Fielding Gray. Simon Raven
nach, dass meine eigene Geisteshaltung, auch wenn sie vielleicht weniger abschätzig war als die der hier versammelten Großtuer, dennoch ganz ähnlich und im Grunde genauso eigensüchtig war. (»Norman Isaac Cohen, Hauptmann, Fallschirmjägerregiment« … Cohen ?) Denn das einzige Gefühl, dessen ich mir an diesem schönen Sommerabend im ersten Mai der Friedenszeit wirklich bewusst war, war Erleichterung: Erleichterung, dass niemand vorhatte, mich zu töten, dass ich jetzt ungehindert in eine Zukunft eintreten konnte, die mir sowohl Vergnügen versprach als auch die Möglichkeit, mich hervorzutun. Es lag, gleich als Erstes, ein ganzer Sommer mit nichts als Cricket vor mir, und danach würde ich noch ein weiteres Jahr auf der Schule bleiben, in dieser Zeit dann Kapitän meines Hauses (und vielleicht der gesamten Schule) sein und versuchen, das kleine Stipendium, das mir im letzten April für Lancaster College zugesprochen worden war, zu einem üppig dotierten Vollstipendium aufzustocken. Ein Platz in Cambridge war mir also bereits sicher, und da mein Vater finanziell gut gestellt (wenn auch nicht eben freigebig) war, konnte ich an der Ausschreibung leichten Herzens als jemand teilnehmen, dessen Beweggrund die ehrenvolle Auszeichnung und nicht die Notwendigkeit war.
»William King Fullworthy, Unteroffizier, Nachrichtenkorps. Irgendwo im Dschungel in Burma.«
Irgendwo im Dschungel. Als hätte man das nicht schon vorher wissen können. Fullworthy hatte, kaum zwei Jahre älter als ich, bevor er Soldat wurde, das großartigste von all den großartigen Stipendien, die Lancaster zu bieten hatte, zugesprochen bekommen. Doch würde Fullworthy, wie es schien, nicht zurückkehren, um es in Anspruch zu nehmen: Stelle frei. Wohingegen ich, Fielding Gray, nur hinaustreten musste in die Abendsonne, und zu allen Seiten hin würde sich die Welt friedlich und heiter um mich erstrecken, um mein Wissen zu mehren, mein Lob zu singen, mir Freude zu verheißen.
Und so musste ich in der Tat, dachte ich, angesichts dieser Erlösung zumindest versuchen, Dankbarkeit zu zeigen. Aber wem gegenüber? Wofür?
»Tobias Ainsworth Jackson, Oberstleutnant, Königlich-Britisches Feldzeugkorps, starb an Herzversagen als Kommandeur der 14. Versorgungseinheit in Woking.«
Starb am Suff. Jeder kannte die Geschichte, da Woking nicht weit entfernt lag und Oberstleutnant Jackson, gelangweilt von seiner Aufgabe, die genau genommen in der Abwicklung von Militärbegräbnissen bestand, häufig und unglückseligerweise seine alte Schule besucht hatte. Nein, ihm konnte ich nicht dankbar sein für die Zukunft, die mir wiedergeschenkt worden war. Aber wem sonst? Dem toten, o-beinigen Blood? Ein furchtbarer Gedanke. Dem rotlippigen Fähnrich der Blues and Royals, der da gerade, einen Schmollmund machend, von gegenüber zu mir herüberschmachtete? Lächerlich. Dem hochnäsigen Major? Niemals. Gott? Der hätte die ganze Sache erst gar nicht losgehen lassen dürfen. Dann dem Schicksal? Vielleicht. Oder dem Glück? Das traf es gewiss schon besser. Der Dank war Frau Fortuna geschuldet, der es, so konnte man sich denken, gar nicht recht sein würde, wenn man denen, die sie verlassen hatte, zu viel Aufmerksamkeit zukommen ließ. Die Vernunft gebot es also, dass man Fullworthy, irgendwo im Dschungel, besser unbetrauert vor sich hin verrotten ließ.
»Alastair Edward Farquar Morrison, Hauptmann, Landwehrregiment Norfolk, gefallen an den Stränden Kretas, nachdem er sich mit viel Mut und Hingabe freiwillig zum Dienst verpflichtet hatte. Von Maschinengewehrfeuer zu Fall gebracht, ist Hauptmann Morrison …«
Um ihn nicht zu weinen war schwer. Alastair Morrison war ein Mann gewesen, wie es nur wenige gab. Wie sein jüngerer Bruder Peter. Sehr langsam wandte ich meinen Kopf, bis ich, weiter drüben in der Reihe, das großflächige, runde Gesicht und den stämmigen Oberkörper von Peter Morrison sehen konnte.
»… woraufhin Hauptmann Morrison zurück ins Meer watete, einen Mann rausholte und in Sicherheit brachte, um dann den anderen zu holen. Er wurde nur wenige Meter vor der schützenden Deckung tödlich getroffen. Bekam postum das Viktoriakreuz verliehen.«
Peters Gesicht schien sich, während ich zu ihm hinübersah, leicht zu verzerren; er blinzelte einmal, blinzelte dann noch mal, schniefte daraufhin einmal kräftig, verschränkte die Arme vor seiner Brust und fand in sein übliches Erscheinungsbild, seine ruhige, gutmütige Souveränität, zurück. Über die Jahre hatte ich diesen Anblick liebgewonnen; nun aber würde Peter sehr bald weg sein – nicht über den Styx, wie sein Bruder, aber mit Sicherheit doch in einer ganz anderen Welt. Peter, der ein Jahr älter war als ich und derzeit noch unserem Haus vorstand, würde nämlich zum Ende des Sommers von der Schule abgehen; und auch wenn ich sein designierter Nachfolger war, hätte ich die Anwesenheit meines Freundes seinem Titel doch vorgezogen.
»Hilary James Royce. Major bei den Königlichen Füsilieren. Beim Rückzug aus Tobruk gefallen.
Percival Nicholas de Courcy Sangster. Leutnant beim Schützenregiment Rajputana Rifles. Bei der Verteidigung Singapurs gefallen.
Lancelot Sassoon-Warburton. Generalmajor, vormals beim Neunten Panzerverband. Während der Evakuierung aus Dünkirchen gefallen …«
Wer würde wohl, fragte ich mich, wenn der Sommer vorüber war, Peters Platz einnehmen? Da wäre, natürlich, Somerset: Somerset Lloyd-James, genau gleich alt wie ich, der jetzt gerade hinter mir saß, mit rasselnder Nase und leuchtend roten Pickeln, wie immer, wenn er etwas komisch oder aufregend fand. Doch würde mir Somerset, auch wenn er ein kluger und unterhaltsamer Freund von mir war, nie so viel bedeuten wie Peter. So clever er war, zeigte er doch wenig Verständnis. Außerdem gehörte er einem anderen Haus an. Selbst wenn er mir Beistand leisten konnte und wollte, war er doch nicht immer erreichbar. Wohingegen Peter … Peter war immer dagewesen, wenn ich ihn gebraucht hatte, sein Heimatort lag nicht weit von meinem entfernt, und wir hatten uns schon als ganz kleine Kinder gekannt.
»Cyprian Jordan Clement Willard Wyndham Trefusis, zehnter und letzter Baron Trefoil von Truro … Trelawney, Major der Luftwaffe … Trevelyan …«
Inzwischen herrschte unter den Ehemaligen nun aber wirklich außerordentliche Unruhe. Der Major mit dem steinern verkniffenen Mund hielt seine Hände grimmig in den Filzhut gekrallt. Die kirschrot behosten Beine des blasierten Kavalleristen wurden erst in die eine, dann in die andere Richtung übereinandergeschlagen, sie umschlangen sich geradezu. Es ist genug, kam mir in den Sinn, dass jeder Tag seine eigene Plage hat. Ich würde mich wegen Peters Abgang grämen, wenn er näherrückte – wir hatten schließlich noch neun Wochen bis zu den Ferien. Und es gab da ja auch noch jemand anderen. Nicht bloß Somerset Lloyd-James. Jemand ganz anderen.
»Der Ehrenwerte Andrew Usquebaugh, Leutnant zur See bei der Königlichen Marine … Valence … Vallis … Vazey …«
Würde das gar kein Ende nehmen? Schon gut, die sind also alle tot. Was bringt es ihnen oder sonst wem, das noch endlos in die Länge zu ziehen?
»Allan George Williams … Derek Williams … Geoffrey Alaric Williams …«
Guter Gott!
Und ob, da gab es in der Tat noch jemanden, und er würde auch im nächsten Schuljahr noch da sein. Christopher Roland, der auf der anderen Seite der Kirche saß, hinter dem Chor, in den Sitzreihen für die jüngeren Oberstufenschüler: kurzes, gewelltes, flachsblondes Haar; eckige, weiche Stirn; sanfte, weit auseinanderliegende Augen und eine runde Nase; volle Lippen mit leicht nach unten geschwungenen Mundwinkeln; Grübchen im Kinn. So alt wie ich und im selben Haus wie ich. Nicht übermäßig schlau, aber jemand, mit dem man gut schwatzen konnte. Keine Schönheit, aber doch ansehnlich. Kräftig und grobknochig gebaut, aber zarte Haut.
»Godfrey Trajan Yarborough …«
X, Y, Z. Unter Z gab es doch bestimmt keinen Abgang zu verzeichnen?
»Zaccharias«, dröhnte der Schulvorsteher, »Leutnant der Königlichen Luftwaffe.
Und schließlich Emanuel Zyn, Soldat im Pionierkorps. Starb an Tuberkulose in der Krankenabteilung des Militärgefängnisses von Colchester, wo er zum Instandhaltungspersonal gehörte.«
Obgleich das Schicksal des Soldaten Zyn bei allen Anwesenden Verachtung hervorrief, vermochte das Kirchenlied, das nun folgte, sie mit dem allgemeinen Geschehen zu versöhnen. »For all the Saints« hatte, wenn es auch eigentlich von den Toten handelte, einen so beschwingten Rhythmus und eine so erhebende Melodie, dass es niemand anderem als den Lebenden gelten