Die junge Gräfin 25 – Adelsroman. Michaela Dornberg
Wildzuckende grellgelbe Blitze zerrissen den nachtdunklen Himmel, krachend folgte unmittelbar danach der Donner.
Ein heftiges Gewitter tobte direkt über Schloss Waldenburg. Alexandra mochte Gewitter nicht. Sie hatte sie noch niemals gemocht, sich als kleines Mädchen sogar davor gefürchtet.
Früher war sie jedes Mal in das Bett ihrer Eltern geflüchtet, die sie beruhigend in die Arme genommen hatten.
Heute konnte sie nirgendwo hingehen. Ihre Eltern lebten in der Toskana, ihre Schwester Sabrina war verheiratet und glücklich mit ihren vier kleinen Töchtern.
Sabrina war fasziniert von den tobenden Unwettern gewesen und hatte Blitze und Donner gemocht.
Und Ingo?
Merkwürdig, dass Alexandra sich daran nicht mehr erinnern konnte.
Lag es daran, dass ihr Unterbewusstsein bemüht war, alle Gedanken an ihren Bruder Ingo auszuradieren, weil es keine guten Gedanken waren?
Früher hatte sie Ingo angebetet, ihren großen Bruder, und das würde sie sicherlich auch heute noch tun, obschon sie mittlerweile wusste, dass er nur ihr Halbbruder war, weil ihre Mutter ihn bereits unter ihrem Herzen getragen hatte, als Benno Graf Waldenburg und sie sich begegnet waren.
Am sechzigsten Geburtstag ihres Vaters war dieser gewaltige Riss durch die Familie gegangen, der noch immer wie eine klaffende Wunde war, die unglaublich schmerzte.
Dabei hatte alles so schön begonnen, war so harmonisch verlaufen. Alle waren sie glücklich gewesen, bis zu dem Moment, da ihr Vater vor allen verkündet hatte, dass seine jüngste Tochter Alexandra seine Nachfolgerin werden sollte, nicht, wie allgemein erwartet, Ingo, der Erstgeborene.
In diesem Sinne war Ingo erzogen worden, und auch die Tatsache, dass er kein echter Waldenburg war, hätte ihm den ersten Platz in der Nachfolge nicht streitig gemacht. Ingo war für Benno immer sein Sohn gewesen.
Nein, zum Glück war rechtzeitig ans Tageslicht gekommen, dass Ingo ein schändliches Spiel spielte und nach Antritt der Nachfolge alles verkauft hätte. Den gesamten Waldenburg’schen Besitz, einschließlich des Schlosses.
In dieser Nacht hatte Alexandra auch erfahren, dass Ingo nur ihr Halbbruder war.
Was danach passiert war, hätte sie am liebsten vergessen, ganz aus ihrem Leben gestrichen, doch es hatte sich tief und schmerzhaft in ihr eingegraben.
Ingo hatte mit der Familie gebrochen, unsinnige Forderungen gestellt, Konten abgeräumt, ein großes Waldstück illegal abholzen lassen, durch seine Anwälte unter Androhung von Strafe verbieten lassen, sich ihm zu nähern. Und dennoch hatte er die Familie in Anspruch genommen, als es darum gegangen war, Spielschulden von hunderttausend Euro zu begleichen. Auch wenn er nicht unmittelbar daran beteiligt gewesen war, sondern zur Aufklärung entscheidend beigetragen hatte, waren es doch seine alten Kumpanen gewesen, die Michelle, seine Tochter, entführt hatten. Welch ein Glück, dass es glimpflich ausgegangen war.
Die Leidtragende war sie, denn ihre Schwägerin Marion hatte danach sofort mit Michelle Waldenburg verlassen.
Ob Ingo wirklich eine Therapie gegen seine Spielsucht machte?
Sie hatte keine Ahnung, denn er hatte seine Wohnung verkauft, sogar mit Bildern, Silber und sonstigem Hausrat, der zum Waldenburg’schen Besitz gehörte und nicht veräußert werden durfte.
Vielleicht hatte Sabrina ja recht, dass sie mit Ingo gebrochen und ihn aus ihrem Leben gestrichen hatte.
Sie selbst konnte so radikal nicht sein, sie liebte ihren Bruder Ingo, trotz all dieser schmerzlichen Enttäuschungen, noch immer. Sie konnte die vielen schönen Jahre mit ihm nicht aus ihrem Leben streichen.
Wo er jetzt wohl war?
Hatte er den Dreh bekommen in Richtung eines normalen Lebens?
Oder hatte er das Geld für den Erlös der Wohnung, die ihr Vater für ihn gekauft hatte, mittlerweile verzockt? Wie es schien, hatte Ingo ja leider die Gene seines leiblichen Vaters geerbt, der zwar aus einem uralten Adelsgeschlecht stammte, aber sein ganzes Vermögen verspielt hatte und nun ein Sozialfall war, weil die Familie sich von ihm abgewandt hatte.
Alexandra seufzte und wandte sich vom Fenster ab.
Warum dachte sie jetzt eigentlich daran?
Warum holte sie all diese schmerzlichen Erinnerungen ausgerechnet jetzt wieder hervor?
Wollte sie auf das Elend, was in ihr war, das alles auch noch daraufpacken, um zu demonstrieren, dass ein Mensch unendlich viel ertragen konnte?
Nein!
Nicht die Vergangenheit!
Nicht Ingo, von dem sie vielleicht niemals mehr etwas hören würde. Selbst ihre Mutter hatte es aufgegeben, daran zu glauben, dass ihr geliebter Sohn in den Schoß der Familie zurückkehren würde.
Wenn sie ehrlich war, wollte sie ja auch nicht an Ingo denken und all den Ärger, den er ihnen gemacht hatte.
Im Grunde genommen wollte sie nur abgelenkt werden von dem Schmerz, der in ihr tobte, seit sie aus Greven zurückgekehrt war, dem Jagdschlösschen, in dem ihre Schwester Sabrina mit ihrer Familie wohnte.
Sie hätte sich niemals darauf einlassen sollen, Joe wiederzusehen, der eigentlich Graf Joachim Bechstein hieß und ihre große, hoffnungslose Liebe war.
Was hatte sie eigentlich gedacht, was dieses kurze Wiedersehen bringen würde? Dass Joe seinen Verlobungsring vom Finger streifen würde und mit fliegenden Fahnen zu ihr überwechseln würde?
Schön, sie wusste jetzt, dass sie ihm auch nicht gleichgültig war und dass, wenn nicht alles so dumm gelaufen, sie jetzt die Frau an seiner Seite wäre.
Sie wusste jetzt, wie unbeschreiblich schön es war, in seinen Armen zu liegen und von ihm geküsst zu werden.
Und was hatte sie davon?
Nichts, rein gar nichts.
Während sie noch nach ihm schmachtete, hatte er vermutlich diesen kleinen Zwischenfall längst vergessen und sie abgehakt und sich Benita von Ahnenfeld, seiner Verlobten, zugewandt. Was vollkommen legitim war. Sie wollte sich nicht zwischen ihn und Benita stellen. Sich in eine bestehende Partnerschaft zu drängen brachte kein Glück.
Ja, was wollte sie dann?
Ich will ihn, dachte sie voller Verzweiflung.
Alexandra zuckte zusammen, weil genau in diesem Moment Blitz und Donner beinahe gleichzeitig erfolgten.
War das ein Zeichen?
Sie lief zu einem ihrer kleinen Sessel, setzte sich mit hochgezogenen Beinen hinein und legte ihren Kopf auf ihre Knie.
Joe hatte ihr gesagt, durch die Situation überfordert zu sein, er hatte sie um Bedenkzeit gebeten.
Wie viel Zeit brauchte er eigentlich?
Plötzlich einsetzender Regen prasselte gegen die Scheiben. Hoffentlich hatte man überall die Fenster geschlossen, dachte Alexandra besorgt.
Schon wollte sie aufstehen um sich zu überzeugen, als ihr Telefon klingelte.
Ein wenig unsicher schaute sie zum Apparat.
Wie war das eigentlich? Durfte man bei einem derartigen Gewitter eigentlich telefonieren, oder war es nur ratsamer Fernseher auszuschalten?
Weil das Läuten nicht aufhörte, griff sie schließlich zum Hörer und meldete sich, zumal das Gewitter, so plötzlich und heftig es gekommen war, weitergezogen zu sein schien.
Die Anruferin war ihre Schwester Sabrina.
»Warum meldest du dich nicht, ich wollte schon wieder auflegen?«, beschwerte Sabrina sich.
»Weil über Schloss Waldenburg ein heftiges Gewitter tobt.« Sabrina lachte.
»Und du stirbst vor lauter Angst. Verflixt noch mal, Alexandra, du bist kein kleines Mädchen mehr. Betrachte ein Gewitter als ein grandioses Naturschauspiel.«