Ich hasse Menschen. Eine Abschweifung. Julius Fischer
aus Dresden, die Endgegnerin.
Was war das für eine Welt?
Wie sollte das weitergehen?
»Ich bin kurz davor, ein Mittel gegen Krebs zu finden, und die Arbeit an Ihrem Institut würde mir die fehlenden Ressourcen dafür bereitstellen. Deswegen möchte ich mich auf die Stelle bewerben, die ist doch noch frei, oder?«
»Ach, tut uns leid, wir haben schon jemand anderen. Peggy. Peggy aus Dresden.«
»Hey Mama, ich wollte mal fragen, was du dir zum Geburtstag wünschst.«
»Ach nichts, ich hab doch Peggy.«
»So, liebe Gemeinschaft des Ringes, irgendjemand muss das Teil ins Feuer des Schicksalsberges werfen. Da wäre Frodo aus dem Auenland. Es ist sein vorbestimmtes Schicksal. Oder wir nehmen Peggy. Ach komm, wir nehmen Peggy.«
Und alle: »Peggy, Peggy, Peggy!«
Ach, ich hasse Peg… Menschen.
Denke ich, während draußen die Landschaft vorüberzieht. Über den Rand meines Laptops beobachte ich den Möhrenmann, der den letzten Strunk seines Brunches zermalmt hat und nun schläft. Natürlich laut schnarchend. Hass. Dass man dem immer so ausgesetzt ist.
Eigentlich mag ich Reisen ja wirklich gerne. Selbst wenn ich, wie heute, nach Köln muss. Ich hasse Köln. Ich habe ein Gespräch bei einer Literaturagentur. Weil ich nett bin, habe ich zugesagt. Ich hasse mich. Aber sie bezahlen die Fahrt. Und anhören kann man sich den Scheiß ja mal.
Wenn ich recht überlege, mag ich am Reisen vor allem das Ankommen. Das Unterwegssein reizt mich kein bisschen. Selbst wenn meine Geschwister mit dabei sind. Mit meinen beiden Geschwistern verbindet mich einiges. Unsere Mutter zum Beispiel. Sie versucht, seit sie uns kennt, alle gleich zu behandeln. So hat zum Beispiel jedes ihrer Kinder einen eigenen Vater.
Eine weitere Idee meiner Mutter rankt sich um unser Erwachsenwerden. Sobald eines ihrer Kinder, mit mir angefangen, das vierzehnte Lebensjahr vollendet hatte, wurde eine Reise gemacht. 2015 war mein Bruder dran. Meine Mum wollte unbedingt nach New York, traute sich aber nicht alleine. Wegen der Verständigung.
Meine Mutter kann nicht so gut Englisch. Als Kind der Arbeiterklasse hatte sie in der Schule nur Russisch gelernt, Englisch kennt sie ausschließlich aus Tom-Waits-Songs und OmU-Arthouse-Filmen.
Meine Schwester und ich wiederum verfügen als Kinder des Serienzeitalters über etwas mehr Übung. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob mein Wortschatz mir in Situationen helfen würde, die nichts mit der Zombie-Apokalypse oder Drachen zu tun haben.
Das Schönste an einer Reise ist in meinen Augen der Umstand, dass man vorher sehr viel Stress mit dem Buchen und Organisieren hat, um währenddessen unfassbar entspannt zu sein.
Wer solch ein hehres Ziel verfolgt, sollte seine Übernachtung nicht über Airbnb buchen.
Am Tag vor unserer Abreise nach New York erreichte mich folgende Nachricht:
»Hi, hier ist Dana, können wir die Reservierung canceln? ich bin im Nahen Osten auf Abenteuerurlaub und habe es einfach vergessen! Tschuldi!«
Ich dachte sofort: Wie, Abenteuerurlaub im Nahen Osten? Mit nem Trump-Shirt durch das palästinensische Autonomiegebiet? Ruinen gucken in Rakka?
Hätte sie da nicht früher draufkommen können?
Ich wünschte ihr viel Spaß und begann damit, Dienstagnacht null Uhr gemeinsam mit meiner zukünftigen Frau eine Unterkunft für vier Leute in New York zu finden, da mein Anruf im Airbnb-Hauptquartier in den Staaten kein Ergebnis brachte, außer der Bitte, mich ein paar Tage zu gedulden.
Ich sagte: »Na klar, ist ja nicht so, als bräuchte ich was für fucking morgen!«
Aber offensichtlich war mein Englisch zu schlecht, um Ironie zu transportieren.
An diesem Punkt entschied ich, einfach scheißreich zu werden, um mir eines Tages überall eine Wohnung kaufen zu können. Und Airbnb. Um es abzuwickeln. Hat bis jetzt nicht geklappt. Sonst würde ich sicher auch nicht in diesem Zug sitzen, sondern in meinem Privat-ICE. Beziehungsweise würde ich gar nicht mehr verreisen, sondern alle würden zu mir kommen. Sogar der Urlaub.
Wir fanden ein Hostel. Es war nicht am Central Park wie die Privatwohnung, sondern in East Williamsburg. Hipster und sozialer Wohnungsbau. Und sicherlich würde ein Hubschrauber mit Suchscheinwerfer die Straße permanent nach Verbrechern absuchen.
Das Hostel war auch nicht die ganze Zeit frei. Für den Samstag würden wir uns noch etwas suchen müssen.
Für jemanden mit Angst vor Kontrollverlust wäre diese Situation sehr unangenehm.
Für mich war es die Hölle.
Apropos Angst vor Kontrollverlust: Der Flug war schrecklich.
Komischerweise kann ich bei kurzen Inlandsflügen immer sofort einschlafen. Aber sobald das Flugzeug die sichere Landmasse verlässt, bekomme ich Panik. Als ob das bei einem Absturz aus zehntausend Metern Höhe etwas ändern würde. Vielleicht ist es sogar die Angst davor, nicht zu sterben, sondern mit abgestorbenen Gliedmaßen im eiskalten Ozean zu treiben, wie Leo damals in Titanic. Ich hasse mein Gehirn. Ich redete mir ein, dass wir schon nicht abstürzen würden. Dinge werden wahr, wenn man sie oft genug sagt. Das hat schon Julia Engelmann gesungen. Half aber nix. Ich bestellte mir einen Grapefruitsaft und starrte ruhelos aus dem Fenster.
Mein kleiner Bruder konnte auch nicht schlafen. Er spielte fast durchgängig gegen andere Passagiere Poker auf seinem Bildschirm und zockte alle ab. Es war zwar nur Spielgeld, aber ich machte mir Sorgen, dass sich irgendwann Riots gegen den kleinen Glückspilz auf Platz 43G entwickeln würden.
Meine Schwester schlief. Sie kann immer schlafen. Klassisches Scheidungskind.
Meine Mutter guckte Coffee and Cigarettes. Wegen Tom Waits. Original mit Untertiteln. Englischen Untertiteln. Weswegen sie mich ständig fragte: »Was hat er gesagt?«
Eigentlich war sie also daran schuld, dass ich nicht zum Schlafen kam.
In New York angekommen mussten wir zur Passkontrolle. Mein Bruder hatte Angst, nicht durch den Finger-Scan zu kommen, weil sich aufgrund der Pubertät die Haut an seinen Daumen permanent schälte. Ein Schlangenjunges.
Der Beamte fragte: »What brings you to the United States?«
Meine Mutter fragte: »Was hat er gesagt?«
Ich sagte: »Family trip!« Und zu meiner Mutter: »Sie behalten dich erst mal hier.«
Sie lachte. Der Beamte lachte nicht. Sie lachte nicht mehr. Ich lachte.
Jetzt mussten wir nur noch zum Hostel kommen, hoffen, dass wir nicht mit zwanzig besoffenen Engländern einen Schlafsaal teilen müssten und eine Übernachtung für Samstag finden würden. Standard.
Die Leute auf der Mayflower hatten es auch nicht leicht. Damals gab es ja noch nicht mal eine U-Bahn. Oder WLAN.
Die U-Bahn-Fahrt war total spannend. Für meine Mutter. Ich wusste ja, wo wir rausmussten. Deswegen brauchte ich nicht auf die ohnehin unverständlichen Durchsagen zu achten. Sie wiederum saß ganz vorne auf ihrem Sitz und fragte ständig: »Was hat er gesagt?«
Im Hostel angekommen bekamen wir zwei Doppelzimmer, in denen es stark nach Benzin roch. Zumindest waren wir allein. Mal abgesehen von den Ratten.
Mein Bruder ging sofort pennen, da sich immer mehr Haut von seinem Körper ablöste, ein in unserer Familie untrügliches Zeichen für Müdigkeit. Schlangenfamilie.
Ich schaue vom Bildschirm auf. Mein Mitreisender wälzt sich im Schlaf hin und her, als ginge es um sein Leben. Zu viel Rohkost vor dem Schlafen ist nicht gut. Das gärt und bläht. Wie ich feststellen muss. Er furzt, als wäre er hier zu Hause.
Wie ich in unserer ersten Nacht in Amerika. Obwohl: Bei mir war es die Angst.
Am nächsten Tag waren wir super fresh. Mein Bruder war sogar noch fresher. Er hatte sich nachts einmal komplett gehäutet