Rabenauge. Sabine D. Jacob

Rabenauge - Sabine D. Jacob


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konnte ihm nichts entgegnen.

      Die Hilflosigkeit Nolans Trauer gegenüber war es auch, die ihn seitdem von einem Kontakt abgehalten hatte.

      Er schlug sich die Hand vor den Mund, während er Nolan anstarrte und versuchte, das sich ihm heute bietende Bild in Einklang zu bringen mit dem Mann, den er kannte wie einen Bruder.

      Es waren nicht nur die Haare, die ungepflegt wirkten. Nolan sah aus wie jemand, der seinen Körper schon eine ganze Weile sträflich vernachlässigte.

      Plötzlich nahm Jeremy auch hier den muffigen Geruch wahr, der ihm bereits draußen aufgefallen war. So hatte es damals in dem Bunker gerochen, in dem sie als Kinder gespielt hatten. Er lag ein paar Gehminuten entfernt an einem Bach im Wald, der noch zum Grundstück gehörte. Dunkel, feucht und kühl war es dort gewesen. Jeremy konnte sich gut daran erinnern, wie ängstlich sie ihn in jedem Frühjahr betraten.

      Das Gruseln, das sie dort stets mit der Leichtigkeit von Spinnweben ergriff, war hier und jetzt jedoch zigmal stärker. Und es verwandelte sich in ein unterschwelliges Grauen.

      Mit eingefallenen Wangen und rot geränderten Augen, die tief in den Höhlen lagen, blickte Nolan Jeremy an, bevor er in den schweren Ohrensessel sank und die Hände vor das Gesicht schlug.

      Jeremy räusperte sich. Seine Kehle war ganz trocken. »Nolan!« Er trat an ihn heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte unter verhaltenem Schluchzen. »Die Verbindung war schlecht, ich konnte kaum etwas verstehen. Dann war sie plötzlich komplett unterbrochen. Aber jetzt bin ich ja hier und alles wird gut, du wirst …«

      »Nichts wird gut!«, fiel Nolan ihm ins Wort. »Gar nichts wird gut. Jetzt bist du auch ein Gefangener! Du kannst es noch nicht verstehen, aber ich werde – ja, ich muss – es dir zeigen. Es ist sowieso aussichtslos. Komm!« Er legte die Hände auf die ledernen Sessellehnen und erhob sich schwerfällig. Sein zerknittertes Hemd war verschwitzt, seine Hose viel zu weit. Er sah aus wie ein seniler, verwahrloster Mann und verströmte den scharfen Geruch von altem Schweiß.

      Eine schwere Gemütserkrankung hatte ihn fest im Griff. Davon war Jeremy überzeugt. Die Trauer und die Einsamkeit schienen ihren Tribut zu fordern. Er würde ihn, sobald er seine Angelegenheiten geregelt hatte, hier herausholen und in eine gute Klinik bringen. Für den Moment würde er alles tun, was Nolan wollte, um ihn nicht unnötig aufzuregen, und einen günstigen Moment abwarten, um ihn nach dem Geld zu fragen. Dann würde er weitersehen.

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      Nolan schritt durch den Raum zur Fensterfront auf der Ostseite des Anwesens.

      Erst jetzt registrierte Jeremy, dass die Fenster von innen komplett mit Latten vernagelt waren. Offensichtlich stammten die Bretter von der Deckenverkleidung. Holzspäne, uralter Staub und zerrissene Spinnweben lagen auf dem Teppich. Nur ein Astloch von der Größe einer Murmel erlaubte den Blick nach draußen.

      Nolan trat näher an die Lattenkonstruktion. Er schloss ein Auge und blickte mit dem anderen durch das helle Oval. »Ich dachte es mir! Komm und sieh es dir selbst an!« Hastig drehte er sich zu Jeremy um, wobei er ihn drängend zu sich heranwinkte. »Schau, wie sie dasitzen und lauern. Jetzt sind es wieder sehr viele. Jeden Tag, jede Nacht warten sie. Sie warten und warten und warten.«

      Jeremy schob sich irritiert an ihm vorbei. Zögernd beugte er sich vor.

      Nolan griff ihm in den Nacken und presste seinen Kopf an das Holz, sodass es unsanft auf seiner Stirn scheuerte. »Schau und sag, ob du es auch siehst!«, forderte er und drückte Jeremy ungeduldig mit der anderen Hand auf den Rücken.

      »Ich mach ja schon.« Jeremy entwand sich ihm, bevor er unwillig sein Gesicht dem Astloch näherte. Wie Nolan schloss er ein Auge, um besser hindurchsehen zu können. Mit dem anderen fokussierte er das Unglaubliche, das er da draußen zu sehen bekam.

      Unbewusst wich alle Muskelspannung aus seinem Gesicht. Sein Unterkiefer klappte herunter und er holte hörbar Luft. Sein Herz setzte für einen Schlag aus, und seine Pupille weitete sich ungläubig. Sein Gehirn schien nicht imstande zu begreifen, was es da sah.

      Hunderte von schwarzen Vögeln hatten sich dort draußen niedergelassen. Der Rasen war dunkel, die Kopfweiden auf dieser Seite des Grundstücks sahen aus wie geteert und gefedert. So weit er schauen konnte, war alles schwarz. Es war unglaublich!

      »Was ist das?«, fragte Jeremy und erkannte seine eigene Stimme, die sich zu einem fiependen Falsett zusammenzog, nicht wieder. Er drehte sich um, räusperte sich und wiederholte: »Was um alles in der Welt ist das?«

      »Rabenkrähen! Lateinisch: corvus corone corone.« Nolan hielt den Blick starr auf Jeremy gerichtet. »Erst waren es nur einige wenige. Aber es werden immer mehr. Immer mehr.«

      Jeremy schluckte und vernahm einen leisen Klicklaut in seiner Kehle. Dann spähte er wieder hinaus. Immer noch weigerte sich sein Verstand, dieses Bild zu akzeptieren. Er räusperte sich erneut und hüstelte. In der vorherrschenden Stille, die nur hier und da von einem leisen, entfernten Krächzen unterbrochen wurde, klang es wie Donnergrollen.

      Sofort fuhren die Köpfe der Krähen herum, und – er wollte schwören, dass es so war – blickten zu ihm.

      Als könnten sie ihn sehen, durchbohrten ihn ihre eisgrauen Blicke, und er hatte das Gefühl, dass sie auf sein Räuspern mit deutlicher Unruhe reagierten. Sie trippelten auf der Stelle, hoben die Flügel an, blickten aber weiterhin alle, tatsächlich alle, in sein Auge, das schreckensstarr durch das splitterige Holz stierte.

      Eine Gänsehaut jagte Jeremys Rücken hinab, und die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf.

      Plötzlich schoss eine Art schwarzer Ball auf ihn zu. Mit nach vorn gerichteten Krallen knallte einer der pechschwarzen Vögel gegen die Scheibe. Ein Riss bildete sich an der Aufprallstelle. Er vergrößerte sich knisternd, als die Krähe sich an der Fensterbank festklammerte, aggressiv krächzte und begann, auf die Scheibe einzuhacken.

      Entsetzt zuckte Jeremys Kopf zurück. Abwehrend hob er die Hände und trat einen Schritt nach hinten.

      Die Männer sahen den Vogel zwar nicht, hörten aber umso deutlicher sowohl die Krallen, die auf der steinernen Fensterbank kratzten, als auch die wütenden Schnabelhiebe, die die Fensterscheibe attackierten.

      Nach einer Weile verstummte das Geräusch.

      Hatte die Krähe ihren Platz verlassen und sich wieder zu den anderen gesellt? Oder lauerte sie darauf, dass sich ein ungeschütztes Auge in der Öffnung zeigte, um es dann sofort zu attackieren?

      »Das war eine eindeutige Warnung an dich, mein Freund«, sagte Nolan.

      »Glaubst du wirklich, die wissen, dass wir uns in diesem Raum befinden?«

      »Selbstverständlich«, erwiderte Nolan. »Bereits seit vielen, vielen Wochen beobachten sie jeden meiner Schritte. Zu Beginn waren es nur sehr wenige, und ich habe mir nichts dabei gedacht. Als es immer mehr wurden, fühlte ich mich schon fast verfolgt, und ich wechselte alle paar Stunden den Raum, um mich vor ihnen zu verstecken, aber es ist hoffnungslos. Sie sind die reinsten Stalker! Seit gestern verschanze ich mich hier. Ich glaube, die ersten Tiere haben mich nur bespitzelt und meine Gewohnheiten ausspioniert.«

      Entgeistert sah Jeremy ihn an. »Es sind Vögel, Nolan! Du sprichst von ihnen, als könnten sie denken oder sogar überlegt handeln.«

      »Das tun sie ja!«, ereiferte der sich. »Als Hobbyornithologe habe ich mich ausgiebig mit ihnen beschäftigt und mich, als ich noch Internet hatte, ausführlich über Raben und Krähen informiert. Sie gehören zur Gattung Corvus in der Familie der Rabenvögel, die man Corvidae nennt, um genau zu sein. Die kleineren Arten nennt man Krähen, die größeren Raben.« Jeremy schaute ihn begriffsstutzig an, aber Nolan fuhr unbeirrt fort: »Viele Rabenvögel zeigen im Vergleich zu anderen Vögeln überdurchschnittlich


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