Rabenauge. Sabine D. Jacob
Jeremy tat es ihm gleich, während er überlegte, ob sie wohl erneut heil auf die andere Seite des Hauses kommen würden. In diesem Moment fühlte er sich hilflos wie ein Männchen in einem Computerspiel, das Monstern ausweichen oder auf Sprungfedern hüpfen musste, um das nächste Level zu erreichen.
Leider hatte Jeremy aber nur ein Leben, keine drei.
11. Kapitel
Nachdem sie sich wieder in die Vorhänge gewickelt hatten, öffnete Jeremy die Tür zur Eingangshalle einen Spalt. »Bist du bereit, Nolan?« Er blickte über seine Schulter zurück.
Nolan hob einen Daumen in die Luft, kam sich dabei aber reichlich albern vor.
Dann traten sie in die Halle. Einzig der Kronleuchter spendete ihnen etwas mattes Licht.
Jeremys Blick fiel auf das große Gemälde an der Wand über der Empore. Grotesk und dämonisch eröffnete es dem Betrachter die Welt des Wahnsinns. Es war von Hieronymus Bosch. Jeremy erinnerte sich, dass er sich als Kind davor gefürchtet hatte. Jeder Schritt auf der Treppe nach oben glich damals einer Mutprobe, denn er war sich sicher, dass das Bild, sobald man ihm den Rücken kehrte, zum Leben erwachte wie in seinen Träumen, in denen er das irre Gekreische der Wahnsinnigen und das Flüstern der Dämonen darauf hörte. Sogar das Lauschen selbst bekam einen Klang. Es glich einem tiefen Brummen.
Jetzt hielt sich am unteren Rahmen eine Dohle fest, bereit sofort jeden anzugreifen, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Rechts davon hing eine große, aber unscheinbare Federzeichnung des gleichen Künstlers. Der Titel war aufgedruckt: Das Feld hat Augen, der Wald hat Ohren. Es zeigte einen Acker, in dem Augen steckten. Die Bäume dahinter horchten mit aufgestellten Ohren. Vögel saßen auf ihren Ästen.
War Jeremy dieses Bild als Kind harmlos erschienen, verursachte es ihm jetzt Übelkeit. »Den hartgesottensten Kämpfer würden diese Bilder in eine Paranoia stoßen«, zischte er. »Wie verrückt muss man sein, sich mit solchen Bildern zu umgeben? Anzünden sollte man sie! Kein Wunder, dass ihr alle hier nach und nach verrückt werdet. Sogar die Vögel!«
Nolans Blick huschte durch die Halle, sodass das Weiß in seinen Augen zu erkennen war. Seine Stirn glänzte vom Schweiß. »Halt um Gottes willen den Mund und konzentrier dich«, raunte er Jeremy zu.
Obwohl er sehr leise gesprochen hatte, gingen die Vögel, die sich offensichtlich strategisch in der Halle verteilt hatten, plötzlich in Angriffsstellung.
Unvermittelt schoss einer auf Nolan zu. Der ließ den Kanister fallen, schlug nach dem Tier, verfehlte es aber, und die spitzen Krallen hieben in seine Wangenknochen. Sofort liefen ihm blutige Fäden über das Gesicht.
Nolan fasste den Vogel an beiden Beinen und schleuderte ihn von sich. Der jedoch breitete die Flügel aus, fing sich ab, nahm den Schwung mit, drehte um und flog erneut direkt auf ihn zu.
Jeremy hatte zwar die Schrotflinte in der Hand, war aber völlig ungeübt im Umgang mit Waffen. Der Überwurf nahm ihm zudem die Sicht und schränkte seine Bewegungen ein. Sie hätten die Stoffbahnen mit Gürteln befestigen sollen!
Vielleicht sollten sie auch wieder zurück in die Bibliothek gehen und den Plan noch mal genau durchdenken. Nach wie vor spürte er aber diesen Drang, die Toilette aufsuchen zu müssen. So fuchtelte er mit der Flinte durch die Luft, zielstrebig die Tür zum Westflügel anpeilend, die raus aus dieser Hölle führte. Dabei übersah er die Teppichkante und strauchelte. Reflexartig ruderte er mit den Armen, bemüht sein Gleichgewicht zu halten. Es misslang und er knallte rücklings auf den Boden.
Aus dem Schrotgewehr löste sich zeitgleich mit seinem Aufprall ein Schuss. Jeremy sah das Mündungsfeuer aus dem Lauf aufflammen. Der Knall war zwar ohrenbetäubend, dennoch vernahm er eine Art Fiepen und dann einen hellen Ton, der immer lauter wurde, bis etwas gegen die Scheibe krachte.
Das riesengroße Fenster zerbarst und eine pechschwarze Federwolke drang in die Halle.
Begleitet von einem markerschütternden, wütenden Gekreische schossen die Vögel auf Jeremy zu. Wie auf Kommando griffen die Krähen mit ihren Klauen nach der Waffe und entrissen sie ihm.
Jeremy schaute sich hektisch nach Nolan um. Der lag mitten in der Eingangshalle am Boden. Seine Hände zuckten durch die Luft, während er versuchte, die Vögel zu packen. Neben ihm sah Jeremy einige Krähen mit gebrochenen Gliedmaßen. Sogar mit den Zähnen setzte sich Nolan zur Wehr. Er zerbiss ihnen, sobald es ihm gelang, das Rückgrat. Zudem hieb er in blinder Wut auf die Angreifer ein.
»Nolan, wir müssen hier weg!«, schrie Jeremy. Erst jetzt bemerkte er die Blutlache, die sich auf und unter Nolans Oberschenkel bildete. Ohne darüber nachzudenken, griff Jeremy nach dessen Arm und schleifte ihn hinter sich her – umgeben von dem hysterischen Gekreische der Vögel und seinem eigenen Wimmern.
Nolan schoss indessen mit seiner Pistole blindwütig in die Luft. Dabei traf er die Aufhängung des Kronleuchters, der prompt von der Decke fiel. Klirrend knallten die Glaskristalle aufeinander, als er auf dem weichen Teppich landete.
Irritiert verharrte eine Vielzahl der Vögel, sodass Jeremy genug Zeit hatte, mit Nolan die Tür zum Westflügel zu passieren. Mit einem Tritt knallte er sie hinter sich zu und sank neben Nolan auf die Knie.
»Gut gemacht, Kumpel!«, flüsterte er heiser, war sich jedoch nicht sicher, ob er Nolan oder eher sich selbst meinte.
Vorerst schienen sie hier in Sicherheit, aber schon hörten sie die Schnabelhiebe aufgebrachter Vögel an der Eichentür, die bereits in ihren Angeln zitterte.
12. Kapitel
Der Westflügel war frisch renoviert, der Parkettboden geschliffen und versiegelt. Ein dicker Läufer, passend zu dem Teppich in der Eingangshalle, dämmte die Schritte. Es roch nach Kunststoffkleber und Tapetenkleister. Die halbhoch vertäfelten Wände waren ebenfalls abgebeizt, ausgebessert und neu lackiert worden. Darüber verkleideten flaschengrüne Tapeten die Wände.
Auch hier hingen ausgestopfte Tiere. Ein Seeadler, ein Bussard, ein Habicht und ein Falke, aber auch kleinere Vögel wie ein Eichelhäher, eine Drossel und sogar zwei Zaunkönige zierten die Wände. Über der Tür zum Bad waren zwei Schwalben so drapiert, als flögen sie aufeinander zu. Die eine trug einen kleinen Ast im Schnabel, als würden sie sich ein Nest bauen, in dem sie aus niemals gelegten Eiern niemals gezeugte Jungen aufziehen wollten.
Der Flur war breit und schien endlos lang. An seinem Ende hatte Nolan vor einigen Jahren einen Aufzug installiert, mit dem man in die oberen Etagen gelangte. Aus Rücksicht auf Zelma, die Angst hatte, steckenzubleiben, verfügte er zusätzlich über eine Notstromversorgung. Im ersten Stock lagen die Schlafzimmer der Bewohner, die Räume im zweiten Stock wurden nicht mehr bewohnt. Hier im Erdgeschoss befand sich auf der linken Seite das Jagdzimmer. Direkt dahinter lag ein großes Bad, in das Nolan nachträglich eine Sauna installiert hatte. Gegenüber dem Jagdzimmer war das Büro. Der Computer nebst Drucker und die Aktenordner wirkten deplatziert zwischen den antiken Möbeln. Hinter dem Büro lud der Blaue Salon zum Ausruhen ein. Ein elektrischer Kamin hatte erst vor Kurzem den mannshohen Schacht abgelöst, der eine ganze Wagenladung Holz benötigt hatte, um diesen Raum zu wärmen.
Der prächtigste Raum lag am Ende des Flurs. Durch eine Glastür betrat man hier den Wintergarten, die Orangerie. Nolan hatte hier ein Kunstwerk geschaffen, indem er Panoramafenster in die dicken Mauern setzen ließ, die einen fantastischen Blick auf die Landschaft und den Himmel boten.
Der Ostflügel war spiegelgleich zum Westflügel erbaut worden. An der linken Seite des Flurs, gegenüber der Bibliothek, befand sich der Speisesaal, an dessen langem Tisch