Rabenauge. Sabine D. Jacob
konnte. Manchmal können sie nicht nur Wörter, sondern ganze Sätze sprechen. Häufig begleiten Rabenkrähen Raubtiere, denen sie mit ihrer berüchtigten Frechheit in Gruppen die erlegte Beute abjagen.« In Erwartung einer erstaunten Reaktion von Jeremy legte er eine Kunstpause ein. Dass dieser keine Miene verzog, spornte Nolan zu weiteren Ausführungen an. »In Experimenten wurde Raben ein roter Punkt auf die Flügel geklebt. Nachdem sie sich im Spiegel sahen, versuchten sie den Punkt herunterzupicken. Sie erkennen sich selbst, was noch nicht einmal Katzen können. Diese Vögel erledigen alle gestellten Aufgaben mit Bravour, wobei sie nicht nur folgerichtig, sondern auch taktisch klug vorgehen. Sie sind nicht zu unterschätzen. Und mehr noch: Sie sind fähig, Aufgaben unter sich zu verteilen und sich – um es überspitzt auszudrücken – zu organisieren. Ist das nicht unglaublich? Und jetzt, lieber Cousin, überlege, was das für uns in dieser Situation bedeutet!« Nach einer weiteren kleinen Pause, in der Nolan still vor sich hin nickte, als würde er seine kurze Rede im Kopf erneut durchgehen und auf Richtigkeit prüfen, fuhr er fort: »Am Anfang, als sie mir noch nicht auf die Pelle rückten, fand ich diese Verhaltensweisen interessant, sogar genial.« Nolan hielt erneut inne. Er atmete einmal tief durch, als koste ihn das Folgende große Überwindung. »Hast du den Vogel mit dem grauen Flügel gesehen? Er ist größer als die anderen. Es ist ein Kolkrabenmännchen. Meist findet man ihn in der ersten Reihe. Er ist der Anführer und …« Er zögerte. »… eine Ausgeburt der Hölle.« Mit Daumen und Zeigefinger fasste er sich an die Nasenwurzel und schloss müde die Augen. »Aber, ich glaube, ich muss dir die Geschichte von Anfang an erzählen. Es wird eine Weile dauern, deshalb sollten wir uns setzen. Leider kann ich dir nur Wasser oder Sherry anbieten. Letzte Woche hab ich zwei Kisten aus dem Keller heraufgeschafft. Etwas Stärkeres habe ich derzeit nicht verfügbar.«
Tatsächlich sehnte Jeremy sich im Moment nach Stärkerem – nach einem doppelten oder gleich vierfachen Cognac zum Beispiel. Ihm war übel, kalt und seine Hände zitterten. So viele Fragen gingen ihm durch den Kopf. Er vermochte keine davon zu stellen.
Nolan bemerkte seine Verfassung, goss Sherry in zwei Wassergläser und sah ihn resigniert an.
Dankbar nahm Jeremy den Sherry entgegen. Er stürzte die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem Zug hinunter, ohne sich darum zu scheren, ob dry oder medium. Er erwartete ein Brennen auf der Zunge, spürte aber nur ein taubes Gefühl in der Mundhöhle.
Nolan füllte das Glas noch mal, und erneut stürzte Jeremy den Inhalt hinunter. Dann setzte er sich in einen der voluminösen, tiefen Ledersessel. Der Alkohol rauschte durch seine Adern in sein Gehirn und reduzierte so seine Empfindungen auf ein erträglicheres Maß.
Nolan setzte sich in den Sessel gegenüber. »Eigentlich wäre dies ein guter Zeitpunkt, den Kamin anzufachen und sich nett zu unterhalten. Allerdings musste ich den Kamin verbarrikadieren. Zu leicht könnte diese Brut sonst das Zimmer stürmen.« Er holte zitternd tief Luft. Es fiel ihm sichtlich schwer, einen Anfang zu finden. Nach einer weiteren Pause setzte er erneut an und sagte: »Mir scheint, jetzt ist es so weit, jemandem die Geschichte von Anfang an zu erzählen. Es fällt mir wirklich nicht leicht. Zudem kann ich mich schlecht konzentrieren, seit ich ständig um mein Leben bange. Es war ein schleichender Prozess – als ob sich ein Tumor ausbreitet, den man erst erkennt, wenn es zu spät ist. Dabei begann alles so harmlos.« Nolans Hände fuhren fahrig über die Sessellehne, bevor er nach dem Sherry griff. Die Unterarme auf die Knie gestützt und das Glas in den verkrampften Fingern haltend beugte er sich in Jeremys Richtung und sah seinen Cousin eindringlich an. Dann verschleierte sich sein Blick und er verlor sich in den Bildern, die vor seinem inneren Auge vorbeizogen.
6. Kapitel
»Weißt du, Jeremy, zuerst fiel mir ihre Gegenwart nicht einmal auf. Hier ein Klecks auf dem Autolack, da eine schwarze Feder unter meiner Schuhsohle. Als Nächstes sah ich im Garten eine Krähe, die mit einer Spitzmaus im Schnabel davonflog. Dann bemerkte ich während der morgendlichen Rasur drei dieser Vögel im Geäst der Ahornbäume vor dem Fenster. Als ich genauer hinschaute, fiel mir der Kolkrabe mit dem grauen Flügel auf. Er ist etwas größer als die anderen. Eigentlich sind Kolkraben ja Einzelgänger. Nur Krähen treten im Schwarm auf, gelegentlich auch Dohlen. Aber er ist eindeutig der Anführer. Immer ist er da, und immer ist er in der ersten Reihe.«
Jeremy schaute Nolan prüfend an. Anführer? Ein Rabe als Kopf eines Krähenschwarms solchen Ausmaßes? Ihm summte der Kopf.
»Zelma hatte schon immer eine ganz besondere Beziehung zu Rabenvögeln. Sie mochte sie. Nein, sie liebte sie. Stundenlang saß sie im Garten und sah ihnen zu. Eines Tages fing sie an sie zu malen. Erst mit Aquarellfarben, dann mit Kohle. Wie passend!« Höhnisch schnaubte Nolan durch die Nase. »Womit könnte man diese schwarze Brut auch besser darstellen. Um sie anzulocken und bei der Stange zu halten, begann sie sie zu füttern. Sie sprach mit ihnen sogar wie mit Menschen. Noch heute habe ich den Klang ihrer Stimme im Ohr: dunkel, samtig und liebevoll. Der erste Vogel, der sich auf ihre Staffelei setzte, war der Kolkrabe mit dem grauen Flügel. Stundenlang saß er da, ließ sich zeichnen und lauschte Zelmas Geplauder. Und Zelma malte ihn mit Inbrunst. Sie versuchte, jede Schattierung seines Gefieders einzufangen. ›Du siehst nicht, was für ein besonderer Vogel er ist‹, warf sie mir vor, wenn ich ihr Vorhaltungen machte. Es dauerte nicht lange, und die beiden waren enge Freunde. Bald hörte ich den Raben sogar nach ihr rufen. ›Jelma‹, krächzte er statt Zelma. Und sie? Schon früh morgens rief sie nach ihm, und sein ›Jelma‹ zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, welches ich längst nicht mehr hervorzurufen vermochte. Dabei versuchte ich es wieder und wieder. Ich lud sie zum Essen ein, ins Theater oder in eine Revue. Immer versetzte sie mich. Nach einer Weile bestand ich darauf, dass sie mich begleitete, und ich ließ keine ihrer fadenscheinigen Ausreden gelten. Du weißt ja, wie tückisch ihre Krankheit war. Ich musste sie unter Leute, auf andere Gedanken bringen. Das war doch meine Pflicht als Ehemann, und, verflixt, ich liebte sie so sehr. Aber egal, wie viel Mühe ich mir gab, sie blieb einsilbig. Im Auto drehte sie den Kopf von mir weg. Meinen Berührungen wich sie aus. Für die Raben jedoch hatte sie immer Zeit. Mit ihnen redete sie wie ein Wasserfall.« Er neigte den Kopf zur Seite und fragte: »Hast du mal gesehen, wie es aussieht, wenn sich ein Rabe über ein Nest junger Vögel hermacht? Wie sie regelrecht platzen, wenn er ihnen die Bäuche aufschlitzt? Mit welcher offensichtlichen Gefühlskälte diese Biester sich auf kleine Kaninchen stürzen? Es ist mir unbegreiflich, warum Zelma sie so anziehend fand. Ich bekam eine Gänsehaut, wenn ich sie zusammensitzen sah. Sobald ich in ihre Nähe kam, hob der Rabe drohend die Flügel und reckte den Kopf in meine Richtung. Sein Schnabel öffnete sich so, dass ich nur den roten Schlund sah. ›Nolan, geh! Siehst du nicht, dass du ihn aufregst‹, sagte Zelma stets unwirsch und wischte mit der Hand durch die Luft, als ob sie ein lästiges Insekt verscheuchen wollte. Schon bald schlossen sich weitere Krähenvögel an. Sie kamen ganz dicht, wenn Zelma sie mit verdorbenem Gehackten fütterte.« Er bemerkte Jeremys Stutzen und bekräftigte: »Ja, du hast richtig gehört.« Mit sachlicher Stimme fuhr er fort: »Sie kaufte gehacktes Fleisch vom Rind, Schwein oder Huhn und ließ es in der Küche liegen, bis es anfing zu verwesen. Bei Gehacktem geht das sehr schnell. Durch das Zerkleinern des Fleisches vergrößert sich die Oberfläche, auf der sich Keime ansiedeln können. Jede Hausfrau weiß, wie vorsichtig man sein muss, damit es nicht vorzeitig verdirbt.« Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Zelma wusste das auch, und darüber hinaus, dass alle Vögel dieser Gattung den süßlichen Geruch und Geschmack der Verwesung lieben. Mich widerte er an. Der Geruch überdeckte und durchdrang alles in der Nähe der Küche. Schon auf dem Flur waberte er einem entgegen. Auch während unserer Mahlzeiten war der Gestank gegenwärtig. Ekelhaft! E…kel…haft!«, setzte Nolan jede Silbe betonend nach. »Jeder Apfel, jedes Handtuch, mein Rasierwasser … Alles nahm diesen Geruch an. Ich schmeckte ihn auf der Zunge, wenn ich morgens aufwachte. Er klebte ständig in meinem Hals und ließ sich auch mit Mundwasser nicht vertreiben. Die Rabenvögel dankten es Zelma mit großem Zutrauen. Sobald sie in den Garten ging, kamen sie – sehr zu meinem Missfallen.« Ärgerlich zog er bei der Erinnerung die Augenbrauen zusammen. »Der abstoßende Gestank von verwesendem Fleisch war das