Tatort Unterfranken. Tessa Korber
einer schleichenden, raubtierähnlichen Bewegung. Er hält eine Pistole in der rechten Hand und zielt auf Arthur. Es ist der Begleiter des Grafen von vorhin.
»Darf ich vorstellen?«, sagt der Graf. »Pjotr, mein Leibwächter. Pjotr, warum haben Sie so lange gebraucht?
»Es ist nicht so einfach, Herr, den richtigen Moment zu erwischen. Ich wollte nichts unterbrechen, neulich war mir das ganz unangenehm.«
»Ist schon recht, Pjotr. Würden Sie den Leuten erklären, wer ich bin, bevor wir gehen?«
»In Wirklichkeit?«
»In Wirklichkeit.«
»Wo soll ich anfangen? Also, das ist Alexander der Zweite, Kaiser und Selbstherrscher von ganz Russland, von Moskva, Kiev, Wladimir, Nowgorod, Zar von Astrachan, Zar von Polen, Zar von Sibirien …«
Der Graf winkt ab. »Kürzen Sie’s ab.«
»… Herr zu Pikow und Großfürst von Smolensk, Litauen und so weiter, Gebieter aller nördlichen Lande …«
»Das reicht. Ich bin der Zar von Russland, und Sie lassen mich jetzt gehen.«
»Graf oder Zar, Sie sind ein Mörder«, sagt Arthur. »Geben Sie es zu.«
»Legen Sie das Gewehr auf das Bett«, sagt Pjotr. »Sie haben fünf Sekunden. Eins …«
»Und ich gebe Ihnen drei«, sagt Arthur. »Zwei …«
Ein Schuh quietscht außen im Korridor.
»Das ist der Mörder«, ruft Elise.
»Drei«, sagt Pjotr.
Arthur spannt sein Gewehr.
Das Quietschen kommt näher.
»Hört doch auf, ihr zwei!«, flüstert Elise. »Der Mörder ist draußen auf dem Korridor!«
»Welcher Mörder?«, fragt Pjotr.
»Ach«, sagt der Graf. »Das dauert jetzt zu lang. Machen Sie es wie vorhin: Drehen Sie die Lampe herunter und wieder auf, wenn die Person im Zimmer ist. Und seid nun alle still.«
Elise dreht die Lampe am Bett herunter, sodass nur ein kleiner Kreis um den Nachttisch herum beleuchtet ist.
Man hört nun auch die leiseren Schritte des anderen Schuhs zwischen den Quietschgeräuschen vor der Tür. Quietsch, Schritt. Quietsch, Schritt.
»Da kann ich gar nicht zuhören«, flüstert Arthur. »Der Schuh gehört gewachst.«
»Psst!«, zischt Pjotr.
Die Schritte stoppen unmittelbar vor der Zimmertür. Nun ist es der Türgriff, der quietscht, und die Tür geht auf. Im fahlen Licht der Öllampe im Korridor ist eine schwarze Silhouette zu sehen. Die Tür wird geschlossen, und im gleichen Moment dreht Elise das Licht der Nachttischlampe auf.
Vor ihnen steht eine Frau mit einem Messer in der Hand. Elise erkennt sie, es ist die Frau aus dem Park. Den Schleier hat sie zurückgeschoben. Es ist dieselbe Frau, die heute Nachmittag oben auf der Ruine Botenlauben neben der Gräfin Borodinsky stand. Sie wendet dem Grafen den Rücken zu, steht genau zwischen Arthur und Pjotr, die beide ihre Waffen auf sie gerichtet haben. Sie scheint die zwei Männer aber kaum wahrzunehmen.
»Wo ist Sascha?« Sie hält das Messer auf Elise gerichtet und macht einen Schritt auf sie zu. Ihr Blick ist voller Hass.
»Lassen Sie das Messer fallen, Gräfin Dolgorukaia«, sagt Pjotr.
»Warwara«, sagt der Graf müde und seufzt. »Was machst du bloß für Sachen.« Es ist keine Frage – es klingt, als wüsste er genau, was sie für Sachen macht.
Die Gräfin dreht sich um. »Sascha, ich habe doch gesagt, wenn du fremdgehst, bring ich sie um. Ich bring sie alle um.«
Pjotr greift nach ihrer Hand, entwendet ihr das Messer.
»Aber das ist ja gar nicht Ihre Frau«, sagt Elise.
»Natürlich nicht«, sagt der Graf. »Meiner Frau ist das einerlei.«
»Ich bin seine Geliebte«, sagt die Gräfin. »Seine einzige Geliebte.«
»Und Sie haben meine Schwester umgebracht und später den Hut geholt. Um ihn zu schützen«, sagt Elise und zieht an der Kordel der Bedienstetenglocke.
Kissinger Intelligenz-Blatt, 15. Juno 1864:
Eine Tat seltener Unmenschlichkeit ist im Hotel Karl von Hess in Kissingen in der Nacht auf Mittwoch verübt worden. Eine Bedienstete desselben Hotels wurde auf grausigste Art ermordet aufgefunden. Die Tatverdächtige, eine Dame aus dem russischen Hochadel, wurde von der örtlichen Gendarmerie auf vorbildlichste Weise kurz darauf überführt, und die Bevölkerung darf sich auf das Sicherste aufgehoben fühlen. Das Motiv liegt vermutlich im privaten Bereich. Für den Nachkommen des elendlich umgekommenen Opfers wird eine großzügige Stiftung eines anonymen Spenders sorgen.
Fünf Jahre später, ein sonniger Sonntagnachmittag auf der Kurpromenade. Ein Ehepaar sitzt auf einer Bank und schaut zu, wie eine Schar Kinder im Park vor dem Kursaal spielt. Auf einmal lösen sich zwei aus der Gruppe, ein siebenjähriger Junge und ein vierjähriges Mädchen, und kommen auf das Paar zugerannt.
»Was ist los, Paul und Sophie?«, ruft die Frau. »Wollt ihr nicht mehr mit den anderen spielen?«
»Ach, Mama, die streiten«, sagt der Junge. »Die spielen wieder Kaiserkur.«
»Ja«, sagt das Mädchen. »Die Jungs wollen alle der Zar sein. Die sagen, das ist mehr als Kaiser oder König. Und die Mädchen wollen Sisi sein, weil sie die Schönste ist.«
»Und was habt ihr ihnen gesagt?«, fragt der Mann.
»Was die Mama immer sagt«, sagt Paul.
»Ja«, pflichtet ihm seine Schwester bei. »Dass alle, Zar und Zarin, Kaiser, Kaiserin und König, dass die alle gleich blöd sind.«
Der Mann lacht und dreht sich zu seiner Frau. »Na, Elise, da hast du ganze Arbeit geleistet.«
»Weil es doch wahr ist, Arthur. Und jetzt gehen wir Eis essen. Ich habe gehört, es soll jetzt Eis aus Erdbeeren und Schokolade geben. Was haltet ihr davon, Kinder?«
»Eis aus Erdbeeren?«, ruft Paul. »Ja!«
»Und für mich bitte aus Schokolade!«, sagt das Mädchen.
Das Ehepaar steht auf, nimmt die Kinder an der Hand und läuft weiter die Promenade entlang zum Eisstand.
Horst Prosch: Beten oder flüchten
Er klopft wieder. Einmal hier und einmal dort, aber immer ans Fenster. Mit seinem Stecken. Diesem dunklen, abgewetzten, speckigen Stock mit dem rechtwinklig angebrachten Griff am oberen Ende, an dem er sich sonst festhält und über die Straße wankt. Der Herr Winter.
»Freuln Schmiedl …?«
Jetzt ruft er sie auch noch, mitten in der Nacht. Und er ruft sie. Anna Franziska Gertrude Leopoldine Schmiedel. Geborene Schmiedel. Nie verheiratet. Niemals verlobt. Manchmal verliebt. Vor fünfzig Jahren oder so. Er sagt nicht »Frau« und auch nicht »Fräulein« zu ihr, sondern Freuln Schmiedl. Ihr Nachname wird dabei ohne das zweite e bedrohlich in die Höhe gezogen. Da bekommt sie sofort ein schlechtes Gewissen, als hätte sie etwas Unrechtes getan. Dabei gibt es seit Jahrzehnten keine Fräuleins mehr, die wurden abgeschafft. Nur bis zum früheren Oberleutnant Herrn Theodor Winter ist das noch nicht vorgedrungen.
Ein heftiger Schlag gegen die dünne Fensterscheibe lässt das Glas klirren. Sie beginnt zu beten.
Liebe Heilige Bilhildis, du erste Heilige des Frankenlandes, pflege die Wunden und Narben des Herrn Winter, damit er von seiner Pein befreit wird und mich schlafen lässt.
Für einen Moment ist Ruhe. Kein Klopfen an der Fensterscheibe, auch