Motte und Co Band 1: Auf der Spur der Erpresser. Ulrich Renz
Alles Mama erzählen? – Nein!, schoss es ihm sofort durch den Kopf. Seine Eltern waren immer ein Herz und eine Seele gewesen. Papa musste einen Grund haben, weshalb er die Sache vor Mama geheim hielt.
Sollte er vielleicht mit Ute sprechen? Er verwarf den Gedanken, so schnell er ihm gekommen war. Sie konnte einfach den Mund nicht halten. Am Ende würden alle ihre zwanzig Freundinnen miträtseln.
Während er in den Regen starrte, wurde ihm plötzlich klar, was zu tun war. Wozu hatte man eigentlich Freunde?
3. KAPITEL
Die Freunde
Bleib mal locker. Das kriegen wir in den Griff!“ Als wollte er seine Aussage bekräftigen, nahm JoJo sehr zackig seine Brille ab und attackierte die Gläser mit dem Hemdzipfel.
Von Simon kam ein leichtes Nicken. Er war – ganz im Gegensatz zu JoJo – kein Freund der großen Worte. Er sagte, was es zu sagen gab, aber auch kein Wort mehr.
Der ewige Regen hatte eine Pause eingelegt. Motte und seine Freunde hockten auf dem Geländer des Parkplatzes am Supermarkt, wo ihr gemeinsamer Nachhauseweg von der Schule endete. Hier, neben dem Häuschen mit den Einkaufswagen, saßen sie immer noch ein bisschen zusammen, bevor jeder die letzten Meter zu sich nach Hause ging. Es war nicht gerade das gemütlichste Plätzchen, das man sich als Treffpunkt denken konnte. Einkaufswagen ratterten, kleine Kinder quengelten, Autos parkten ein und aus, und vom Getränkemarkt kam das Geschepper der leeren Kisten. Aber dafür beachtete sie hier keiner groß.
Motte hatte seinen Freunden alles erzählt – die Sache mit dem Anruf, Vaters miese Laune, die schlechte Stimmung zu Hause. Er hatte sich alles von der Seele geredet und war nun so erleichtert, dass er den beiden am liebsten um den Hals gefallen wäre.
JoJo und Simon waren seine besten, genauer gesagt: seine einzigen Freunde. Manchmal wunderte er sich selber, wie er mit zwei so unterschiedlichen Typen befreundet sein konnte. Schon auf den ersten Blick war ein größerer Gegensatz kaum vorstellbar: JoJo war deutlich kleiner als Simon, dafür aber auch deutlich dicker. Eigentlich hieß er Jochen. Böse Zungen behaupteten, dass sein Spitzname etwas mit seiner Körperform zu tun hätte: klein und rund – wie das gleichnamige Spielzeug eben. Die Ursachen für seine Korpulenz (wie er selbst seine Leibesfülle zu bezeichnen pflegte) waren alles andere als rätselhaft. Sein Speisezettel bestand ausschließlich aus Fast Food. Alles andere betrachtete er mit Misstrauen („da könnte ja sonst was drin sein“). Wenn er bei Motte zu Besuch war und dessen Mutter ihre unvermeidliche Biokost auftischte, machte er jedes Mal ein Gesicht, als ob man ihn vergiften wollte. Sein Lieblingsgetränk war der berühmte „Matsch“. Dabei handelte es sich um eine süße Eispampe, die man mit Strohhalmen aus Bechern trank. Es gab sie in knallrot, lila, giftgrün und grellgelb. Das Ganze kam aus einer Maschine in JoJos Zimmer, die seine Mutter ihm gekauft hatte. Er hatte das Zeug einmal im Urlaub auf Mallorca getrunken und danach erklärt, ohne Matsch könne er keine Hausaufgaben mehr machen.
In Sachen Essen und Trinken war JoJo kompletter Selbstversorger. Seine Mutter war nachmittags bei der Arbeit und kam erst spät abends nach Hause, und auch morgens bekam JoJo sie nur selten zu Gesicht, weil sie noch schlief. Sein Vater war sowieso nie da. Er sei zur See, erzählte JoJo herum, aber Motte wusste von seinen Eltern, dass JoJos Vater vor fünf Jahren mit einer anderen Frau nach Hamburg gezogen und seither nicht mehr aufgetaucht war.
Klarer Fall von Erpressung!“, verkündete JoJo jetzt so laut, dass eine vornehme alte Dame, die gerade mit ihrem Einkaufswagen vorbeikam, ihn ganz erschrocken anblickte und dann hastig weitertrippelte.
Etwas leiser fuhr er fort: „Dieser Peter soll sich mal nicht zu früh freuen. Jetzt kriegt er es mit Profis zu tun!“ Er strich sich mit der Hand zärtlich über die gebleichten Spitzen seiner Igelfrisur. Mit seiner Haartracht war JoJo immer „dem Trend voraus“, wie er sagte. Dasselbe galt selbstverständlich auch für seine Klamotten. Da ging der künftige Trend offenbar zu überweiten Jogginghosen, himmelblauen Sneakers und T-Shirts oder Sweatshirts mit irgendwelchen abgefahrenen Sprüchen drauf. Gerade war Ich könnte es dir erklären, aber will dich lieber nicht überfordern dran. JoJo war das geborene Großmaul. Was aber nichts daran änderte, dass er ein richtig guter Kumpel war.
„Ja, JoJo hat recht“, meldete sich Simon mit seiner sanften Stimme zu Wort. Er biss in einen Apfel und kaute erst einmal in aller Seelenruhe, den Blick irgendwo in die Ferne gerichtet.
Seinem braun gebrannten Gesicht war anzusehen, dass er viel draußen war. Es war von langen strohblonden Haaren eingerahmt, die ihm vorne bis in die dunklen Augen fielen. Simon war der Schwarm aller Mädchen in der Klasse, was er neben seinem Aussehen hauptsächlich seinem schüchternen Lächeln Marke Brad Pitt verdankte. Vor allem die schöne Renate – die sie wegen ihrer großzügig bemessenen und ebenso freizügig gezeigten Oberweite untereinander immer Granate nannten –, himmelte ihn richtig an, was er aber gar nicht zu bemerken schien. Ihm waren Mädchen „total egal“, wie er zu Motte einmal gesagt hatte.
Simon warf den Apfelrest mit einem gekonnten Weitwurf in den Papierkorb. „JoJo hat recht, die Sache sieht ganz nach einer Verpressung aus!“
„Erpressung“, korrigierte ihn Motte.
Simons Deutsch war ziemlich aus den Fugen geraten. Sechs Jahre hatte er mit seiner Familie in Texas gelebt, wo sein Vater als Kinderarzt gearbeitet hatte. In den drei Monaten seit ihrer Rückkehr hatte er zwar schon Fortschritte gemacht, steuerte aber in Deutsch trotzdem auf eine Sechs zu – die aber zum Glück für die Versetzung nicht zählte. Die Regelung galt aber nur für das laufende Schuljahr, weshalb Simon seine Freunde gebeten hatte, ihn bei jedem Fehler zu verbessern.
Simon lächelte. „Ja, Erpressung ... Nur, wie kommen wir an die Erbrecher?“
„Verbrecher ...“ Motte musste sich das Lachen verkneifen.
„Als erstes müssen wir diese Mail checken, von der die Rede war“, sagte JoJo. Er hörte sich an wie der Polizeiboss in den Fernsehserien. „Meine Erfahrung sagt mir, dass uns die weiterbringt.“
„Und sagt dir deine Erfahrung auch, wie wir da dran kommen?“, fragte Motte. „Ich mache jede Wette, dass Papas Laptop mit einem Passwort geschützt ist.“
JoJo wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. „Cool bleiben, Mann.“ Er machte eine kleine Kunstpause. „Ich kenne da jemanden, der uns vielleicht helfen kann.“
„Und wer soll das sein?“, fragte Motte misstrauisch.
JoJo ließ ein Räuspern vernehmen, und blickte konzentriert auf seine Schuhspitzen.
„Jetzt rück schon raus!“
JoJo kratzte sich hinter dem Ohr. „MM.“
Motte schaute JoJo prüfend an. Bei ihm wusste man nie. Aber es schien sein voller Ernst zu sein.
MM hieß eigentlich Mariekje Marienhoff, aber da man dabei einen Knoten in die Zunge bekam, nannten sie alle in der Klasse nur „MM“. Manche behaupteten auch, dass MM für „Mathemausi“ stand, seit sie Herrn Freudenthaler einmal vorgerechnet hatte, dass er bei der Umwandlung eines Bruches an der fünften Stelle hinter dem Komma einen Fehler gemacht hatte. MM war die absolute Überfliegerin, nicht nur in Mathe. Motte konnte sich nicht erinnern, dass sie einmal etwas anderes geschrieben hatte als eine Eins. Aber ansonsten wusste eigentlich keiner etwas von ihr. Sie war nach den Sommerferien in die Klasse gekommen, weil sie eine Klasse übersprungen hatte. Keiner hatte bisher ein Wort mit ihr gewechselt. Nicht, dass sie nicht sprechen konnte – wurde sie aufgerufen, kam die Antwort immer wie aus der Pistole geschossen. Aber von sich aus sagte sie nichts. Sie saß einfach nur brav auf ihrem Platz in der ersten Reihe und lauschte den goldenen Worten des Lehrers. In der Pause stand sie alleine herum. Und natürlich spielte sie Geige im Schulorchester.
Motte konnte es noch immer nicht fassen. „Willst du uns verarschen?“
„Nein, Mann. Aber die könnte uns echt weiterhelfen.“
„Wie