Gewalt durch Gruppen. Detlef Averdiek-Gröner
Anzahl junger Männer in einem eng umgrenzten Raum zusammen. Die gewünschte freie Entfaltung der Betroffenen und die Gelegenheit, den Abend zum Feiern zu nutzen, wurden zunächst unterbunden. Insbesondere durch die Besonderheit der Örtlichkeit (der Bahnhofsvorplatz gleicht einer Arena, bei der die Domtreppe die Zuschauerränge darstellt) konnte sich für die Betroffenen der Eindruck einstellen, von den übrigen sich frei bewegenden Besuchern auf den „Zuschauerrängen“ der Domtreppe als „Verlierer“ wahrgenommen zu werden. Diese Wahrnehmung fördert Aggressivität. Hinzu kommt, dass für sie die Situation und der weitere Ablauf unklar waren, was die Problematik zusätzlich erhöhte.
Die Situation auf dem Bahnhofsvorplatz und im Bahnhof selbst führte zu „intergroup dynamics“. Dieser Begriff bezeichnet den Umstand, dass in Gruppen Haltungen herrschen können, die auf persönlicher Ebene von den einzelnen Mitgliedern der Gruppe nicht geteilt werden, die aber zu einer Anpassung führen und verhaltensleitend wirken. Sie können zu Handlungen führen, die von Mitgliedern der Gruppe in anderen Situationen nicht ausgehen würden oder von ihnen sogar abgelehnt würden. So ist es möglich, dass Menschen Taten begehen, die sie nicht vorher geplant haben und die sie unter anderen Bedingungen sogar moralisch ablehnen würden.
•Welchen Grund haben die Teilnehmer, geht es eher um das „Event“ oder will man Staat und Gesellschaft vorführen?
Eindeutig stehe das Event im Vordergrund. Der Alltag in Deutschland ist für diese Personen oft von Langeweile bestimmt. Sie kommen, um sich mit Freunden und Verwandten zu treffen. Dass politische Motive bestehen, etwa den Staat nach den Silvesterfeiern des Vorjahres vorführen zu wollen, sei eine völlig abwegige Annahme. Die meisten Besucher dürften von den Ereignissen des Vorjahres wenig gehört haben, da sie sich vermutlich vorrangig aus arabischsprachigen Medien informieren. Ein geringer Teil der Besucher möchte durchaus gezielt das Event zur Begehung von Straftaten nutzen wollen, insbesondere im Bereich der Eigentumsdelikte, aber der größte Teil komme zum Feiern.
•Entsteht das gemeinschaftliche Begehen von Straftaten, insbesondere die in diesem Zusammenhang festgestellten Eigentumsdelikte und sexuellen Übergriffe, situativ oder geplant?
Nur eine sehr kleine Gruppe würde gezielt, z. T. auch als Bande verabredet, die Feierlichkeiten zum Begehen von Straftaten nutzen wollen. Kriminalistische Erfahrungen insbesondere aus der Silvesternacht des Vorjahres legen den Verdacht nahe, dass in diesen Fällen junge Männer insbesondere aus Nordafrika gezielt die Anonymität der Masse suchen, um Diebstahls- oder Raubstraftaten zu begehen.
Delikte in größerer Zahl seien aber nur möglich, wenn die Nichtsichtbarkeit oder das Einschreitverhalten der Polizei diese zulassen. Es dürfe kein rechtsfreier Raum bestehen, denn durch massenpsychologische Effekte sei es immer möglich, dass das ahndungsfreie Begehen von Straftaten und insbesondere sexuelle Übergriffe einzelner in einer aus psychologischer Sicht überhitzten Masse zu einem Massenphänomen werden. Diese Dynamik könne sich innerhalb von Sekunden situativ entfalten.
•Wir hatten erwartet, dass Köln aufgrund der auch medial im Vorfeld bekannten polizeilichen Einsatzmaßnahmen gemieden worden wäre. Warum war das nicht so?
Es sei nicht davon auszugehen, dass die angetroffene Klientel deutsche Zeitungen/Medien nutzt und somit Kenntnis von den polizeilichen Vorbereitungen hatte.
Fraglich erscheine auch, wie ernst der Personenkreis die Vorgehensweise der deutschen Polizei nähme. Im Nahen Osten haben die Menschen (berechtigte) Angst vor der Polizei. Die rechtsstaatliche Vorgehensweise der deutschen Polizei könne dazu führen, dass der Personenkreis, anders als in den Heimatländern, das polizeiliche Vorgehen als schwach bewerte und es deshalb als möglich empfinde, sanktionsfrei Grenzen zu überschreiten. Zudem haben die meisten der Anreisenden im Vorfeld keine Straftaten begangen, sodass sie eigentlich nichts zu befürchten haben. Aber dies läuft möglicherweise bisherigen Erfahrungen entgegen.
•Ist auch zukünftig mit weiteren gemeinschaftlichen Anreisen zu rechnen? Welche Ereignisse ständen dann außer Silvester noch im Fokus (z. B. Karneval, Kölner Lichter)?
Die Attraktivität Kölns bleibe für die jungen Männer erhalten. Denn die Kulisse vor dem Dom und die Nähe zur Innenstadt sei weiterhin ein großer Magnet, zumal die Stadt es vielen Flüchtlingen ermögliche, sich mit Bekannten und Freunden zu treffen. Allerdings bleibe abzuwarten, welche Wirkung die stark repressiven polizeilichen – zum Teil aus Sicht der Besucher ausgrenzenden – Maßnahmen im Bereich des Bahnhofs- und Domumfelds bei der letzten Silvesternacht auf die Gruppe haben wird.
Möglicherweise würden diese Personen nicht mehr am Hauptbahnhof in einer hohen Anzahl aussteigen, um der von ihnen erwarteten „Kontrollfalle“ im Kölner Hauptbahnhof zu entgehen.
Zukünftige gemeinschaftliche Anreisen könnten sich jedoch auch auf andere gut zu erreichende Großstädte ausweiten.
Die Experten gingen überwiegend davon aus, dass dieses Phänomen nur an Silvester auftrete, da die anderen Ereignisse für die Gruppen eher unattraktiv seien. Karneval sei zu Deutsch und wirke auf den Personenkreis eher befremdlich.
Nach Prof. Dr. Yurdakul, Migrationsforscherin an der Humboldt-Universität zu Berlin, sei bei allen großen Ereignissen/Events (z. B. Fußball-WM) mit gemeinschaftlichen Anreisen zu rechnen. Es könne grundsätzlich immer problematisch werden, wenn größere Männergruppen gemeinschaftlich im öffentlichen Raum agieren.
•Was kann die Polizei dazu beitragen, um sowohl die Feiern aller Besucher zu ermöglichen als auch mögliche Übergriffe zu verhindern?
Die befragten Experten waren sich zunächst einig, dass die im letzten Silvestereinsatz gewählte niedrige Einschreitschwelle und das konsequente Vorgehen der Polizei sinnvoll waren, um von vornherein keine problematischen Situationen entstehen zu lassen.
1.2.2.3.2Befragung der Besucher
Mit den in der Silvesternacht vor Ort erhobenen Daten von polizeilich kontrollierten oder von sonstigen Maßnahmen betroffenen Personen konnte eine größere Anzahl von Personen mit Anschriften identifiziert werden. Diese Personen sollten mit einem Fragebogen zu ihrer Motivationslage befragt werden. Zunächst wurden aus den Datensätzen die Personen herausgefiltert, gegen die ein Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit Silvester lief. Zudem musste der Wohnort, der in Deutschland liegen musste, zweifelsfrei ermittelt werden. Hiernach blieben 398 Personen übrig, die für eine Befragung in Betracht kamen.
Da die Übersendung eines Fragebogens mit der Bitte um Rücksendung nicht erfolgsversprechend erschien, wurde ein ungewöhnlicher Weg der Befragung gewählt: Die AG Silvester hat einen Fragebogen entwickelt, welcher in die arabische, englische und französische Sprache übersetzt wurde. Der Fragebogen bestand insbesondere aus Multiple-Choice-Fragen, es konnte aber auch ein Freitextfeld ausgefüllt werden. Diese Fragebögen wurden an die Polizeibehörden im gesamten Bundesgebiet übersandt, in deren Zuständigkeitsbereich die Personen gemeldet waren. Die Polizeibehörden wurden gebeten, den Teilnehmern die Bögen persönlich zu überbringen und sie auch wieder abzuholen bzw. auf deren Beantwortung zu warten. Hierbei wurde darum gebeten, dass die Maßnahme möglichst entweder durch zivile Kräfte oder durch örtlich bekannte Kräfte durchgeführt wird, z. B. den für das Flüchtlingsheim zuständigen und dort persönlich bekannten Bezirksdienstbeamten.
Ausdrücklich wurde vor Ort nur kurz durch Befragung festgestellt, ob die angetroffene Person sich tatsächlich in Köln befand. Eine Personalienfeststellung im polizeilichen Sinne wurde nicht durchgeführt, auf dem Fragebogen wurden keinerlei Personalien eingetragen. Die Bögen wurden ohne weitere Kommentierung an das PP Köln zurückgesandt. So konnte den Befragten Anonymität zugesichert und eine individuelle Zuordnung der im Fragebogen erhobenen Daten zu einzelnen Personen ausgeschlossen werden.
Die Befragten kamen zu 43,46 % aus Köln und den Bezirken der anliegenden Polizeibehörden (KPB Rheinisch-Bergischer Kreis, KPB Rhein-Erft-Kreis und KPB Rhein-Sieg-Kreis), zu 42,97 % aus NRW und zu 13,57 % aus dem übrigen Bundesgebiet. Einige der genannten Adressdaten stellten sich als nicht korrekt heraus, mitunter war die Person bereits in andere Unterkünfte verzogen, sodass sich die absolute