Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat. Shiva Ryu
Besonderes. Mach dir keine Sorgen. (In Südindien sind solche Wolkenbrüche selbst im Dezember keine Seltenheit, denn die Regenzeit dauert dort sehr lange.) Durch die Worte des Rikschafahrers verschob sich mein Blickwinkel, und der Gedankenschlacht in meinem Kopf ging augenblicklich die Luft aus. Auf einmal dachte ich: »Ich bin doch auf Reisen! Wo, wenn nicht hier, in einem subtropischen Land, soll ich einen solchen Regenguss erleben?« Im Hotel angekommen, breitete ich meine nasse Kleidung und alle Habseligkeiten aus meinem Rucksack im Zimmer aus. Dann legte ich mich ins Bett. Als ich am nächsten Morgen aufwachte und das Fenster öffnete, schaute ich in einen wolkenlosen Himmel, und unten auf der Straße holperte ein mit frischen Bananen voll beladener Karren vorbei.
Befreien wir uns von unseren zwanghaften Gedanken, öffnen sich Geist und Herz. Wir neigen dazu, vorübergehenden Problemen zu viel Macht zu geben, und während wir gegen sie ankämpfen, finden wir keine ruhige Minute, um das Schöne im Leben zu genießen. Unter dem Zwang unserer Gedanken lassen wir uns von einem einzelnen Ereignis völlig in Beschlag nehmen. Wenn wir es zulassen, wachsen die Themen, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben, zu wahren Monstern heran – zu Monstern, die uns noch weiter von den eigentlich wichtigen Dingen entfernen. Das Herz öffnen, annehmen – das ist der Schlüssel zu einem spirituellen Leben.
Neulich traf ich mich mit einem indischen Freund, der nach Korea gekommen war. Wir tranken Tee, und er erzählte mir von seinem Onkel Patak, den ich auch kenne. Der Mann hatte einen akuten Blutsturz erlitten und brauchte dringend eine Bluttransfusion. Da er eine seltene Blutgruppe hat, war es schwierig, den passenden Spender zu finden, doch zum Glück gelang es noch rechtzeitig. Die Transfusion verlief reibungslos, Patak wurde gesund, und er konnte ganz normal weiterleben.
Einen Monat später allerdings trat ein neues Problem auf. Patak war orthodoxer Hindu, und plötzlich bekam er Bedenken. »Wer war der Blutspender? Stammt er aus einer oberen Kaste wie ich oder aus einer niederen? Was, wenn es ein Unberührbarer ist? Wenn er Muslim ist? Oder vielleicht sogar Verbrecher?«
Patak grübelte so sehr über das fremde Blut, das nun in seinen Adern floss, dass sein Puls zu rasen begann und es ihm ständig den kalten Schweiß aus den Poren trieb. Dass der Arzt ihm versichert hatte, es gäbe keinerlei Komplikationen wegen des gespendeten Bluts, vergaß er völlig. Irgendwann war er mit den Nerven derart am Ende, dass er sich in psychotherapeutische Behandlung begeben musste. Doch nichts half ihm. Er war fest davon überzeugt, dass seine Anfälle von Herzrasen, seine innere Unruhe und Müdigkeit auf die DNA und das Hämoglobin des unbekannten Blutspenders zurückzuführen seien. Wütend rief er bei allen möglichen Behörden an und forderte den Erlass eines Gesetzes, das es den Angehörigen niederer Kasten verbietet, Blut an Angehörige höherer Kasten zu spenden.
Es war nicht damit zu rechnen, dass Patak je wieder ein normales Leben führen könnte. Die Erleichterung, eine lebensbedrohliche Krankheit überstanden zu haben, war längst vergessen. Der Mann wirkte mit aller Kraft darauf hin, seine Situation zu verschlimmern. Die Welt reagierte darauf, indem sie ihm weitere Probleme auflud. Und so kam es, dass er, der Meister im Problem-Erschaffen, die Chance vergeudete, etwas aus dem neuen Leben zu machen, das ihm geschenkt worden war.
Da fällt mir die folgende Fabel ein.
»Weißt du, wie schwer eine Schneeflocke ist«, fragte eine Tannenmeise eine Wildtaube.
»Sie wiegt fast gar nichts«, antwortete diese.
»Dann erzähle ich dir eine unglaubliche Geschichte«, sagte die Tannenmeise. »Ich saß auf einem der unteren Zweige einer Tanne, als es zu schneien anfing – nicht sehr viel, und es ging auch kein Wind. Es schneite leise wie im Traum. Ich hatte nichts anderes zu tun, und so begann ich, die Schneeflocken zu zählen, die auf meinen Zweig fielen. Genau 3.741.952 Schneeflocken hatte ich gezählt, als die nächste vom Himmel schwebte, die ja deiner Meinung nach so gut wie gar nichts wiegt. Aber als sie landete, brach der Zweig.«
Wie viele Schneeflocken häufen sich gerade in meinem Geist an? Es gibt nichts, was uns leichter zu Fall bringen könnte als unsere eigenen Gedanken. Kaum hat der Kopf eine Lösung gefunden, schafft er sich tausend neue Probleme. In diesem Sinne verfügen wir alle über die Fantasie von Geschichtenerzählern. Hören wir auf, in Gedanken Krieg gegen uns selbst zu führen, tut sich plötzlich eine völlig neue Welt vor uns auf.
Bei einer Frau wurde Krebs im Endstadium diagnostiziert. Sie reagierte schockiert und verfiel in Depressionen. Als ihr spiritueller Lehrer sie besuchte, bat sie ihn um Rat.
»Häng die Sache nicht so hoch auf«, sagte der.
Dass sie an Krebs erkrankt war, sei schlimm genug, aber sie solle dieser unglücklichen Tatsache nicht noch mehr Gewicht verleihen, indem sie sich quälte. Die Frau, die schon immer ein spirituelles Leben geführt hatte, begriff den Sinn seines Rates und fand in ihre innere Balance zurück. Sie erkannte auch, dass der Krebs nur ein Teil von ihr war und nicht das Ganze. Sehr zum Erstaunen der Menschen in ihrem Umfeld wurde sie plötzlich viel aktiver, denn die Energie, die sie bis dahin zum Ankämpfen gegen die Angst aufgewandt hatte, stand ihr nun an Lebenskraft zur Verfügung. Statt ihre Gedanken um den Krebs kreisen zu lassen, konnte sie sich jetzt ihrer Heilung widmen. Versöhnen wir uns mit unserem Problem und nehmen wir es an, schrumpft es, während wir wachsen. In Wahrheit nämlich sind wir viel größer als unsere Probleme.
»Häng die Sache nicht so hoch auf!« Diesen Satz sollten wir beherzigen, ganz gleich, ob diese »Sache« für uns Glück oder Unglück bedeutet.
Trotzdem sollten wir diesen Rat nicht unbesehen weitergeben. Man würde uns höchstwahrscheinlich davonjagen oder die Freundschaft aufkündigen, würden wir den Satz einem Menschen sagen, der nach einem großen Erfolg überglücklich ist; der gerade einen ungerechten Verlust erlitten hat oder im Krankenbett liegt. Genau genommen sollten wir ihn keinem anderen sagen, sondern uns selbst. Dann macht er wirklich Sinn.
EIN MANTRA FÜRS LEBEN
»Das schmeckt lecker, das schmeckt lecker!« So lautete der Zauberspruch, den eine Bekannte jedes Mal aufsagte, bevor sie zu essen begann. Sie tat es mit einem leisen Lächeln und einer Ernsthaftigkeit, als würde sie Masala über das Gericht streuen, um es geschmacklich aufzuwerten. Angeblich sprach sie ihre Beschwörungsformel auch zu Hause während des Kochens.
»Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass schlechtes Essen besser wird, nur weil du diesen Spruch aufsagst?«, fragte ich.
»Na klar wird es lecker! Das ist ein starkes Mantra!«, erwiderte sie.
Irgendwann war es so weit, und sie hatte mich angesteckt. »Ihr seid die allerschönsten goldenen Süßkartoffeln, ihr seid die allerschönsten goldenen Süßkartoffeln!«, murmele ich seither bei der Zubereitung ganz normaler Knollen. Und ich habe das Gefühl, dass es tatsächlich wirkt. Natürlich handelt es sich um eine Art Selbsthypnose, aber es wäre unklug, das Ganze deshalb von der Hand zu weisen. Es ist erwiesen, dass Geschmack nicht im Essen selbst, sondern im Gehirn seinen Ursprung hat. Honig etwa schmeckt gar nicht süß, unser Gehirn gaukelt es uns nur vor. Es handelt sich um eine Art Überlebensstrategie. Selbsthypnose spielt bei der Geschmackswahrnehmung eine große Rolle.
Meine Bekannte ist mittlerweile nach Neuseeland ausgewandert, aber ich kann mir bildlich vorstellen, wie sie auf der Nordinsel über irgendeinem fremdartigen Gericht ihren Zauberspruch murmelt: »Das ist lecker!« Der ganze Teller wird zu strahlen beginnen, und alles, was darauf liegt, wird köstlich sein …
Mantra ist ein Begriff aus dem Sanskrit und leitet sich ab von manas = »Geist« und tram = »Instrument«, lässt sich also mit »Instrument des Geistes« übersetzen. Bei der Arbeit mit Mantren wird durch ständiges Wiederholen einer Silbe, eines Wortes oder eines Satzes eine starke Schwingung erzeugt, bis der darin enthaltene Gedanke eine übermächtige, ja fast übernatürliche Kraft bekommt.
Vor zehn Jahren stand Renata, eine polnische Freundin, plötzlich vor mehreren gravierenden Herausforderungen, die alle zur gleichen Zeit zu meistern waren. Zum einen sah sie sich gezwungen, ihre Stelle als Professorin zu kündigen, weil sie den Neid und die Feindseligkeiten ihrer Kollegen nicht länger ertragen konnte; dann verschlimmerte sich ihr angeborener