Tatort Unterfranken. Tessa Korber
sagt der Portier.
»Wo ist Sophie jetzt?«, fragt Elise.
»Im Hospital«, sagt der Portier. »Arthur und der Herr Wachtmeister haben sie dorthin gebracht. Über die Hintertreppe und unter einem Tuch natürlich. So, und jetzt an die Arbeit. Und denke daran: Kein Wort zu niemandem.«
»Etwas Kaffee, wenn ich bitten darf. Ich sage es nun schon zum zweiten Male.«
Elise erschrickt. Es ist eine Stunde später, und sie steht wieder am Frühstücksbüfett. Sie schaut vom Fußboden hoch und sieht eine ausgestreckte, leere Kaffeetasse vor ihrer Nase. Etwas höher begegnet ihr der bohrende, melancholische Blick der Gräfin von Hohenembs. Die rechte Augenbraue erhebt sich dabei höher als die linke. »Erlauchte Gräfin, ich bitte um Verzeihung«, stammelt Elise und schenkt den Kaffee mit zitternder Hand ein.
Arthur kommt mit einem Teller kaltem Fleisch aus der Küche. Als er an Elise vorbeigeht, merkt sie, wie seine Hände ebenfalls zittern und wie blass und verweint er aussieht. »Ich muss dich sprechen«, flüstert er. Er stellt den Teller am Büfett ab. Als er wieder vorbeikommt, sagt er: »Komm in den Gemüsegarten, wenn du hier fertig bist.«
Der Himmel ist von zerbrechlicher Bläue. Dunkle, regengeschwängerte Wolken jagen einander, vom frischen Wind angetrieben. Arthur ist im Gemüsegarten über zwei Körbe gebückt und erntet Blumenkohl. Elise gesellt sich dazu.
»Es muss schnell gehen«, sagt sie.
Ohne sich anzuschauen, entblättern die beiden die Blumenkohlköpfe und unterhalten sich dabei. »Du hast sie gefunden«, sagt Arthur. »Weißt du, dass Sophie und ich zusammen waren?«
»Nein.«
»Wir wollten heiraten und ihr Kind zu uns holen. Ich bin nicht der Vater. Aber das war mir egal. Ich habe sie geliebt und sie mich. Glaubst du mir?«
Elise schaut zu ihm hoch, und er blickt zu ihr zurück. Verletzlichkeit sitzt in seinen blauen Augen – und dahinter Entschlossenheit. Mit seiner weißen Haut und den roten Haaren sieht er aus wie etwas, das man hier in einem der Beete ernten könnte, aber das täuscht über die sehnige Kraft in seinen Armen hinweg. Er dürfte älter sein, als Elise bisher gedacht hat, ungefähr so alt wie Sophie.
»War sie vorgestern Nacht mit dir zusammen?«, fragt sie.
»Ja.«
»Dann glaube ich dir.«
»Warum?«
»Weil sie glücklich war, als sie zurückkam. Sie hat gesummt.«
Arthur legt sein Messer weg, bedeckt sein Gesicht mit den Händen und weint. Elise weint ebenfalls, zum ersten Mal seit Sophies Tod. Sie schluchzen und schniefen und schneiden weiter am Blumenkohl. Die Strünke sind weiß und schutzlos.
»Ihr Hals ...«, sagt er und kann nicht weitersprechen. Sein Gesicht ist mit Dreck beschmiert.
»Ich weiß«, sagt Elise.
Arthur holt tief Luft und lässt sie bebend wieder heraus. »Das, was der Portier und der Gendarm ausgeheckt haben, ist eine Riesenlüge.«
»Da war ein Männerhut im Zimmer. Hier ist das Etikett.« Sie holt es aus ihrer Manteltasche und zeigt es ihm.
»Ich kann nicht lesen.«
»Ich schon«, sagt sie. »Aber das ist kein Deutsch.«
»Elise!« Es ist die imposante Figur der Hausdame, Frau Kottas, die im schwarzen Anzug daherwatschelt. Ihre Haare trägt sie schneckenförmig aufgetürmt, und ihre Backen sind so breit, als ob sie auf zwei Kissingern gleichzeitig kauen würde. »Ich suche dich überall. Die Gräfin von Hohenembs ist bereit für ihren Spaziergang. Die Dame ist zu schnell für ihre sonstige Begleitung. Das hat deshalb immer die Sophie gemacht. Das musst du jetzt übernehmen.«
»Muss ich mit ihr sprechen?«
»Ganz im Gegenteil. Was bildest du dir ein? Du darfst mit ihr überhaupt nicht sprechen. Du bleibst immer fünf Schritte hinter ihr.«
Eine Stunde später folgt Elise, mit Krinoline, Korsett, schwarz-weiß gestreiftem Rock und halblangem Mantel aus der Hausgarderobe ausgestattet, in gebührlichem Abstand der Gräfin von Hohenembs, die in hohem Tempo die Schlossstraße hinauf- und den Weg an den Weizenfeldern entlangsaust. Einen seltsamen Gang hat die Gräfin: Sie lehnt sich zurück, als ob ihr die Füße davonliefen, und sieht dabei aus wie eine langstielige Blume, die der Wind nach hinten biegt. Einen zusammengefalteten Regenschirm benutzt sie als Gehstock. Ihr purpurfarbener Rock ist viel enger und windschnittiger als Elises. Heute kommt der Wind von vorne und flacht Elises Rock seitlich aus, sodass sie sich vorkommt wie der Kapitän eines Segelschiffs, der gegen den Wind steuern muss. Sie kommt der Gräfin kaum hinterher. An der Mauer des Jüdischen Friedhofs bleibt die Gräfin stehen, lehnt sich an und wartet, bis Elise bei ihr ist. »Das ist doch die vom Frühstücksbüfett, die fast eingeschlafen ist«, sagt sie. »Ich möchte bloß wissen, warum sie mir die Allerlangsamste anhängen.«
»Erlauchte Gräfin, ich bitte um Verzeihung«, sagt Elise bereits zum zweiten Mal an diesem Tag.
Die Gräfin hebt die rechte Augenbraue und betrachtet sie mit misstrauischem Blick, als ob Elise nur eine von vielen Betrübnissen in ihrem Leben wäre.
»Wenn Erlauchte Gräfin erlaubt, hätte ich eine Frage.« Sie zeigt ihr das Etikett. »Können Erlauchte Gräfin das lesen?«
Nach einem kurzen Blick darauf macht die Gräfin ein zischendes Geräusch, schüttelt den Kopf, dreht sich wieder weg und läuft in Richtung Ruine Botenlauben davon. Elise kommt ihr mehr schlecht als recht hinterher.
Mitten in der Burganlage oben steht eine Gruppe Damen mit langen Ärmelschleppen, der sich die Gräfin von Hohenembs forschen Schrittes nähert. Elise bleibt stehen. Die Damen am äußeren Rand machen einen Knicks und öffnen den Weg in die Kreismitte, wo eine kleine Frau mit lebhaftem Gesichtsausdruck steht, die gerade mit ausholenden Gesten etwas erzählt, und eine größere, die mit verdrießlichem Gesichtsausdruck und schweren Augenlidern zuhört. Als die Gräfin sich zu ihnen gesellt, widmen sich ihr die beiden Damen. Auf einmal bricht die kleine Dame in schallendes Gelächter aus, führt schnell die Hand vor den Mund und würgt das Lachen ab. Damit hätte die Sache ein Ende, würde nicht die größere Dame nach einer kurzen Pause lauthals loslachen, woraufhin die ganze Gruppe zu lachen beginnt. Die Gräfin von Hohenembs macht abrupt kehrt und stürmt mit hochrotem Kopf an Elise vorbei.
»Diese Unverfrorenheit!«, zischt sie im Vorbeigehen zu sich selbst. »Sich über mein Französisch lustig zu machen. Chopeng oder Chopoh, Hauptsache, ich mag seine Musik!«
Die Gräfin läuft noch schneller als auf dem Hinweg, aber jetzt kann Elise mithalten, weil der Wind sie von hinten anweht. Als die beiden wieder am Jüdischen Friedhof sind, bleibt die Gräfin stehen und dreht sich zu Elise.
»Was war das vorhin, das du mir zeigen wolltest?«
»Ob Erlauchte Gräfin das lesen können.« Elise hält ihr das Etikett entgegen. »Das stammt von einem Hut.«
Diesmal nimmt die Gräfin es in die Hand. »Nein, kann ich nicht«, sagt sie und betrachtet das Etikett. »Aber es ist Russisch, so viel weiß ich, also kommt der Hut aus Russland, genauso wie die eingebildeten Schnepfen gerade, obwohl sie so tun, als wären sie Französinnen. Es gehört dem Mann von der blöden Kuh da oben. Das da hinten heißt ›Sankt Petersburg‹, ich habe ebenfalls einen Hut aus dieser Manufaktur. Er ist im Moment der einzige Mann in Kissingen, der aus Sankt Petersburg kommt. So.« Es beginnt zu tröpfeln, und die Gräfin schaut mit gerunzelter Stirn nach oben.
»Und wie heißt der Mann, wenn ich noch fragen darf, Erlauchte Gräfin?«
Die Gräfin schürzt die Lippen, scheint zu überlegen. »Graf Borodinsky nennt er sich, soweit ich weiß. Es ist wohlbekannt, dass er seinen Hosenstall nur schwer zukriegt. Und jetzt kein Wort mehr.«
»Kein Wunder, dass der Gendarm und der Portier davon ablenken wollten. Da trauen sie sich niemals ran«, sagt Arthur.
Elise