Herzen fühlen. Sandra Cammann

Herzen fühlen - Sandra Cammann


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abhängig, wie Krankheit oder finanziellen Sorgen. An unserer Liebe hatten wir beide nie gezweifelt. Vor allem hatten Marcel und ich mit den Kindern viele schöne Momente. Mir wurde jedoch bewusst, dass mir irgendetwas in meinem Leben fehlte. Meine Lebensfreude war gedrosselt. Ich fuhr mit angezogener Handbremse durchs Leben: im Job und auch in meiner Gefühlswelt. Bereits vor meiner Begegnung mit Nick wurde ich an manchen Tagen innerlich unruhig und aggressiv und ließ diese Ausbrüche an den Kindern oder an Marcel aus. Es tat mir jedes Mal leid. Ich mochte mich nicht, wenn ich so war. Nun versuchte ich, meine Aggressivität zu ergründen. Viele Stunden wurde ich still und ließ unangenehme Gefühle hochkommen, ohne sie zu bewerten, bis mir klar wurde, dass es letztlich nur um mich ging und es nicht die Fehler meiner Familienmitglieder waren, die mich aggressiv machten.

      Durch die Meditationen wurden meine Sinne so sehr geschärft, dass sich mein sechster Sinn wieder meldete. Ich ließ zu, dass Spiritualität endlich einen festen Platz in meinem Leben einnahm, weil es mein Leben bereicherte. Nun wusste ich die Vorteile für mich zu nutzen – nicht nur beim körperlichen Liebesspiel mit Marcel, sondern auch im Alltag. Durch das Deuten meiner Visionen war ich anderen oft einen Schritt voraus und konnte Schlimmeres verhindern. So sah ich auch Nick, wie er in Lebensgefahr schwebte. Er lag auf dem Boden und wurde von einem Notarzt wiederbelebt. Wochenlang sah ich diese Bilder immer wieder, wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs war oder während meiner Laufrunden. Beim Sport war mein sechster Sinn wie eine Antenne nach oben. Ich schrieb Nick daraufhin eine SMS, doch er antwortete nicht, weil er sie gar nicht bekam, wie sich später herausstellte. Wieder vergingen ein paar Wochen und auf einer Laufrunde schnürte plötzlich meine Kehle zu. Eine Schar von Raben schaute mich an und in mir kam schreckliche Angst auf. Ich rang nach Luft und sah wieder diese Bilder vor meinem inneren Auge. Nick lag am Boden. Er musste wiederbelebt werden. Die gleichen Bilder wie die Wochen zuvor. Der Gedanke, dass ich ihn nie wiedersehen würde und ihm nicht sagen könnte, was ich für ihn empfand, machte mich traurig und ließ mich fast verzweifeln. Also schrieb ich ihm dieses Mal eine Mail, in der ich ihm erklärte, was ich gesehen hatte. Es erforderte eine Menge Mut von mir, weil ich wusste, dass Nick mit Spiritualität nichts am Hut hatte. „Lieber Nick, wenn du diese Zeilen liest und dich bester Gesundheit erfreust, dann vergiss alles und freue dich einfach, dass sich eine verrückte Frau wie ich um dich sorgt …“ Ein paar Tage später antwortete er mir: „Liebe Karla, es tut mir leid, dass du dich so sehr um mich sorgen musstest. Ich bin nicht lebensgefährlich erkrankt, aber gut geht es mir auch nicht …“ Wir schrieben ein paar Mal hin und her und ich war etwas beruhigt. Im Nachhinein kam heraus, dass Nick seine gesundheitlichen Probleme lange Zeit verdrängt hatte und er sich erst nach meiner Nachricht wieder mehr um sich selbst kümmerte. Nachdem er meine Email gelesen hatte, lag er die halbe Nacht wach und fragte sich, warum dieses hübsche Mädchen von damals nun als wunderschöne Frau auf ihn zukam und sich sorgte. Ihn überkam das Gefühl, dass Karla tatsächlich Interesse an ihm hatte. Die Szenen auf dem Schulhof kamen wieder in sein Gedächtnis. Karla schaute nie in seine Richtung. Sie übersah ihn förmlich. Und nun schrieb sie ihm eine Nachricht und teilte ihm zwischen den Zeilen mit, dass sie sich für ihn als Mann interessierte. „Warum gerade jetzt?“ Diese Frage ließ ihn nun nicht mehr los.

      Wieder vergingen ein paar Wochen ohne Kontakt und ich konnte in dieser Zeit kaum arbeiten, weil meine Konzentration immer wieder zu Nick ging. An einem Samstag fuhr ich mit dem Rad in die Stadt, um auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Ich war spät dran. Es nieselte und war fürchterlich kalt. Als ich alles eingekauft hatte und nach Hause radeln wollte, kam plötzlich Nick mit seinem Sohn um die Ecke gefahren. Spontan stoppten wir beide, reichten uns die Hände und redeten über Alltagsdinge. Ich schaute ihm wieder verliebt in seine wunderschönen Augen. Sie sahen müde und traurig aus. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Es brach mir fast das Herz. Noch am selben Abend schrieb ich Nick deshalb eine alles ändernde Email. Meine Knie zitterten, als ich die Nachricht abschickte. In diesen Zeilen berichtete ich Nick, was ich für ihn empfand: „Lieber Nick, ich habe lange überlegt, ob ich dir diese Zeilen schreiben soll. Als wir uns vor ein paar Monaten wiedergesehen haben, habe ich durch den Blick in deine Augen eine tiefe Liebe empfunden. Mein ganzes Leben lang habe ich nach diesem Gefühl gesucht und plötzlich stehst du vor mir …“ Ich wünschte mir, dass er durch meinen Liebesbrief aus seinem mentalen Loch wieder herauskommen und schnell gesundwerden würde. Gleichzeitig hatte ich Angst, dass er nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollte. Die Zeit des Wartens begann. Ich weinte viele Stunden am Tag – manchmal liefen die Tränen sogar vor meinen Kindern, die mich verzweifelt in den Arm nahmen und mit mir weinten. „Mama, warum bist du nur so traurig?“ Sie wussten nicht, was mit mir los war. Meine Freundinnen ermutigten und bestärkten mich, dass er sich melden würde. Sie waren sich sicher, dass er nur etwas Zeit bräuchte. In der Zwischenzeit las Nick meine Nachricht. Er fühlte sich wie blockiert. „Warum schreibt Karla mir diese Zeilen? Wie kann diese hübsche Frau so etwas für mich empfinden? Warum schreibt sie so offen über ihre Gefühle? Was ist mit unseren Familien? Wieso passiert mir so etwas?“ Verzweiflung vermischte sich mit Stolz, Angst und dem Gefühl der Liebe. Als Nick die Nachricht gelesen hatte, war es spät am Abend. Ich schlief bereits und wachte auf von einem Glühen in meinem Herzen. Mein Wecker zeigte 23 Uhr an. Seine innere Unruhe und Zerrissenheit kamen gedanklich bei mir an. Ich fühlte mich wie in einem Fieberzustand. Mein Herz glühte wie Feuer und so lag ich noch Stunden lang wach in meinem Bett und nahm wahr, was zwischen uns beiden auf der Seelenebene passierte. Der letzte Satz meiner Nachricht bereitete Nick Sorgen: „Ich verstehe, wenn du nun keinen Kontakt mehr zu mir wünschst.“ Er wusste nicht, wie er seine Gedanken in Worte ausdrücken sollte. Doch nach einer Woche fasste er den Mut, weil die Angst, mich zu verlieren noch größer war. „Liebe Karla, ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finde – ich kann nicht so gut schreiben wie du … Warum sollte ich keinen Kontakt zu dir wünschen? Fände ich schade!“ Die erste große Mauer zwischen uns fing an zu bröckeln. Ein halbes Jahr lang schrieben wir uns fast täglich kleine Romane mit nur kurzen Unterbrechungen, in denen wir Missverständnisse überdenken mussten. Diese erste intensive Nachricht brachte Nick wirklich in Schwung. Er bewegte sich – gedanklich und physisch. Nun fing er an, etwas für seine Gesundheit zu tun und fuhr täglich mit dem Rad zur Arbeit und machte Kraftübungen. Die Gedanken in seinem Kopf fuhren jedoch Karussell. „Karla ist ziemlich offen und direkt. Sie kann Gedanken gefühlvoll in Worte verwandeln. Ich bewundere ihren Mut. Und hübsch ist sie“, er lächelte bei dem Gedanken an mich. Von nun an wachten wir beide jeden Tag mit dem ersten Gedanken an uns auf und schliefen mit dem letzten Gedanken an uns wieder ein. Wir chatteten manchmal miteinander und kamen uns auf diesem Weg näher. Anfangs schrieben wir über Alltagsdinge. Kurz bevor wir uns verabschiedeten, öffneten wir uns gegenseitig und schrieben uns, was wir füreinander empfanden oder welche Sehnsüchte uns im Leben antrieben. Danach lag ich allein im Bett und war erregt – ich wollte ihn berühren, ihn küssen, ihn spüren und eng umschlungen mit ihm einschlafen. Ich fühlte, dass es ihm ähnlich ging. Die Hormone durchfluteten meinen Körper, wenn ich intensiv an Nick dachte. Das Kribbeln in meinem Herzen breitete sich über den Brustkorb bis in Arme, Füße und Kopf aus. Was ich spürte, war eine tiefe Seelenliebe zwischen uns beiden.

      Ein paar Mal telefonierten wir miteinander. Marcel bekam unseren ersten Anruf mit und fühlte eine schreckliche Eifersucht. Heimlich las er meine Emails und hat damit Nicks Adresse herausgefunden. Im Dunkeln joggte Marcel zu Nicks Haus, um zu sehen, ob er es war, der am anderen Ende der Telefonleitung stand, während ich mich mit meinem Telefon im Arbeitszimmer einschloss. Nach ein paar Wochen wollte Marcel Nick in seine Augen sehen und fuhr mit einem Vorwand zu seiner Firma. Danach kam er nach Hause und rief: „Karla, ich kann dich nur bemitleiden. Dieser Mann ist schwach. Ich habe es in seinen Augen gesehen. Er wird sich nie für dich entscheiden, weil er nicht deine Stärke besitzt. Nick gehört zu den Menschen, die nur tun, was andere von ihm erwarten.“ Augenblicklich spürte ich einen tiefen Schmerz, weil Marcel meine Sehnsucht auf den Punkt brachte. Meine Seele malte sich eine schöne Zukunft mit Nick aus, doch mein Verstand wusste, dass es zu diesem Zeitpunkt unmöglich war. Vielleicht hätte ich ähnlich gehandelt, wenn Marcel in meiner Situation gewesen wäre.

      Dann kam es zu unserer ersten unverbindlichen Verabredung. Wir telefonierten und machten am Ende Scherze darüber, dass wir am Wochenende einkaufen müssten und ganz allein über den Markt schlendern würden. Am nächsten Morgen schrieb ich ihm eine SMS: „Bin schon dort und warte auf einen schönen Mann, der mich zum Kaffee einlädt.“ Es kam


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