Herzen fühlen. Sandra Cammann
es ihn, wenn ich nicht da war. Marcel hatte keinerlei Vertrauen mehr zu mir. Niemals hätte ich ihn betrogen oder wegen eines anderen Mannes verlassen. Ich liebte ihn, aber so ging es mit uns nicht mehr weiter. Wir redeten, als die Kinder schliefen, und kamen an den Punkt, wo wir uns eingestehen mussten, dass es besser wäre, uns in Liebe freizugeben und den Druck herauszunehmen. Ich wünschte mir, dass er glücklicher werden würde ohne mich. Deswegen fällte ich eine Entscheidung für alle: „Es hat keinen Sinn mehr. Lass uns nicht an alten Zeiten festhalten. Wir bleiben trotzdem für immer eine Familie! Wir fangen uns gegenseitig auf, wenn der Andere Hilfe braucht, und sind wie Freunde füreinander da.“ Wir hatten uns verändert, die Zeiten hatten sich geändert. All unsere Versprechungen von damals passten nicht mehr in die Gegenwart. Nun standen wir beide am Scheideweg und bewegten uns in verschiedene Richtungen. Ich wusste nicht, ob diese Wege uns beide wieder zusammenführen würden. Unser Zusammenkommen damals war eine schöne Zeit, das Auseinandergehen sollte nicht hässlich werden. In meiner Erinnerung würde Marcel immer der starke Mann sein, mit dem ich zum ersten Mal in meinem Leben wahre Liebe gefühlt habe. Ich empfand eine tiefe Dankbarkeit für diese Zeit. Dann akzeptierte ich die Wahrheit: Die Liebe blieb in den letzten Jahren auf der Strecke. Es hatte nichts mit Nick zu tun. Nick hatte uns lediglich aufgezeigt, dass etwas Elementares in unserer Beziehung schieflief. Unser Gefühl war nicht mehr wie früher und ich spürte, dass es Marcel genauso ging. Die Vergangenheit war so schön gewesen, dass wir sie wiederholen wollten. Wir versuchten anfangs die Liebe neu zu beleben, und es war schön in dieser Zeit, aber im Alltag kam Nick wieder so stark in mein Herz, dass ich nicht anders konnte, als an ihn zu denken. Viele Stunden habe ich verzweifelt geweint und gedacht, dass ich als Mutter und Ehefrau versagt hätte. Ich hatte geheiratet in der Hoffnung, dass wir unser gesamtes Leben miteinander verbringen würden, so wie es unsere Eltern auch taten. Ich wollte niemals aus meinen Kindern Trennungskinder machen. Doch ich konnte auch nicht mit ansehen, wie unsere elfjährige Tochter zwischen uns hin- und hergerissen wurde und vollkommen durchdrehte. Unser neunjähriger Sohn klammerte an seinem Vater wie ein Ertrinkender. Das musste aufhören und zwar, bevor die Kinder einen ernsthaften seelischen Schaden erlitten. Ein paar Wochen vor dieser Entscheidung saßen wir noch bei einer Paartherapeutin: „Frau Bordeaux, es ist egal, wen Sie heiraten. Am Ende treffen Sie immer nur auf sich selbst. Der Partner ist wie eine Leinwand. Er zeigt Ihnen Ihre unerfüllten Bedürfnisse und verdrängten Verletzungen. Es ist jetzt an der Zeit, die beste Beziehung Ihres Lebens zu führen. Mit Ihnen selbst!“ Sie hatte recht. Ich brauchte nun Zeit für mich selbst, um mich zu finden und zu erkennen, wer ich wirklich war.
Marcel und ich standen uns nach dieser Entscheidung auf Augenhöhe respektvoll gegenüber. Die letzten Blockaden zwischen uns brachen auf und ich spürte, dass es nicht der einfachste, aber der richtige Weg war. Noch in der Trennungsnacht schliefen wir miteinander. Marcel machte mir wunderschöne und ernst gemeinte Komplimente. Ich spürte seine Lust auf mich. Er zog mich an sich. Eng umschlungen standen wir mehrere Minuten zusammen und küssten uns. Langsam glitten seine Finger unter mein Kleid und landeten an meiner Reizwäsche. Wir zogen uns gegenseitig aus und liebten uns leidenschaftlich. Marcel kniete vor mir, hielt mein Becken mit beiden Händen und drang in mich ein. Mit meinen Beinen umschlang ich seine Hüften, kam in die Rückbeuge, spürte meinen tiefen Atem und kreiste in kleinen Bewegungen mein Becken. Danach drehten wir uns. Ich stützte mich auf die Hände, öffnete mein Herzzentrum und bestimmte nun selbst Intensität und Rhythmus. Schweißtropfen liefen über Marcels Gesicht. Ich küsste seinen Hals, seine Lippen, seine Augen. Die sexuelle Energie lief wie ein reißender Fluss durch meine Adern. Wir tauschten Zärtlichkeiten aus und genossen die gegenseitige Öffnung und Nähe – so nah, wie wir uns vielleicht noch nie waren. In dieser Nacht wurden unsere Seelen für einen kurzen Moment eins und ich bekam eine leise Vorahnung, was den Zustand von „Samadhi“ ausmachte: das Gefühl vollkommener Losgelöstheit. Gelebte Sexualität verjüngte meinen Körper und reinigte meinen Verstand – so steht es auch im Kamasutra geschrieben. Jede Zelle meines Körpers wurde von dieser Energie durchdrungen. Nun ging es nicht mehr darum, einfach satt zu werden, sondern um den Genuss. Die Glücksgefühle, die dabei entstehen, werden automatisch über die Herzfrequenz des Partners empfangen und können für dessen Ekstase sorgen. Man schaukelt sich damit gegenseitig hoch und erfährt ein unbeschreiblich schönes sexuelles Erlebnis. Ich kam an diesen Punkt, wo ich anfing, meine Sexualität voll auszuleben. Ohne Hemmungen und ohne Scham. Ich erkundete mich, meinen Körper und meine sehnlichsten Wünsche. Ich spürte endlich die Lebenslust, die ich als junger Mensch gesucht und nicht gefunden hatte.
Von der Gesellschaft wird körperliche Liebe durch negative Glaubenssätze oft unterdrückt. Doch Sexualität sorgt für Reife und sinnliches Erleben. Durch eine Unterdrückung wird der natürliche Fluss der Energie verhindert. Diese Energie sucht sich einen anderen Weg in Form von Macht, Gewalt oder Habgier. Wird dieser Energie jedoch im positiven Sinne Raum gegeben, so kommt es zu folgendem Phänomen: Während des Orgasmus ist der Kopf vollkommen befreit von Gedanken. Dieser Moment ist die totale Bewusstheit – das Gefühl der Glückseligkeit. Das Faszinierende daran ist, dass Gedankenleere zur Ekstase führt. Leider währt dieser Moment nur kurz und man möchte diesen Zustand ausdehnen. Deswegen sind Systeme wie Yoga und Tantra so beliebt. Der Ursprung von Meditation ist sozusagen der Sexualakt. In einer tiefen Meditation kann die gleiche Glückseligkeit erfahren werden wie bei einem Orgasmus, dafür jedoch sehr viel länger. Nur leider finden nicht alle Menschen Zugang zur Meditation. Deswegen wurden beim Tantra und auch Kamasutra Wege aufgezeigt, wie der Orgasmus länger erfahrbar gemacht werden kann: über das Herz und tiefe Liebe. Die Erfahrung des Einsseins ist die Auflösung von „Ich und Du“. Das Ego hat kein Gewicht mehr. Wenn zwei Menschen zu einem werden, lösen sich alle gedanklichen Grenzen auf. Bewusstheit ist Stille. In diesem Moment blühen wir auf, bekommen Gänsehaut, Energie durchflutet den Körper, die Sinne nehmen extrem wahr und Emotionen kommen hervor, die der Verstand unterdrückt hat. Natürlich hätte mein Herz auch gerne diese Erfahrung mit Nick geteilt. Wir waren jedoch durch unsere gesellschaftlichen Pflichten beide nicht frei dafür. Also wollte ich lernen, diesen Mann zu lieben und ihn gleichzeitig freizulassen, obwohl die Sehnsucht mein Herz fast zerriss. Was mir blieb, war die Meditation, meine Träume und Phantasien. Über die Meditationen wurde mir auch bewusst, dass ich Marcel von Herzen liebte. Ich liebte ihn und vermisste unsere alten Zeiten, aber ich wusste auch, dass die Liebe zu Nick immer zwischen uns stehen würde. Ich wollte Marcel nicht verletzen oder ihn an die zweite Stelle rücken. Es war an der Zeit, Klarheit in die Situation zu bringen, den Weg des Herzens zu beschreiten und eine Pause einzulegen. Oft weinte ich, weil während der Meditation Gefühle hochkamen, die mir wehtaten. In diesen Momenten war ich sehr verletzlich. Mein Urvertrauen wurde auf eine harte Probe gestellt. Dann sagte ich mir innerlich: „Was zu dir gehört, wird zu dir zurückkommen.“ Vertrauen und Geduld waren noch nie meine Stärke. Daher ist es mir nicht leichtgefallen, mich derart dem Lebensfluss hinzugeben und darauf zu vertrauen, dass alles kommt, wie es kommen soll. Ich suchte Gründe dafür, warum ich mich in den folgenden Wochen allein oder einsam fühlte. Mein Verstand plapperte die ganze Zeit und redete mir Schuldgefühle ein, was das Ganze nur noch verschlimmerte. Ich wollte auch Marcel seine Trauer nehmen – wie immer ein fataler Fehler! Ich konnte es nicht lassen, schlug mir auf die Wange und sagte immer wieder laut: „Lieber Marcel, es ist dein Seelenschmerz, er gehört nicht zu mir.“ Während ich mit meinen Freundinnen Zeit verbrachte, ging es mir gut. Manchmal, in der Stille der Einsamkeit, kamen plötzlich schlimme Gefühle hoch und ich fühlte mich einsam und allein. Ich glaubte, das zu brauchen, was ich gerade nicht haben konnte. Mein Verstand unterlag einer Illusion, die großen Schmerz verursachte. Doch wenn man das Wort „All-ein-Sein“ genauer betrachtet, bekommt es eine völlig neue Bedeutung. Während ich allein war, besann ich mich auf meinen Ursprung. Dieser Ursprung ist die tiefe Verbundenheit mit der Quelle in mir selbst. Es war alles da, was ich brauchte. Ich musste in meiner Verzweiflung keinen Gott um Hilfe bitten, denn das Göttliche war in mir selbst vorhanden. Ich musste lediglich lernen, diese Essenz richtig zu nutzen. Die wichtigste Regel dabei: „Identifiziere dich nicht mit deinen eigenen Gedanken, sondern werde still und beobachte, was passiert.“ Ich konnte wählen, was ich erfahren und denken wollte. Für mich gab es nur eine gute Wahl: die Wahl, die das Herz getroffen hat. Wenn ich auf diesem Weg positiv denken würde, dann würde ich auch positive Erfahrungen sammeln. So viel stand fest. Es war die einzige Möglichkeit, die ich hatte. Nick war in den folgenden Wochen und Monaten weiterhin wie ein Schlüssel für mich. Er schloss nach und nach all die