Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat. Shiva Ryu
Verluste an Bedeutung.
Inzwischen hat die Frau sowohl ihr Masterstudium als auch die harte Schule des Lebens gemeistert, und sie arbeitet heute als Psychotherapeutin. Wer das Leid aus eigener Erfahrung kennt und dennoch den anderen fragt, »Geht‘s dir gut?«, ist der »verwundete Heiler«, von dem C. G. Jung spricht. Heilung bricht manchmal wie eine Woge über uns herein. Sie wirft uns zu Boden, und kaum ist sie verebbt und wir haben unseren Halt wiedergefunden, schwappt schon die nächste über uns hinweg.
Wenn wir uns mit dem Messer schneiden, werden unsere physischen und emotionalen Heilungsmechanismen augenblicklich mobilisiert und funktionieren viel aktiver als zuvor. Mit Mitte vierzig, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, ereilte den gefragtesten Pianisten der Gegenwart, Murray Perahia, ein unerwarteter Schicksalsschlag. Er schnitt sich an der Kante eines Notenblatts am rechten Daumen. Die Wunde sah zunächst harmlos aus und schien auch schnell zu verheilen, doch dann kam es zu einer Infektion, und der Daumen deformierte sich. Perahia musste zweimal operiert werden, was bedeutete, dass er jahrelang nicht Klavier spielen konnte.
Ein Pianist, der sein Instrument nicht spielen kann! Durch welches Tal der Finsternis muss er gegangen sein. Aber Perahia erklärte, sich während dieser Zeit ungemein weiterentwickelt zu haben. Er habe endlich Zeit gehabt, sich der Musik jenseits des Klaviers aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Er habe sich gefragt, was in einem Komponisten vorging, wenn er seine Noten niederschrieb, und er habe Antworten gefunden. Als er wieder spielen konnte, tat er es auf einem höheren Niveau. Sein Spiel hatte an Seele und Tiefe gewonnen. Nicht umsonst nennt man ihn »den Troubadour des Pianos«. Die Goldberg-Variationen von Bach, die er nach seinem Comeback aufnahm, hielten sich fünfzehn Wochen lang in den Billboard Charts. In seiner Musik schwingt ein Gefühl von Dankbarkeit an Gott mit – die Dankbarkeit eines Menschen, der Leid überwunden hat.
Murray Perahias Interpretation von Beethovens Mondscheinsonate ist melancholisch: »Viele Experten waren der Meinung, dass es in Wahrheit keinen Zusammenhang zwischen dem Mondschein und der Mondscheinsonate von Beethoven gibt, und gingen davon aus, dass man diese im Nachhinein konstruiert habe. Bei einer Auktion wurde dann aber eine Notiz von Beethoven entdeckt, die er unmittelbar vor dem Komponieren des Stücks verfasst hatte. Es ging darum, wo er sich eine Äolsharfe beschaffen könne, jenes Instrument, von dem man sagt, Äolus, der Gott des Windes, würde es spielen, wann immer der Wind in seine Saiten greift und sie zum Klingen bringt. Der Legende nach steigt ein Liebespaar, das wie Romeo und Julia jung aus dem Leben schied, auf einen Planeten hinab, der nur den Mondschein kennt. Es ist die Traurigkeit von einsamen Inseln, auf denen solche Liebespaare wohnen, die hörbar in den Klängen der Äolsharfe schwingt. Und genau diese Klänge fing Beethoven in seiner Mondscheinsonate ein.«
Wäre es falsch zu behaupten, dass jede Verletzung einen Sinn hat? Vielleicht sind nicht wir es, die die Wunde heilen, vielleicht heilt die Wunde uns. Erleiden wir eine Verletzung, ist dies ein unmissverständlicher Hinweis darauf, welcher Aspekt von uns der Veränderung bedarf. Schaue ich auf mein Leben zurück, haben sich vermeintliche Verletzungen im Nachhinein stets als Meilensteine auf dem Weg erwiesen, den ich auf der Suche nach meinem wahren Selbst gegangen bin. Im Gewebe des Lebens sind die Etappen des Leids eng mit denen des Segens verwoben. Das englische »blessing« und das französische »blesser« gehen etymologisch auf die gleiche Wurzel zurück – »blessing« bedeutet »Segen«, »blesser« hingegen »verletzt werden«. Beim Zählen der segensreichen Momente dürfen wir die Verletzungen nicht ausnehmen.
Ein junger Mann erkrankte an Knochenkrebs. Nachdem ihm ein Bein amputiert worden war, verfiel er in Verzweiflung, und er entwickelte einen regelrechten Hass auf die Gesunden. In der ersten Sitzung der Maltherapie, die ihm die Ärzte verordneten, malte er seinen Körper als Vase. Sie war vollkommen schwarz und wies einen großen Riss auf.
Einige Jahre und viele Sitzungen später zeigte ihm der Therapeut sein erstes Bild.
»Oh, das ist noch nicht fertig«, bemerkte der junge Mann.
Ob er es nicht beenden wolle, fragte der Therapeut.
Er nickte, nahm einen gelben Stift zur Hand und deutete auf den Riss. »Sehen Sie«, sagte er. »Hier scheint die Sonne herein.« Und er brachte die Vase zum Strahlen.
Im Leben kommt es mehr darauf an, im Regen zu tanzen, als der Frage nachzugehen, wie man einen Wolkenbruch trocken übersteht, so der Spruch eines anonymen Verfassers.
Um zum spirituellen Krieger zu werden, braucht man ein gebrochenes Herz, sagt der aus Tibet stammende buddhistische Lehrer Chögyam Trungpa. Sonst sei man nicht geeignet. Leid, in dem man Sinn findet, sei kein Untergang, sondern der Moment der Wiedergeburt und Beginn einer neuen Reise. Die Katholiken sprechen von felix culpa, der »glücklichen Schuld«, quasi einem Untergehen mit wehenden Fahnen, da uns die Verletzung zur Erlösung führt.
Im nordamerikanischen indigenen Stamm der Sioux ist der Glaube verbreitet, dass der Mensch Gott am nächsten sei, wenn er leidet und traurig ist, da Schmerz die Schale des Egos zum Bersten bringt. Wer verwundet ist oder gelitten hat, gilt den Sioux als heilig. Die Leute wenden sich an diese Menschen und bitten sie, für sie zu beten. Ihr Gebet, so glaubt man, sei eindringlicher und kraftvoller und könne Gott darum am ehesten erreichen.
Der vietnamesische Mönch Thích Nhat Hanh erzählte: »Vor einigen Jahren zog ich mir einen Virusinfekt zu, und in meiner Lunge sammelte sich Blut an. Jedes Mal, wenn ich husten musste – und das war häufig der Fall –, war mein Taschentuch rot. Das Atmen fiel mir schwer, und beim Atmen glücklich zu sein, umso schwerer. Dank der medizinischen Behandlung heilte meine Lunge vollständig aus, und auch das Atmen geht jetzt wieder leicht. Jetzt ist meine Aufgabe, mich bei jedem Atemzug an die Zeit zu erinnern, in der meine Lunge so krank war. Wie gut fühlt sich dann jeder einzelne an!«
Könnte es sein, dass die »Verletzung« das Leben von außen in unser Inneres holt? Es wäre natürlich optimal, wenn wir unverwundet unser wahres Selbst entdecken und unsere Richtung im Leben finden könnten. Aber wie es aussieht, scheint unsere Seele ganz genau zu wissen, wie viel Zeit wir im Leid zubringen müssen. Dass unser Leben viel größer als jede Verletzung ist, weiß unsere Seele ebenso.
GOTT SCHREIBT MIT GESCHWUNGENER SCHRIFT EINE GERADE BOTSCHAFT
Ein Bettelmönch ging mit seinem Schüler auf Wanderschaft. Bei Einbruch der Dämmerung gelangten sie auf der Suche nach einem Quartier für die Nacht zu einer halb verfallenen, strohgedeckten Hütte, die einsam an einem Abgrund stand. Dort lebte ein Ehepaar mit seinen drei Kindern. Um die Hütte herum wuchsen weder Baum noch Strauch. Kein Weizen wogte auf den Feldern. Nur eine abgemagerte Kuh war in der Nähe angebunden.
Als der Mönch und sein Schüler um ein Nachtlager anfragten, hieß der Vater der Familie sie freundlich willkommen, und man tischte ihnen Käse und einen aus frischer Milch zubereiteten Brei auf, eine Großzügigkeit, die die Gäste angesichts der Armut, in der diese Leute lebten, tief berührte.
Nach dem Essen fragte der Mönch, wie die Familie in dieser Ödnis so weit entfernt von Stadt und Dorf überhaupt zurechtkommen konnte. Es gab ja keinen Acker weit und breit!
Die Frau warf ihrem Mann einen müden Blick zu und antwortete resigniert: »Unser einziger Besitz ist eine alte Kuh, deren Milch wir entweder trinken oder mit der wir Käse herstellen. Bleibt etwas davon übrig, bringen wir sie ins Dorf und tauschen sie gegen andere Lebensmittel. So halten wir uns über Wasser.«
Am nächsten Morgen bedankten sich der Mönch und sein Schüler für die Gastfreundschaft und machten sich auf den Weg.
»Geh zurück und stoß die Kuh von der Klippe«, sagte der Mönch zu seinem Schüler, kaum waren sie zur ersten Wegbiegung gelangt.
Der Schüler traute seinen Ohren nicht. »Diese Familie lebt doch allein von dieser Kuh. Ohne sie würden sie alle verhungern.«
»Geh schnell zurück und tu, was ich dir sage«, beharrte der Mönch.
Schweren Herzens schlich sich der junge Mönch zu der Hütte zurück. Er fürchtete um das Wohl der Familie, doch andererseits hatte er ein Gelübde abgelegt, das ihn zu bedingungslosem Gehorsam gegenüber seinem weisen Lehrer