Motte und Co Band 1: Auf der Spur der Erpresser. Ulrich Renz
die Stufen zur Haustür hochstapfte. Mit triefnassen Fingern steckte er den Schlüssel in das Schloss. Angeblich war es ja Sommer, aber seit Wochen hatten sie nichts als Regen.
Im Flur streifte er die Turnschuhe ab, hängte die durchweichte Jacke an den Garderobenhaken und ging in sein Zimmer. Dort arbeitete er sich aus seinen nassen Sachen und kramte im Schrank nach trockenen neuen. Er entschied sich für weiße Socken, eine hellbraune Hose und das dunkel-blaue Sweatshirt. Eigentlich genau das gleiche, was er gerade ausgezogen hatte, stellte er beim Anziehen fest. Wahrscheinlich würde seine Schwester Ute wieder ihren Lieblingsspruch ablassen. „Mit diesen verschnarchten Klamotten brauchst du dich nicht zu wundern, dass sich immer noch kein Mädchen für dich interessiert.“ Ute interessierte sich sehr für Jungs und verbrachte ihre Nachmittage damit, in den verschiedensten Geschäften Klamotten an- und auszuziehen.
Motte wusste ja, dass er nicht zu den spektakulärsten Erscheinungen der neueren Geschichte gehörte. Er war weder besonders groß, noch hatte er irgendwelche Ähnlichkeiten mit den Filmstars auf den Postern in Utes Zimmer. Aber egal, er fand sich ganz in Ordnung – von seinen Haaren vielleicht einmal abgesehen. Schon seit er denken konnte, waren sie so struppig und verwuschelt gewesen, dass er mit Kamm und Bürste erst gar nicht anzufangen brauchte. Ein paarmal hatte er es mit Haargel versucht, aber jedes Mal ausgesehen wie Dracula. Jetzt gelte er nur die Haare vorne ein, sodass sie über der Stirn etwas vorstanden. „Frisur mit eingebautem Regenschirm“, zog sein Vater ihn immer auf, „nimm doch Beton, der hält länger!“ Na ja. Papa sollte sich mal lieber seine eigene Frisur anschauen.
Motte machte es sich auf dem weichen Teppich unter seinem Hochbett gemütlich. Es war einfach obercool, dass die Doppelstunde Deutsch ausgefallen war. Wahrscheinlich war Siegwart nach einer seiner nächtlichen Sauftouren mal wieder nicht in die Gänge gekommen. Jetzt konnte er in Ruhe die Mathehausaufgaben erledigen und dann vielleicht noch sein Buch weiterlesen, einen superspannenden Krimi über eine Erpresserbande. Um halb zwei würde Mama nach Hause kommen, und erfahrungsgemäß ging dann wieder die Hektik los – „Kannst du mal den Tisch decken? ... Die Spülmaschine ausräumen? ... Noch schnell den Müll runterbringen?“ Wenn sie schon mit ihrem „Kannst du mal ...“ anfing, wusste er, dass er die nächsten paar Stunden abschreiben konnte.
Er holte das neue Matheheft aus der Schultasche, das er auf dem Nachhauseweg gekauft hatte. Als er es mit „Moritz Blohm, Klasse 7 c“ beschriftete, musste er unwillkürlich grinsen. „Moritz“, das klang so merkwürdig. Seit er denken konnte, nannten ihn alle „Motte“.
Er hatte gerade mit der ersten Aufgabe angefangen, als die Wohnungstür quietschte. Motte entfuhr ein unterdrücktes Knurren. Konnte man in diesem Haus denn keine Minute Ruhe haben? Sicher war bei Ute auch etwas ausgefallen. Natürlich würde sie sich wie immer sofort ans Telefon hängen, und dann durfte er sich wieder Ewigkeiten das Getratsche mit ihren Freundinnen anhören, und zwar volle Lautstärke. Ihr Mundwerk konnte offensichtlich nicht anders. Meist ging es um diese dämlichen Typen aus der Bravo oder irgendwelche Jungs aus der Parallelklasse. Und Klamotten natürlich, ein anderes Thema gab es nicht mehr. Seit sie vor kurzem zwölf geworden war, benahm sie sich, als wäre sie ihrem Bruder in Sachen Lebenserfahrung meilenweit voraus.
Motte wollte gerade schon zur Zimmertür starten, um sie demonstrativ zuzuknallen, als er im Türspalt Vaters weiße Mähne vorbeihuschen sah. – Was? Papa jetzt schon zu Hause? Sonst kam er nie vor vier Uhr nachmittags heim. Motte kam die Erinnerung an das Frühstück hoch, bei dem Papa elend schlecht gelaunt gewesen war, noch schlechter als er es in letzter Zeit sowieso schon war. Er hatte eine Szene gemacht, weil sich Motte angeblich zu viel Marmelade aufs Brot geschaufelt hatte. Nein, Motte hatte keine Lust auf eine Fortsetzung und beschloss, erst einmal auf Tauchstation zu bleiben.
Er saß gerade über der zweiten Matheaufgabe, als das Telefon ging. Schon nach dem ersten Klingeln hatte Papa abgenommen. Als ob er auf den Anruf gewartet hätte, ging es Motte durch den Kopf. Sonst ließ er das Telefon immer ewig klingeln – wenn er überhaupt dranging.
„Hallo! Hier Blohm ...“ Das Zittern in Papas Stimme ließ Motte aufhorchen. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Auf dem Flur hörte er Papa unruhig auf und ab gehen. Ansonsten war lange Zeit gar nichts zu hören.
„Du bist ja wahnsinnig geworden, Peter!“, ging es dann plötzlich los. Es klang wie eine Explosion. „Du bist der Abschaum der Menschheit! Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich verachte!“
Darauf folgte wieder eine lange Stille.
Ganz leise drang es dann zu Motte: „Ja, ich habe die E-Mail erhalten. Aber schneller geht es nun mal nicht. Meinst du, ich kann mal kurz so viel Geld lockermachen, und das alles, ohne dass meine Familie etwas mitkriegt?“
Wieder eine längere Pause.
Dann hörte er wie aus weiter Ferne: „Gut ... Du kriegst die Million ... in vier Wochen.“
2. KAPITEL
Die Million
Mottes Herz fing an zu pochen. Angestrengt lauschte er in die Stille. Aber auf dem Flur waren nur noch Vaters Schritte zu hören, die sich langsam entfernten. Mit einem lauten Schlag fiel die Haustür ins Schloss.
Motte saß wie vom Donner gerührt auf seinem Teppich. Immer wieder ging ihm dieser eine Satz durch den Kopf: „Ja, du kriegst die Million.“ – Eine Million? Um was für eine Million ging es da? Wer war dieser Peter? Was hatte er mit Papa zu tun? Und warum sollte der ihm Geld geben? Wie wollte er überhaupt an so viel Geld kommen? Er hatte als Leiter der Stadtbibliothek sicher kein schlechtes Gehalt, und auch Mama verdiente mit ihrem Halbtagsjob im Bioladen noch etwas dazu, aber eine Million? Daran war doch nicht im Traum zu denken! Sie hatten sich gerade erst vor zwei Jahren dieses Ökohaus gebaut und Motte wusste, dass sie immer noch jeden Monat Geld an die Bank zahlen mussten. Jedenfalls war das Papas Lieblingsargument bei den Taschengeldverhandlungen, die Ute regelmäßig anzettelte, wenn sie neue Klamotten und neuerdings auch Schminksachen brauchte. „Wir alle müssen jetzt ein Weilchen den Gürtel enger schnallen“, sagte er dann immer, mit einem munteren Lächeln, mit dem er wohl zeigen wollte, was für einen Spaß Sparen machen kann.
Und jetzt wollte er kurz mal eine Million auftreiben und sie diesem Peter geben? Da war etwas faul. Nein, megafaul.
Jetzt war auch klar, warum Papa die ganze letzte Zeit so komisch gewesen war. Er war ständig schlechter Laune, an allem hatte er etwas auszusetzen. Die gemeinsamen Fernseh- oder Spieleabende gehörten der Vergangenheit an. Jetzt hieß es nach dem Abendbrot immer gleich „Ab ins Bett!“, und zwar in einem Ton, der jede weitere Diskussion überflüssig machte. Motte merkte es Mama an, wie sehr auch sie unter der schlechten Stimmung litt.
Es war, als ob Papa ein anderer Mensch geworden wäre. Eigentlich war er immer ausgesprochen gutmütig und umgänglich gewesen. Er konnte sogar richtig witzig sein, wenn auch manchmal ein bisschen unfreiwillig. Vor allem aber war auf ihn immer Verlass.
Natürlich hatte er auch seine Macken (er nannte sie „Erziehungsprinzipien“). Und leider war sein Geschmack in manchen Dingen ziemlich eigenartig. Beim Fernsehprogramm zum Beispiel: Fußball war so ziemlich das einzige, worauf man sich mit ihm einigen konnte. Ansonsten schaute er sich am liebsten die Kultursendungen auf Arte an. Ein James Bond war in seinen Augen schon ein Gewaltfilm, der verboten gehörte.
Mit Musik war es ähnlich. Alles, was nach den Beatles kam, war für ihn „Krawallmusik“. Papa hörte nur Musik mit Einschlafgarantie: Klassik, Kirchenmusik, allenfalls mal seine alten Hippieschinken.
Er war einfach in den 70er Jahren stehen geblieben, auch in seinem Äußeren. Er trug die Haare fast schulterlang – zumindest die paar, die er noch hatte. Sie waren schneeweiß, schon so lange Motte zurückdenken konnte. „Ein richtiger Späthippie“, sagte Mottes Freund JoJo immer, und das traf den Nagel auf den Kopf. Es hätte bloß noch gefehlt, dass er sich lila Latzhosen und Jesuslatschen angezogen hätte, und man hätte ihn ins Museum stellen können.
Motte