Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat. Shiva Ryu

Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat - Shiva Ryu


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gingen ins Land, und irgendwann kam der junge Mönch, diesmal alleine, wieder in dieselbe Gegend. Er bereute seine Tat noch immer, und so beschloss er, zu der Familie zu gehen und sich zu entschuldigen.

      Als er um die Biegung am Fuß des Berges kam, blieb er staunend stehen. Dort, wo damals die halb verfallene Strohhütte gestanden hatte, war jetzt ein schönes Haus, mit einem Gemüsefeld daneben und einem Blumenbeet davor, und beide wurden offensichtlich liebevoll gepflegt. Es war auf einen Blick zu sehen, dass Wohlstand und Glück an diesem Ort Einzug gehalten hatten.

      Der Mönch klopfte an die Tür, und ein Mann öffnete ihm. Er war zwar einfach, aber ordentlich gekleidet.

      »Wissen Sie, was aus der Familie geworden ist, die hier früher einmal gewohnt hat? Haben Sie den Leuten das Haus abgekauft, weil sie kurz vor dem Verhungern waren?«, fragte er.

      Der Mann schaute ihn fragend an. »Ich habe doch mein ganzes Leben hier gelebt«, sagte er.

      Da sagte ihm der Mönch, dass er vor Jahren mit seinem Lehrer eine Nacht hier verbracht habe, und wieder fragte er: »Was ist mit der Familie danach geschehen?«

      Daraufhin lud der Mann den Mönch ein, abermals eine Nacht bei ihm zu verbringen. Er tischte ihm ein Essen auf, und als hätte er auf diese Gelegenheit gewartet, fing er zu erzählen an.

      »Alles, was wir damals besaßen, war eine abgemagerte Kuh. Sie bewahrte uns vor dem Hungertod, und wir sahen keine Möglichkeit, uns aus der Not zu befreien. Eines Tages aber stürzte sie von der Klippe und starb. Nun mussten wir etwas tun, wenn wir überleben wollten. Wir lernten, wie man einen Acker bestellt, und wir pflanzten Kräuter und setzten Bäume auf dem brachliegenden Feld. Wir mussten ja irgendeinen Weg finden, und wir fanden ihn auch. Letztlich erwies sich der Verlust der Kuh für uns als ein großes Glück. Unser Leben ist so viel besser und sinnvoller geworden.«

      Einen Moment lang schloss der Mönch die Augen. Sein Lehrer hatte es gewusst! Er hatte erkannt, dass wir unser altes Leben nur dann hinter uns lassen können, wenn die erbärmlichen Abhängigkeiten beseitigt sind, die uns hindern, Neues zu wagen und uns auf Abenteuer einzulassen.

      Solange wir uns an Sicherheiten klammern, stößt uns das Leben eine Klippe hinab. Reißt uns eine Woge des Schicksals zu Boden, ist es an der Zeit, ein neues Leben anzufangen. Verlust und Abschied haben immer einen Sinn. Gott schreibt mit geschwungener Schrift eine gerade Botschaft.

      Welche Kuh habe ich, die ich von der Klippe stoßen sollte? Wie heißt sie? Wovon bin ich abhängig? Was ist so bequem und vertraut, dass es mich festhält und hindert, im Leben voranzuschreiten? Uns diese Fragen zu stellen ist Teil der Lebenskunst. Wir müssen uns von unserer Kuh trennen, um unseren Horizont zu weiten und uns zu befreien.

      Um es mit der buddhistischen Weisheitslehrerin Pema Chödrön zu sagen: »Bauen wir auf Sicherheit und Gewissheit, haben wir uns den falschen Planeten ausgesucht.«

      ALLES LEBENDIGE EMPFINDET SCHMERZ

      Jeder Mensch, dem wir begegnen, hat seine Verletzungen, von denen wir nichts wissen. Gehen wir also freundlich miteinander um und fällen wir keine willkürlichen Urteile über andere. Jeder reist auf seine eigene Art durchs Leben.

      In den muslimischen Kulturen in Pakistan und Teilen Indiens, deren Amtssprache Urdu ist, grüßt man sich mit »Kya haal hai?«, was so viel bedeutet wie: »Wie ist es um dein ›haal‹ bestellt?«, den »Zustand deines Herzens«. Es ist eine Frage von Mensch zu Mensch, die Frage danach, ob der andere Freude im Herzen trägt und wie lebendig seine Seele ist. Es geht nicht darum, wie viel er verdient oder wie viel beschäftigt er ist.

      In einer kleinen Gasse in der nordindischen Stadt Varanasi gibt es ein Teehaus, in dem ich einen Stammplatz habe. Es ist klein und sehr bescheiden, aber weil dort ein guter Chai serviert wird, ist es sowohl bei Einheimischen als auch bei Ausländern sehr beliebt. Ein Mann betreibt es gemeinsam mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder, der ein hervorragender Maler ist und eigentlich Künstler werden wollte.

      An einem Morgen saß ich auf einem der Holzstühle im hinteren Bereich des Teehauses und blätterte in der Zeitung, als ich einen Einheimischen vor der Tür stehen sah. Es war auf einen Blick zu erkennen, dass er nicht zum Teetrinken gekommen war. Er war ärmlich gekleidet und machte keinerlei Anstalten, die Stufen am Eingang hochzusteigen. Er stand einfach da und schaute in den Gastraum hinein. Er schien auch nicht betteln zu wollen.

      Er stand einfach da. Die Gasse vor dem Lokal war kaum mehr als einen Meter breit, und er verstellte den Passanten und Motorrädern den Weg, aber das schien ihm nichts auszumachen. Er verharrte reglos auf seinem Platz und starrte in das Teehaus hinein. Es bestand kein Zweifel, dass die anderen Gäste, die ich fast alle kannte, ihn für geisteskrank hielten. Auch ich konnte mich dieses Gefühls kaum erwehren, obwohl ich den Mann noch nie gesehen hatte.

      Über eine Woche erschien er jeden Morgen gegen acht vor der Tür, ließ sich von den Passanten hin und her schubsen – von den Kindern, die um diese Zeit zur Schule gingen, den Pilgern, die auf dem Weg zum Ganges waren, dem beleibten Ladenbesitzer, der sein Geschäft aufschließen ging und der dicken Frau, die zum Gemüsemarkt wollte. Wie angewurzelt stand er da und starrte unverwandt in den Gastraum. Er wirkte hungrig, und in seinem eigentümlich verschleierten Blick lag eine tiefe Sehnsucht.

      Irgendwann konnte ich nicht anders. Ich legte meine Zeitung beiseite und sprach ihn an: »Kya haal hai!«

      »Kya haal hai!«, gab er zurück.

      Ich fragte ihn auf Hindi, wie sein Name sei und woher er komme. Zu meiner Überraschung antwortete er auf Englisch, was bedeutete, dass er eine einigermaßen gute Schulbildung haben musste. Er war nicht aus diesem Viertel, sondern aus einem anderen Stadtteil.

      Ich bot ihm einen Chai an und fragte ihn, warum er täglich hier stünde. Mit schmutzigen Händen umfasste er das heiße Glas und deutete mit dem Kinn in den Gastraum. Ich folgte seinem Blick, sah aber nicht, was er meinte, und schaute ihn fragend an. Er deutete mit dem Finger auf die Wand gegenüber dem Eingang. Erst jetzt entdeckte ich das Bild, das dort hing.

      Es war ein kleines, gerahmtes Aquarell in einem Rahmen und eigentlich nichts Besonderes. Der jüngere Bruder des Teehausbesitzers hatte es gemalt. Ich hatte es mir nie genauer angesehen, obwohl ich oft genug in dem Raum gewesen war. In zarten Blau- und Brauntönen bildete es in feinem Pinselstrich eine Frau im Sari ab, die mit beiden Armen ein Kind in die Höhe hebt und liebevoll zu ihm aufschaut. Bei der Betrachtung des Bildes füllten sich die Augen des Mannes mit Tränen. Darum hatte sein Blick so verschleiert gewirkt.

      Er rührte seinen Tee kaum an. »Auch ich hatte eine Frau und ein Kind wie auf dem Bild«, sagte er leise. »Hatte.« Im Jahr zuvor waren die beiden bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der Schock war so groß, dass er seither ziellos umherwanderte. Durch Zufall entdeckte er dabei dieses Bild, und von da an kam er jeden Tag hierher und starrte es stundenlang mit Tränen in den Augen an – das Bild seiner Frau, wie sie ihrer beider Kind in die Luft hebt und liebevoll zu ihm aufschaut …

      Alles Lebendige empfindet Schmerz. Es heißt, Leid würde zum Heilmittel, sobald es eine bestimmte Grenze übersteigt. Wo verläuft diese Grenze? Vielleicht glauben wir nicht an die Existenz Gottes und stützen uns trotzdem auf ihn?

      Ein Jahr verging, bis ich das nächste Mal nach Varanasi kam. Jedes Mal, wenn ich im Teehaus war, hielt ich nach dem Mann Ausschau, aber er kam nicht. Nach einigen Tagen fragte ich den Wirt und seinen Bruder und auch die Gäste nach ihm, aber keiner konnte mir Auskunft geben. Nur das Bild hing wie immer an der Wand.

      Im Lieblingslied meines indischen Freunds Sansai gibt es eine Zeile, die lautet: »Duniya me kitna gham hai, mera gham kitna kam hai.« – »Wie zahlreich sind die Schmerzen in der Welt, wie klein ist mein eigener Schmerz.« Erfährt man vom Leid anderer, kommt einem das eigene plötzlich ganz klein vor.

      Demeter, in der griechischen Mythologie die Göttin des Getreides, war außerstande, ihr Werk zu tun und das Korn wachsen zu lassen. Hades, der Gott der Unterwelt, hatte ihre Tochter Persephone entführt, und sie konnte nicht aufhören zu weinen. Auf der ganzen Erde herrschte deshalb Dürre.


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