Ich hasse Menschen. Eine Abschweifung. Julius Fischer
warte darauf, dass er noch eine Möhre auspackt, verdammte Kacke, wie lange kann ein Mensch denn an so einem Stück kauen? Wozu haben wir denn den beschissenen Schluckreflex, sicherlich doch dafür, dass wir schlucken, du Fucker! Will ich ihm sagen, aber er kann ja nichts für meine Launen. Obwohl: doch. Er muss sterben oder zumindest dieses Abteil verlassen.
Man muss doch auf gemeine Gedanken kommen, wenn es einem die Menschen immer so schwer machen.
Und er kaut immer noch, ich kann mich nahezu in seinen Kiefer hineinversetzen, ich bin der Kiefer, oh wie ich kaue, nie hat ein anderer besser gekaut als ich. Hey, wie ich kaue.
Und tatsächlich! Da ist sie! Die zweite Möhre! Die er sich schön aufgehoben hat für einen Nachmittag zu zweit, nur er und ich im Sechserabteil.
Sicher, ich steigere mich rein. Wenn man mit seinen Gedanken zu lange allein gelassen wird und sich nicht äußert, wird man eben sonderbar, aber zumindest kommentiere ich nicht im Internet oder zünde Flüchtlingsheime an; ich will doch gar nichts, nur dass der Typ aufhört mit dieser auditiven Folter. Ich habe tatsächlich nichts dagegen, wenn ein Hund bellt oder der Wind heult, aber wenn Menschen Geräusche machen, dann zieht sich in mir alles zusammen. Am schlimmsten sind dabei die Geräusche, die der Kopf verursacht, in erster Linie Krankheitsgeräusche, Husten, schniefen, niesen, dann kauen, schreien, gähnen. Wenn ich irgendwann die Macht übernommen haben werde, was hoffentlich noch passiert, bevor ich völlig durchdrehe, wird es erkälteten Leuten nicht mehr gestattet sein, ihre Wohnung zu verlassen. Ich schließe mich da gerne ein, also in meine Wohnung, denn ich hasse mich selbst ebenso, wenn es aus mir schlotzt und schmaddert.
Des Weiteren wird es, wenn ich König bin – König Julius der Zarte –, eine Regelung über den Härtegrad von Speisen in öffentlichen Räumen geben, ebenso eine Geruchsprüfung. Vorbei die Zeit des Zwiebacks und des Döners, zieh von dannen, Golden Delicious, und willkommen, Joghurt. Allerdings nicht Trinkjoghurt, da muss man aufpassen. Es gibt nämlich auch genügend Leute, die unfassbar laut schlucken. Allen voran meine Mutter.
Wie zum Hohn klemmt mein Gegenüber die Möhre zwischen die Backenzähne und bricht auf diese Weise einen großen Brocken ab. Ich bin ja kein brutaler Typ, aber ich stelle mir vor, wie ich ihm diesen Brocken einfach so, aus der Kalten, ins Auge ramme, ohne Vorwarnung ‒ der Rächer der kautechnisch Geknechteten.
Aber ich bin zu rücksichtsvoll, ich wechsle beim Rauchen die Straßenseite, wenn mir ein Kind entgegenkommt, ich halte anderen die Tür auf mit zwei Kisten Wasser in den Händen, ich lasse zu Hause den Kater auf dem bequemen Stuhl sitzen. Was tust du, Möhrenmann? Dabei guckt er so unschuldig. Wie geht das? Wie kannst du nur so sein, Angelface?
Das alles versuche ich ihm durch Anschauen und DAS HIER AGGRESSIV IN DIE TASTATUR TIPPEN!!!111!!1 zu sagen.
Ich hasse ihn. Was heißt Hass. Ich bin ja nur ein bisschen aufbrausend. Wenn er bald aufhört … Da ist die dritte Möhre. In jedem Menschen steckt ein Arschloch. Ich komme aus Dresden, ich muss es wissen.
Ach, ich hasse Menschen.
In Dresden aufzuwachsen war nicht leicht. Es gab im Grunde genommen nur drei Möglichkeiten: Man wurde entweder Nazi oder drogenabhängig oder man zog weg.
Ich bin nach Leipzig gezogen und beobachtete das Treiben in meiner alten Heimatstadt aus sicherer Entfernung. Als ich 2004 damit begann, bei Poetry Slams aufzutreten, musste ich wieder dorthin zurück, denn in Dresden gab es einen großen Slam.
Meine alten Schulfreunde wunderten sich, als ich ihnen erzählte, dass ich vorbeikommen würde.
»Was machst du? Pottery Slam? Mit Ton oder was? Komm lieber mit off Party, nimm eene kleene Nase und ab geht’s.«
Ich hatte immer Angst vor Koks. Das macht einen so selbstverliebt. Ich auf Koks, das hätte wahrscheinlich so geklungen:
»Hier, hier, richtig geil, richtig geil, ich hab mir ein Gedicht ausgedacht, das ist das Beste, was je geschrieben wurde, ey, ohne Scheiß, Mann, Alter, willste hören?, hier zieh es dir rein, ist so richtig dick so, scheiß auf Heine, scheiß auf Goethe, Mann, boaaaaah, krass ist das geil, wenn das Gedicht ne Frau wäre, ich würde das einfach bumsen, so zack, ausziehen, reinstecken und bumsbumsbumsbumsbums …«
Nee, das wäre nix gewesen.
Poetry Slam reichte mir vollkommen. Man konnte Texte vorlesen und es gab Bier umsonst. Ein bisschen wie Arbeit, nur mit Fun.
Am Abend hieß es, die Teilnehmerliste des Slams wäre richtig voll, es wären sogar Leute aus Berlin da. Das überraschte mich nicht. Damals war eigentlich immer jemand aus Berlin da. Dass niemand aus Berlin da gewesen wäre, hätte mich genauso überrascht wie die Tatsache, dass der Typ mit den Dreadlocks nicht Philosophie studiert oder dass man auf Partys nicht Daniel Brühl getroffen hätte.
Es gab eine Zeit, da sah ich Daniel Brühl häufiger als meine Mutter.
Meine Mutter war an diesem Abend nicht im Publikum, denn sie stand meinem neuen Hobby mit Skepsis gegenüber. Zu Recht.
Poetry Slam war damals etwas ganz anderes als heute, wo man mit perfekt performter Poppoesie Millionen verdienen kann. Alles Amateure.
Neben den obligatorischen Berlinern waren immer ein, zwei verkniffene Literaturstudenten im Teilnehmerfeld, ein Mädchen mit Blumengedichten, dazu ein Rapper und mindestens ein crazy Guy. Meistens aber mehrere. Oh ja.
Ich muss lachen. Der Typ mir gegenüber mustert mich, als hätte ICH ihn gerade gestört. Ich muss ihm einen Namen geben, damit mich der Hass nicht übermannt. Ich nenne ihn Marcel. Ich kenne keinen einzigen netten Marcel. Ein Stück Möhre hängt an Marcels Lippe. Was für ein Vogel. Er wäre gut aufgehoben gewesen beim Poetry Slam mit seinem Lautgedicht: Das Kauen.
Die Freaks.
Wenn jemand auf die Bühne kam und sagte:
»Hallo, ich bin der Jörg, ich mach jetzt mal was ganz anderes, so Gedanken in loser Folge.
Pflastersteine,
Blut am Schuh,
der Mullah geht baden im Fluss der Chimäre.«
Dann war das genauso Slam wie Sven, dem nach fünfzehn Minuten lähmender Prosa auffiel, dass er das letzte Blatt seiner Geschichte im Backstage hatte liegen lassen, und der dann zwei Minuten brauchte, um es zu holen.
Dann war das genauso Slam wie Ralle, der auf die Bühne sprang und rief: »Hier, hier, richtig geil, richtig geil, ich hab mir ein Gedicht ausgedacht, das ist das Beste, was je geschrieben wurde, ey, ohne Scheiß, Mann, Alter, willste hören?, hier zieh es dir rein, ist so richtig dick so, scheiß auf Heine, scheiß auf Goethe …«
Dann war das genauso Slam wie Peggy, die sich ans Mikrofon stellte und mit kaum hörbarer Stimme sprach:
»Hallo, ich bin’s, de Päggy aus Zräsdn, ich mache das erste Mal mit bei so einem Po-ättry Slänn und ich habe ein paar Blumengedichte mitgebracht.«
Und das Publikum machte das mit.
In der Regel flogen die Freaks in der Vorrunde raus, es sei denn, es waren viele Philosophiestudenten unter den Zuschauern. Die fanden das irgendwie interessant.
In diesem Falle war es anders.
Das Finale bestand aus den einzig Normalen, aus Peggy und mir. Klar, wer da gewinnen würde.
Ich machte reflektierten Studentenshizzle, Kiffen mit Jesus und so Filmzitate, Peggy machte »Lyrik«.
»Rote Rosen, die mag ich ja so gerne,
da leuchten meine Augen wie Sterne.
Crysanthemen sind das Beste,
auf meinem Feste sind sie gern gesehene Gäste.«
Dann kam die Abstimmung, und was soll ich sagen? Sie gewann. Mit Gedichten wie aus dem Küchenkalender. Es war unglaublich. Man muss dazu sagen, dass sechsundzwanzig von den etwa fünfzig Zuschauern Peggys Freunde waren. Die natürlich beim Abstimmungsapplaus johlten, als hätte Peggy soeben ein Mittel gegen Krebs gefunden. Meine Freunde applaudierten