Rabenauge. Sabine D. Jacob
in so einem Fall reagieren würde.
Er stand auf, drehte sich zu Halfpound um, legte eine Hand auf dessen Schulter und wollte gerade einen brillanten Satz von sich geben, als dieser seinen Plan mit nur einer Geste zunichtemachte, indem er die Schulter zurückzog und das Kinn anhob. Jeremy war schlank und hochgewachsen, doch Halfpound, von Natur aus grobschlächtig, überragte ihn um Haupteslänge.
Okay, dann eben nicht auf diese Art. Jeremy würde eine andere Strategie fahren müssen. »Wood, Kumpel, wie lange kennen wir uns? Ich hab doch immer mein Wort gehalten. Am Fünfzehnten hast du die Penunze. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
Was hatte er da gesagt? Jeremy spürte, dass er sich um Kopf und Kragen redete. Niemals würde er die achtzig Riesen in zwei Wochen aufbringen können. Aber das Wort Penunze gefiel ihm. Er hatte bisher nur noch nie Gelegenheit gehabt, es zu benutzen.
»Hallo, Schwachkopf, jemand zu Hause? Schluss mit dem Theater. Morgen will ich das Geld haben«, sagte Wood, packte ihn am Kragen und zog ihn dicht vor sein Gesicht, sodass Jeremy seinen whiskygeschwängerten Atem riechen konnte. »Und jetzt verschwinde von hier!«
Jeremy blickte sich nach Beistand suchend um, aber alle anderen waren in ihr Spiel vertieft. Keiner interessierte sich für Jeremys Ärger.
Als er Luft holte und zu einer Antwort ansetzte, schoss eine Faust auf sein Gesicht zu. Dann fand er sich auch schon auf dem Straßenpflaster in der Gosse wieder.
Dort blieb Jeremy noch eine Weile liegen. Er wusste nicht, was er nun tun sollte. Noch einmal hineinzugehen käme einer Wahnsinnstat sehr nahe. Wood abzufangen und erneut um Aufschub zu bitten hätte bestimmt den gleichen Effekt.
Während ihm klar wurde, wie viel Glück er gehabt hatte, stemmte er sich auf die Knie. Andere Schuldner waren schon mit abgetrennten Gliedmaßen wieder zu sich gekommen, hatte er sich sagen lassen.
Dann zeigte die Filmspule: The End. Und der Abspann sagte: Willkommen in der Wirklichkeit, Jeremy!
Am besten wäre es, er würde sich die Kugel geben, überlegte er jetzt. Vielleicht gab es aber noch einen anderen Ausweg. Er musste nur seine Gedanken zur Raison bringen.
Im Bad warf er einen Blick in den Spiegel. Auch wenn er sich fühlte wie ausgespuckt, gefiel ihm, was er sah. Er befeuchtete seine Handflächen und strich sich das kurz geschnittene Haar nach hinten. Dass er sich gestern Abend vor seinem Tête-à-Tête mit Halfpound Wood noch rasiert hatte, sah man nicht mehr. Er fuhr sich mit der Hand über sein markantes Kinn. Seine blauen Augen im Spiegel erwiderten seinen Blick gelassener, als er es vermutet hätte. Die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln verliehen ihm ein spitzbübisches Äußeres, weshalb es für ihn ein Leichtes war, andere Menschen für sich zu gewinnen. Er wirkte viel souveräner, als er sich meistens fühlte. Sein schauspielerisches Talent hatte er über die Jahre bis zur Perfektion ausgebaut.
Zurück im Wohnzimmer nahm er noch einen Schluck Whisky, bevor er zum Telefon griff und den einzigen Menschen anrief, der ihm in dieser Situation noch helfen konnte – sein Cousin Nolan.
Der gute, gelassene, ehrenwerte Nolan würde ihm das Geld ohne großes Gesums geben. Das war eine Sache der Familienehre!
2. Kapitel
»Hallo? Wer ist da?«
Jeremy atmete erleichtert auf, als endlich abgehoben wurde. »Nolan, guten Abend, hier spricht Jeremy. Ich habe so lange nichts von mir hören lassen. Da dachte ich …«
»Oh, Jey, wie gut, dass du anrufst.«
Es rauschte in der Leitung. Die Verbindung war schlecht. Das lag sicherlich an dem Sturm, der sich draußen zusammenbraute. Jeremy konnte die folgenden Worte nur zum Teil verstehen.
»… hier los ist. … gefährlich … komme … keinen Fall …«
Nolans Stimme klang hektisch. Er redete wie ein Wasserfall. Dennoch drangen nur Wortfetzen an Jeremys Ohr.
»Nolan«, rief er in den Hörer. »Nolan, ich kann kaum etwas verstehen. Was hast …«
Nolan ließ sich nicht unterbrechen. »… sind da. Alles ist schwarz. Wenn du …«
Tuut-tuut-tuut. Die Verbindung wurde unterbrochen.
Beunruhigt goss sich Jeremy noch einen Whisky ein und befühlte die Beule an seinem Hinterkopf. Sein rechtes Ohr war zudem geschwollen. Heftig schüttelte er den Kopf, um das Taubheitsgefühl dort zu vertreiben.
Nolans Stimme hatte aufgebracht geklungen. Die Worte waren regelrecht aus ihm herausgebrochen. Angespannt tippte Jeremy auf die Wahlwiederholungstaste. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er die Wähltöne in der Leitung hörte.
»Die von Ihnen gewählte Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar«, vernahm er die Stimme vom Band. Er unterbrach die Verbindung und versuchte es erneut.
»Die von Ihnen gewählte Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar.« Kurz fragte sich Jeremy, ob Nolan die Leitung absichtlich blockierte. Vielleicht erahnte er den Grund seines Anrufs. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass Jeremy seinen Cousin nach Geld fragte. Irgendetwas hatte aber in Nolans Stimme gelegen, das Jeremy stutzig machte.
Er hob einen der Manschettenknöpfe vom Boden auf und drehte ihn zwischen den Fingern, während er überlegte. Das geschliffene Glas reflektierte das Licht der Deckenstrahler. Jeremy kniff die Augen zusammen, und das Licht brach sich in allen Farben des Regenbogens.
Übelkeit stieg plötzlich in ihm auf. Rasch nahm er noch einen Schluck Whisky.
Auf einmal wurde ihm klar, was in Nolans Stimme gelegen hatte: Angst! Er hatte furchtsam geklungen. »… komme … keinen Fall …«, hatte er gesagt. Was bedeutete das? Er, Nolan, würde auf keinen Fall kommen? Aber Jeremy hatte ihn nicht eingeladen. Er wusste auch von keiner Festivität, zu der sie beide eingeladen worden wären. Die Reaktion ergab keinen Sinn.
Aufgewühlt wählte Jeremy erneut die Nummer. Er musste mit Nolan sprechen. Er brauchte das Geld. Dringend!
»Die von Ihnen gewählte Nummer ist vorübergehend …« Jeremy legte auf und warf den Manschettenknopf, den er noch immer nervös zwischen den Fingern drehte, auf die dunkelblaue Couch, bevor er das Telefonamt anrief. Eine Stimme teilte ihm mit, dass zurzeit alle Plätze belegt seien, und überließ ihn mit der Bitte um Geduld einer Dreiklangmelodie in der Warteschleife.
Gereizt legte er auf. Gleich morgen Früh würde er sich auf den Weg machen und die gut zweihundert Meilen, die London von Trinale trennten, hinter sich bringen.
Er musste Nolan persönlich sprechen – von Angesicht zu Angesicht. Das vergrößerte seine Chance, an das Geld zu kommen. Nolan war mehr als gut betucht, und, seit er allein lebte, dankbar für jeden Besuch. Nebenbei würde Jeremy ein nettes Wochenende verbringen.
Da Halfpound Wood nicht wissen konnte, wo Jeremy sich aufhielt, würde er ihn dort auch nicht so schnell finden. Zwar riet ihm eine leise Stimme zur Vorsicht, er ignorierte sie aber. Alles war besser, als hier zu hocken und zu brüten.
Dachte er.
3. Kapitel
Trinale
Die Südwestküste Englands war für Jeremy die schönste überhaupt. Immer wieder zog sie ihn in ihren Bann und verleitete ihn zu dem inneren Schwur, öfter hierherzukommen. Das Zusammenspiel von Licht, Wasser und Felsen gab dem Landstrich stets ein neues Gesicht. Stundenlang war er hier schon spazieren gegangen, ohne sich sattsehen zu können. Die Klippen aus grauem Stein