiviertelstunde schlichen wir durch die Stille, folgten winzigen Zeichen, die jemand in Steine geritzt hatte, bis schließlich ein schwaches Licht am Ende des Tunnels zu sehen war.

      „Hier müssen wir hoch“, wisperte Becky und steckte die Taschenlampe weg, damit sie die Streben besser greifen konnte. Mühevoll schoben wir den löchrigen Gullydeckel beiseite, krabbelten hinaus und sahen uns um. Offenbar befanden wir uns in einer großen Lagerhalle. Überall standen Fässer und Kisten.

      Gerade wollte ich den Mund aufmachen, da brüllte eine männliche Stimme hinter uns: „Stehen bleiben! Hände über den Kopf!“


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