Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel: Reclam Lektüreschlüssel XL. Jan Standke
aus setzt sich Herr Rudolph dafür ein, dass die noch ausstehenden Ergebnisse der Heidelberger Kopf- und Körperbauuntersuchung eintreffen und liest der Mutter das komplizierte Gutachten vor.
Die Mutter wirkt jedoch, als wäre sie an dem Schreiben nur wenig interessiert (S. 144 f.). Laut Gutachten Gutachten ist es »mäßig unwahrscheinlich bis sehr unwahrscheinlich« (S. 152), dass das Findelkind mit den Eltern verwandt ist. Die Mutter schöpft trotz des eigentlich unmissverständlichen Ergebnisses Hoffnung, da erst ein »biomathematische[s] Zusatzgutachten« (S. 153) einen letztlich abschließenden Befund erlaubt. Gleich am nächsten Tag fordert Herr Rudolph das Zusatzgutachten an, das wenige Tage später eintrifft.
Der Ich-Erzähler ist darüber irritiert, dass er in dem abschließenden Gutachten gar keine Rolle mehr spielt und betrachtet Arnold deshalb als »Wichtigtuer« (S. 154). Das Biomathematische Berechnungen Ergebnis des Gutachtens bestätigt, wovon der Ich-Erzähler bereits vorher überzeugt war: »Mit einer an Sicherheit grenzenden mindestens 99,73 % oder 370 : 1 betragenden Wahrscheinlichkeit sind die Antragsteller nicht die Eltern des Findelkindes 2307« (S. 156). Die Mutter will sich mit dem Ergebnis nicht abfinden: »Ich lasse mir mein Kind nicht noch einmal wegnehmen« (S. 157). Herr Rudolph weist die Mutter nun erstmals in strengem Ton daraufhin, dass sie die »Realität akzeptieren« (S. 158) müsse und keinen rechtlichen Anspruch auf weitere Untersuchungen habe.
Daraufhin verfällt die Mutter in ein Schockreaktion der Mutter Zittern, das ihren gesamten Körper ergreift. Sie beruhigt sich erst, als Herr Rudolph sie fest umarmt. Einige Tage später teilt Herr Rudolph dem Ich-Erzähler in einem Gespräch mit, die Mutter glaube nach wie vor, dass es sich beim Findelkind um Arnold handelt. Deshalb möchte sie es adoptieren (S. 162).
Heinrich/Adoptionspläne
Um die Mutter zu unterstützen, hat Herr Rudolph beim Jugendamt Erkundigungen eingeholt und erfahren, dass für das Findelkind bereits seit Jahren ein Adoptionspläne Adoptionsantrag einer anderen Familie läuft. Dem Antrag konnte jedoch noch nicht stattgegeben werden, da die Abstammungsfrage nicht geklärt ist. Schon vor der Mutter und dem Vater hatten sich weitere vermeintliche Eltern gemeldet und es war ebenfalls zu negativen Gutachten gekommen. Aufgrund der langwierigen Untersuchungen ist das Findelkind nun bald volljährig (S. 166). Der Ich-Erzähler ist gekränkt, dass die Mutter mit ihm nicht über ihre Adoptionspläne spricht.
Herr Rudolph konnte in Erfahrung bringen, dass das Findelkind nun Fahrt zu Arnold/Heinrich Heinrich heißt und in einer nahegelegenen Stadt eine Fleischerlehre absolviert. Er möchte der Mutter den Wunsch erfüllen, Arnold ein einziges Mal zu sehen. Einige Tage später fährt Herr Rudolph die Mutter und den Ich-Erzähler in die Stadt, in der Heinrich lebt. Der Ich-Erzähler muss an die früheren Sonntagsausflüge denken, und als sich sein Gesicht zu dem »gleichen bösartigen Grinsen« (S. 170) wie damals verzieht, schreit Herr Rudolph ihn wütend an. Die Sympathie des Ich-Erzählers für Herrn Rudolph geht in diesem Moment verloren, und während eines Tankstopps erkundigt er sich bei der Mutter, ob sie den Revierpolizisten zu heiraten beabsichtige. Die Mutter verneint, gesteht aber ein, dass sie es eigentlich wolle. Nachdem sie die Stadt erreicht haben, parken sie abseits des Geschäfts und Herr Rudolph betritt die Fleischerei, um nachzusehen, ob Heinrich da ist (S. 173). Die Mutter scheut sich nun davor, Heinrich zu begegnen. Herr Rudolph fährt das Auto deshalb vor das Geschäft, so dass sie Heinrich zumindest durch das Schaufenster betrachten kann.
Als der Ich-Erzähler Heinrich durch das Blick durchs Schaufenster Schaufenster sieht, ist er aufgrund dessen großer Ähnlichkeit erschrocken und meint, sein »älteres Spiegelbild« (S. 174) zu erblicken. Die Mutter und Herr Rudolph scheinen dies nicht zu bemerken. Bevor der Ich-Erzähler die Mutter darauf ansprechen kann, gibt sie die Anweisung: »Mach das Fenster zu. Wir fahren« (S. 175).
3. Figuren
Die in Der Verlorene auftretenden Figuren lassen sich in unterschiedliche Gruppen einteilen. Einerseits ist eine Gruppierung in Haupt- und Nebenfiguren Haupt- und Nebenfiguren möglich. Zu den Hauptfiguren sind der Ich-Erzähler, die Mutter, der Vater und der verlorene Bruder Arnold (später das Findelkind 2307 / Heinrich) zu zählen. Auch der Revierpolizist Herr Rudolph könnte unter Umständen der Gruppe der Hauptfiguren zugeordnet werden, da er vor allem im letzten Drittel des Textes wichtig wird. Mit Blick auf seine vergleichsweise geringe Präsenz im Gesamttext wird er im Folgenden aber als Nebenfigur behandelt. Zu den weiteren Nebenfiguren gehören Tante Hilde, Professor Liebstedt und seine Laborantin sowie der Leichenwagenfahrer. Im Text werden weitere Figuren genannt, z. B. Professor Dr. med. Friedrich Keller, der Fotograf, Gäste im Haus der Eltern, ein Kriminalbeamter oder Spielkameraden des Ich-Erzählers, denen für die Handlung aber keine wesentliche Bedeutung zukommt. Die »Russen« (S. 15), die den Fluchttreck der Eltern stoppen, werden nicht näher beschrieben, sind für die Erzählhandlung aber von Belang.
Andererseits können die Figuren danach unterschieden werden, ob sie zur Familie des Ich-Erzählers gehören oder nicht. Der Bruder, das Findelkind 2307 (Heinrich), nimmt in dieser Hinsicht eine Zwischenstellung ein. Bis zuletzt ist nicht klar, ob er tatsächlich zur Familie des Ich-Erzählers gehört. Schließlich können die Figuren danach geordnet werden, welchem Handlungsort sie zugehören (Heimatstadt des Ich-Erzählers, Heidelberg, Heinrichs Arbeitsort).
Abb. 1: Übersichtsgrafik Figuren und Handlungsorte
Hauptfiguren
Der Ich-Erzähler: Der Ich-Erzähler, aus dessen rückblickender Sicht die Geschehnisse in Der Verlorene durchgehend geschildert werden, wächst im Haus seiner Eltern in einer Stadt in Ostwestfalen auf. Man erlebt ihn meist allein oder mit Mitgliedern der Familie. Über Aktivitäten außerhalb des häuslichen Umfeldes, Freundschaften oder schulische Aktivitäten erfährt man kaum etwas.
Namenloser Erzähler Im gesamten Text bleibt der Ich-Erzähler namenlos. Niemand nennt ihn beim Namen und auch er selbst gibt diesen wichtigen Teil seiner Identität nicht preis. Damit steht der Ich-Erzähler von Beginn an in einem starken Kontrast zum erst tot geglaubten und dann vermissten Bruder. Dieser trägt nämlich nicht nur den Namen des Vaters, Arnold, was als Zeichen einer engen familiären Bindung zu verstehen ist. Sein Name wird außerdem bereits auf der ersten Seite des Textes fünfmal genannt (S. 7) und auch im Weiteren häufig wiederholt.
Das Alter des Ich-Erzählers Alter des Ich-Erzählers2 wird nirgends explizit angeführt. Aus den im Text enthaltenen Informationen lässt es sich jedoch ungefähr ermitteln: Auf dem Foto, das »im letzten Kriegsjahr« (S. 7) aufgenommen wurde, ist der Bruder Arnold ca. ein Jahr alt, seit dem 20. Januar 1945 gilt er als vermisst. Da Arnold nur um »einige Jahre älter[ ]« (S. 174) als sein Bruder zu sein scheint, wurde der Ich-Erzähler nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, vermutlich zwischen 1945 und 1947, geboren. Als die Handlung mit dem Anblick des mutmaßlichen Bruders in der Fleischerei endet, dürfte der Ich-Erzähler zwischen 17 und 19 Jahre alt sein.
Seinen »wohlgeratene[n]« (S. 11) Bruder Arnold beschreibt der Ich-Erzähler als glücklichen und »bedeutende[n]« Menschen (S. 9), über die eigene äußere Äußere Erscheinung Erscheinung urteilt er hingegen kritisch:
»Ich war ein zu dick geratener pubertierender Knabe […]. Die meisten Menschen übersahen mich, und die, die mich nicht übersahen, rieten mir, zum Friseur zu gehen, weniger zu essen und mehr Sport zu treiben.« (S. 139)
Obwohl der Ich-Erzähler als Einzelkind aufwächst, bleibt seine Entwicklung im gesamten Text eng mit dem Schicksal des Bruders Arnold verknüpft. Immer wieder betrachtet er gemeinsam mit der Mutter das »ziemlich große« Foto des Bruders, das einen Platz »ganz vorn im Photoalbum, noch vor den Hochzeitsbildern der Eltern« (S. 7) hatte.
Der Ich-Erzähler ist demgegenüber nur auf » Winzige Fotos winzige[n] Photos« (S. 8) dokumentiert. Der vergleichsweise wenig beachtete Ich-Erzähler beneidet den Bruder um die rührende Aufmerksamkeit der Mutter. Anfänglich denkt der Erzähler nicht darüber nach,