Tatort Unterfranken. Tessa Korber
anderer Mensch hätte ihn an diesem Punkt wahrscheinlich hinausgeworfen. Sofern er ihn überhaupt in die Wohnung gelassen hätte. Aber ich bin kein Rausschmeißer. Vielleicht, weil ich selber schon Tausende Male im Leben Angst hatte, die Miete nicht mehr zahlen zu können und nächsten Monat unter einer Brücke schlafen zu müssen.
Klara sah wieder auf die Uhr, dann zu mir, und ihr Blick sagte: Den lassen wir hier nicht allein.
»Pass auf, Elias. Klara und ich gehen jetzt dann. Heute spielt ne Band im Colos-Saal. Ich verlass mich auf dich, okay?«
»Na klar verlass ich mich auf dich! Wie du auf mich! Haha!«
Ein Grinsen flackerte über sein Gesicht, aber seine Augen blieben tot.
»Du könntest doch mitkommen«, warf Klara ein.
»Ich mach’s mir lieber hier gemütlich.«
Auf dem Weg zum Colos-Saal fiel nicht nur sie über mich her. Kaum hatten wir den Irish Pub am Bahnhof passiert, verschluckte sich mein Mobiltelefon fast an den hereinprasselnden Nachrichten.
Elias hat gerade von deinem Festnetz bei mir angerufen. Ihr habt ihn doch wohl nicht allein in der Wohnung gelassen?
Elias hat mich angerufen und gesagt, dass er gerade bei euch zu Hause ist. Lasst ihn bloß nicht allein! Schmeißt ihn so schnell wie möglich wieder raus!
Man darf Elias auf keinen Fall unbeaufsichtigt lassen! Bei Lisa hat er schon mal ein Feuer gelegt und alle Polster aufgeschlitzt!
Der dreht durch, wenn er allein ist. Du hast ja keine Ahnung, was der schon alles eingeworfen hat. Vor ein paar Jahren haben sie eine schizophrene Psychose bei ihm diagnostiziert.
Elias kann sich bei keinem von den alten Freunden mehr blicken lassen. Deshalb kommt er zu euch. Aber er ist nicht auf euch angewiesen! Er weiß gut genug, wo Notschlafplätze sind!
»Wir haben einen Zündler zu Hause? In einer Wohnung voller Bücher?«
»Klara, diese Sachen sind schon eine Weile her. Und ich selber hab noch keine schlechten Erfahrungen mit Elias gemacht.«
»Hattest ja auch wenig Gelegenheit.«
Das konnte ich nicht abstreiten.
»Elias ist keine Klette. Morgen früh ist er wieder weg, und wir werden ihn nie mehr sehen.«
»Und was ist bis dahin?«
»Es wird nichts passieren. Komm, trinken wir ein Bier im Irish Pub, dann gehen wir zurück.«
»Nein. Wir gehen sofort zurück. Und dann schmeißen wir ihn raus.«
»Diese eine Nacht kann er bleiben.«
»Falls wir noch eine Wohnung haben. Wieso willst du ihn unbedingt dabehalten?«
»Ich will ihn nicht unbedingt dabehalten. Aber erstens ist es saukalt, und zweitens ist er ein alter Freund meiner Söhne.«
»Und wenn die Mutter deiner Söhne vorbeikommt und bei uns mitwohnen will? Deine Exfrau? Die nehmen wir dann wohl auch auf?«
Unsere Beziehung war lange Zeit ein geruhsamer Fluss gewesen, auf dem wir uns gemeinsam treiben ließen, zwischendurch an Inseln anlegten, ein Wochenende in Prag oder zwei Wochen Bretagne, mit unseren beiden freiberuflichen Einkommen kamen wir gut durchs Leben. Und jetzt schien sich der Fluss zu gabeln, geteilt durch eine Insel, die nicht zum Anlegen verlockte, auf der wir einander nie begegnen würden, denn sie hatte einen Bewohner, und der hieß Elias.
»Also gut. Von mir aus diese Nacht«, sagte Klara. »Aber wenn er danach noch mal auftaucht, hat er Pech gehabt. Es gibt hier genug Wohnheime und Notschlafstellen für Obdachlose. Und jetzt will ich wieder nach Hause, bevor er uns die Wohnung abfackelt. Scheiß auf das Konzert.«
Wir sahen keine Flammen aus den Fenstern schlagen, als wir um die Ecke bogen.
»Das muss nichts heißen.«
Es lag auch kein Brandgeruch im Treppenhaus, als wir nach oben stiegen. Die Musik aber dröhnte eindeutig aus unserer Wohnung. Ich sperrte auf. Elias tänzelte zu Enter Sandman von Metallica grölend durch den Flur und schwenkte ein Whiskyglas in seiner Hand. Eigentlich vermisste man nur, dass er sich in seinem Freiheitsrausch die Kleidung vom Leib gerissen hätte.
»Mein Talisker!« Klaras Lieblingswhisky. Ihre noch unangebrochene Weihnachtsflasche. Dass die Küche deutliche Spuren von Spaghetti mit Tomatensauce aufwies und das Badezimmer knapp an einem Wasserschaden vorbeigeschrammt war, konnte man demgegenüber als Nebensache betrachten.
Ich richtete ein Nachtlager auf dem Wohnzimmersofa, und als würde dies einen Reflex in Elias auslösen, sank er darauf nieder, kippte den restlichen Whisky in sich hinein, rollte sich zusammen und fiel in den Schlaf wie ein kleines Kind. Klara hatte unterdessen in der Küche eine Flasche Rotwein geöffnet und zwei Gläser eingeschenkt; ich setzte mich zu ihr an den Küchentisch, und zum ersten Mal, seit wir uns kannten, hatten wir kein eigenes Thema, sondern eines, das uns aufgedrängt worden war. Elias.
Die Anekdoten von damals, die ich aus meinem Gedächtnis hervorkramte, schienen erst jetzt ihre volle Tragweite zu entfalten und seinen Charakter im wahren Licht zu zeigen. Wenn Elias sich in ein Mädchen verknallte, das zufällig die hübsche Hazel aus der Schüleraustauschgruppe der schottischen Partnerstadt Perth war, dann musste er ihr nach ihrer Abreise natürlich hinterhertrampen, nur um schließlich damit konfrontiert zu werden, dass sie aus einem genauso spießigen Elternhaus stammte wie er selbst, aber keineswegs gewillt war, es ihm zuliebe zu verlassen und an seiner Seite durch eine permanent nach allen Richtungen offene Gegenwart zu ziehen. Und natürlich gehörte Elias auch nicht zu den geordneten Absteigern, die vor dem bayerischen Abitur auf ein hessisches Gymnasium wechselten, nach Rodgau oder Seligenstadt, weil sie ihrer Familie das Abitur schuldig waren; er war nicht abgestiegen, er war abgestürzt.
Ich verfluchte den Augenblick, in dem ich auf die Türklingel reagiert hatte, und ich verfluchte ihn am nächsten Morgen um sieben, als Elias an die Schlafzimmertür hämmerte und »Kaffee!!« rief. »Der ist wohl für dich«, kommentierte Klara und drehte sich auf die andere Seite. »Mir kannst du in drei Stunden einen bringen.«
Wir hätten diesen Heiligdreikönigemontag ganz anders verbracht, dachte ich, als ich mit Elias in der Küche saß und seinen großen Monolog über das Leben, Gott und die Welt hörte. Wir wären am Vorabend im Konzert gewesen und danach vielleicht noch auf ein Bier im Irish Pub. Wir hätten uns geliebt – vor dem Einschlafen oder traumverloren mitten in der Nacht, nach dem Erwachen oder nach dem Frühstück im Bett –, hätten den Feiertag verfaulenzt, ehe anderntags der Normalbetrieb wieder losginge, dachte ich, während Elias mir schwerfällig erzählte, er werde sich zunächst eingehend damit beschäftigen, was das Leben eigentlich von ihm wolle, dass er sich auf dem Jesusweg befände und dass die Welt sich – »findest du nicht auch?« – immer mehr in ein Paradies verwandle. Die Einsicht, dass er gerade im Begriff war, meines zu zerstören, wäre wohl zu viel von ihm verlangt gewesen. Einmal falsch reagiert, dachte ich, einmal die falsche Abzweigung genommen, und seither spielt sich das Leben, wie es sein soll, nur noch im Kopf ab, und das wirkliche Leben kratzt wie ein Wollpullover auf nackter Haut.
Elias sprach von seinem Betreuer, den er morgen aufsuchen werde, der ihm zu einem Job und einer Unterkunft verhelfen werde, und ich fragte mich, wie es einem Betreuer gelingen sollte, einen Menschen wie Elias zu vermitteln.
Schließlich ging er. Zur Brücke, wie er sagte, ein Quartier für Obdachlose ein paar Straßen weiter. Ich drückte ihm noch einen Zwanziger in die Hand. Für Tabak oder irgendwo ein Bier trinken.
Elias ging und hinterließ einen Spaltpilz. Klara konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Zu wem ich denn stehe – zu ihr? Oder doch eher zu irgendwelchen dahergelaufenen Gestalten aus meiner Vergangenheit, mit denen mich eigentlich nichts verbindet?
»Es ist kalt. Da schickt man niemanden wieder raus.«
Da könne ja dann in Zukunft jeder bei uns klingeln, dem es draußen zu kalt sei, und ich würde ihn bereitwillig aufnehmen – oder?
»Herrgott,