Motte und Co Band 1: Auf der Spur der Erpresser. Ulrich Renz
Brüderchen, hast du Besuch?“, fragte sie in Mottes Richtung, ohne ihn jedoch eines Blickes zu würdigen. Simon dagegen schenkte sie ihr allersüßestes Lächeln, oder zumindest das, was sie dafür hielt. Es sah aus, als ob ihr jemand auf den Fuß getreten wäre.
Dann wandte sie sich wieder Motte zu: „Da ist übrigens so eine Tusse, die dich sprechen will. Wusste gar nicht, dass das mit den Mädchen bei dir schon losgegangen ist, Brüderchen!“ Natürlich wusste sie, wie sehr ihm dieses Getue mit dem „Brüderchen“ auf die Nerven ging.
Hinter Ute tauchte ein schlankes Mädchen mit schwarzen, mittellangen Haaren in der Tür auf. Auf den ersten Blick hätte Motte sie fast nicht erkannt. MM sah irgendwie anders aus als in der Schule. Vielleicht lag es auch daran, dass er sie in der Schule immer nur von hinten sah. Sie lächelte zaghaft. Wahrscheinlich war sie etwas eingeschüchtert von Utes Auftritt.
Der jedoch noch keineswegs beendet war: „Was habt ihr denn Wichtiges vor, wenn man fragen darf?“ Die Frage sollte wohl beiläufig klingen. Dabei kam ihr die Neugier fast zu den Ohren heraus.
Motte freute sich, dass er seine Schwester mal so richtig abblitzen lassen konnte: „Was geht dich das eigentlich an?“
Ute setzte ein gekünsteltes Lächeln auf und säuselte „Aha ... Brüderchen hat doch nicht etwa Geheimnisse vor seiner Schwester? Nur keine Sorge, ich krieg das schon noch raus!“ Und mit einem Blick wie ein Donnerkeil zu Motte und einem Augenaufschlag für Simon war sie verschwunden. Zurück blieb eine dicke Parfümwolke.
„Oh Mann ...“ JoJo blickte Motte voller Mitleid an.
Von Simon kam nur ein leises „voll amimäßig“. Seit er aus Amerika zurück war, war das sein Lieblingsschimpfwort. Nicht, dass es ihm in Amerika nicht gefallen hätte, im Gegenteil. Die wilde und unberührte Natur hatte ihn begeistert. Von seinen einsamen Ausritten auf dem schwarzen Hengst „Liberty“ schwärmte er immer noch. Aber in seiner Klasse in der Middleschool war er immer ein Außenseiter geblieben – genauso wie seine ganze Familie, die einfach nicht so recht reinpassen wollte in die Welt der meisten Texaner, in der sich alles um Autos und TV-Shows drehte. Für seine Mitschüler spielte sich das Leben außerhalb der Schule vor allem vor dem Bildschirm ab – und dazu fiel Simon nichts mehr ein. Außer eben: „voll amimäßig“. Bei den Böttchers gab es im ganzen Haus weder Fernseher noch Computer. Sie lebten ungefähr wie vor hundert Jahren. JoJo nannte sie immer die „Kelly-Family“, weil die Mädchen und auch die Mutter immer mit langen Röcken und Zöpfen herumliefen. Abends sangen sie mehrstimmig zur Gitarre, die der Vater spielte. An den Wochenenden gingen sie alle zusammen wandern. Motte konnte nicht richtig nachvollziehen, wie man freiwillig wandern gehen konnte, und das auch noch mit einer halben Tonne Gepäck auf dem Rücken. Aber für Simon gab es nichts Schöneres, er war nun einmal ein Naturfreak.
MM hatte neben Motte Platz genommen. „Deine Schwester hat ja ganz schön Power“, sagte sie mit einem leichten Lächeln.
„Ja, das kann man wohl sagen“, stöhnte Motte und rollte mit den Augen.
„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, sagte MM. „Ich war noch Gassi gehen ...“
Offenbar hatte sie die irritierten Mienen der Jungs bemerkt. „Ich meine ... Gassi gehen mit den Hunden aus der Nachbarschaft, das mach ich jeden Tag. Sechs frisierte Schoßhündchen mit Schleifchen und Stammbaum. Komplett abartig. Aber super bezahlt, fünfzig Euro im Monat.“
Motte war ganz von ihren Augen in Bann gezogen. Klar wie Meerwasser, irgendwo zwischen Hellblau und Türkisgrün. Vielleicht war es auch nur der Kontrast zu den schwarzen Haaren, er hatte jedenfalls noch nie so helle Augen gesehen.
JoJo dagegen schien sich mehr für die finanzielle Seite ihrer Ausführungen zu interessieren. „Wow! Fünfzig Euro? Ich empfehle ja immer Siemens-Aktien“, sagte er eifrig.
JoJo mit seinen Aktien! Auf so ein abgedrehtes Hobby konnte nur er kommen. Bei ihm zu Hause liefen auf dem Bildschirm ständig die aktuellen Aktienkurse. Auch in der Schule hatte er „die Hand am Puls des Marktes“, wie er sich ausdrückte – wobei der Puls des Marktes das Handy unter der Schulbank war.
MM lächelte. „Kein Bedarf an Siemens. Ich gebe das Geld immer gleich für Computerteile aus.“
Motte wusste von JoJo, dass MM einen eigenen Computer zusammengebaut hatte, den sie Quick Blue nannte. Er war angeblich so schnell, dass er es mit manchem Großrechner aufnehmen konnte. Sie hatte darin superschnelle Prozessoren eingebaut, die noch gar nicht auf dem Markt waren, und die sie über ihren Vater bekommen hatte.
MM hatte noch gar nicht bemerkt, dass Nala hinter ihr stand und an ihren Haaren schnüffelte. Als das Rehkitz anfing, ihr am Ohr zu knabbern, drehte sie sich erschrocken um. „Was bist denn du für eines?“
Simon musste wieder einmal die ganze Geschichte erzählen. „Sie hat seinen Bein in die Mähmaschine gekriegt. Sie war halb abgestorben, als ich sie gefunden habe. Ihre Mama hat sie schon abgegeben ...“
„Aufgegeben ...“ JoJo räusperte sich ungeduldig. „Lasst uns loslegen!“ In der Hand hatte er sein Smartphone und begann zu tippen. „Ein paar Stichwörter für‘s Protokoll“, sagte er mit wichtiger Miene, und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. In feierlichem Tonfall verkündete er dann: „Nachdem wir jetzt vollzählig sind, eröffne ich hiermit die erste strategische Lagebesprechung unserer Einsatzgruppe.“
Motte schaute JoJo prüfend an. Er schien es mit seinem hochoffiziellen Ton tatsächlich ernst zu meinen. Er blickte in die Runde wie ein General, der seine Truppen inspiziert.
„Fangen wir mit dem Wichtigsten an“, fuhr JoJo fort, „den Kommunikationsmitteln.“ Er kramte in seinem Rucksack. Zum Vorschein kamen drei nagelneue Smartphones, genau vom selben Typ wie sein eigenes, das er seit zwei Wochen neu hatte.
„Was willst du denn mit den ganzen Handys? Reicht dir deins nicht mehr?“, fragte Motte.
„Nein, die sind für euch. Wir müssen auf dem neuesten Stand der Kommunikationstechnik sein. Und dazu brauchen wir vernünftige Handys, mit Konferenzschaltung, Diktierfunktion, Internet und allem drum und dran, ist doch logisch.“
Motte fand es nicht ganz so logisch. „Was stellst du dir vor, was meine Mutter sagt, wenn ich mit so einem Ding ankomme?“ Gar nichts würde sie wahrscheinlich sagen – weil es ihr nämlich die Sprache verschlagen hätte. Mama war überzeugt, dass man von der Handystrahlung Krebs bekommt. Die ganze Familie hatte striktes Handyverbot, Papa eingeschlossen.
„Du brauchst es ihr ja nicht zu zeigen, oder?“, gab JoJo zu bedenken. „Du stellst es einfach immer auf Vibrationsalarm ein. Und wenn es losgeht, musst du eben aufs Klo oder sonst wohin, wo du reden kannst.“
Motte stellte sich vor, wie es munter in seiner Hose vibrierte, während er am Abendbrottisch saß. Er fand es zwar vollkommen übertrieben, dass sie jetzt alle mit Top-Handys rumlaufen sollten, aber die Vorstellung, so ein Ding zu haben, war eigentlich ziemlich verlockend. „Also gib her, wird schon schiefgehen“, sagte er zu JoJo.
„Aber wir können doch nicht so viel Geld spenden?“, kam nun Simons Einwand.
„Ausgeben, meinst du ...“
„Mach dir mal keinen Kopf“, sagte JoJo. „Ich habe ein paar Siemens-Aktien verkauft. Die stehen gerade auf 64,76, da kann man gut mal Kasse machen.“ Er wandte sich an MM: „Hast du schon einen Plan, wie wir an die Datei rankommen?“
„Ja, ich habe einen Plan“, gab sie lächelnd zurück. Sie wandte sich an Motte: „Wann kannst du den Laptop denn mal ausleihen?“
„Am besten vormittags, wenn Papa in seiner Bibliothek ist und Mama im Bioladen. Und Ute in der Schule ...“
„Das Problem ist nur, dass wir da auch in die Schule sind“, sagte Simon.
„Probleme sind dazu da, gelöst zu werden.“ JoJo machte sich wieder mit großer Geste an seiner Brille zu schaffen. „Und ich weiß auch schon, wie.“
„Und?“
„Es