DER ZEHNTE HEILIGE. Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE - Daphne Niko


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Briten. Hätte es Sie umgebracht, die Öffnung ein bisschen größer zu machen?»

      Sarah nahm nicht einmal zur Kenntnis, was Daniel sagte. Sie stierte ihn nur an.

      «Was ist los?»

      «Nichts. Hier war ein Mann …»

      Daniel sah sich um. «Was für ein Mann? Wo?»

      «Sah wie ein Mönch aus, aber ich bin nicht sicher. Er trug ein Kreuz und sprach von Gott.»

      «Was hat er über Gott gesagt?»

      «Er sagte, wir haben nicht Gottes Genehmigung, um hier zu sein. Dass wir Unheil über diesen Ort bringen und sofort gehen sollen.»

      «Tja, wir haben die Erlaubnis des äthiopischen Kulturministeriums. Das ist so gut wie Gott, soweit es mich betrifft.»

      «So oder so, ich denke, für einen Tag haben wir genug Schaden angerichtet. Wir sollten von hier verschwinden.»

      ***

      Beim Abendessen war Sarah ungewöhnlich still. Ihre Gefühle wegen des Fundes waren gemischt. Auf der einen Seite pulsierten ihre Adern vor Begeisterung über das versiegelte Grab und die Geheimnisse, die es möglicherweise enthielt. Auf der anderen Seite hatte sie sich Dr. Simon und den Regeln des geheiligten Institutes, das sie angestellt hatte, widersetzt. Obgleich sie sich völlig darüber im Klaren war, dass der Professor außer sich sein würde, konnte sie nicht anders, als ihren Weg zu gehen. Dies war ihr Fund, das Ergebnis ihrer eigenen Intuition und Initiative anstatt einer Anweisung des Establishments. Darin lag ein Wert, auch wenn die gelehrten Männer Cambridges das nicht erkennen konnten.

      Nachdem sie den Tisch abgeräumt und das Geschirr zum Speisezelt gebracht hatten, nahm Daniel Sarah beiseite. «Ich habe etwas für Sie.» Er hielt eine Pinzette in die Höhe.

      Sie verdrehte die Augen, streckte ihm aber dennoch ihre Handfläche hin.

      Aus Spaß schaltete er seine Stirnlampe ein, ehe er sich an den Splitter machte. «Sie haben den ganzen Abend lang keine zwei Worte gesprochen», sagte er, während er die Oberhaut abschälte, um das Stückchen Akazienholz darunter freizulegen. «Worüber denken Sie nach?»

      «Ach, nichts.» Sie zuckte mit der Hand. «Hey … das hat wehgetan.»

      Er grinste schelmisch und zuckte mit den Schultern. «Entschuldigung. Das war ein Versehen.»

      Es gab keinen Grund, es ihm nicht zu erzählen. Im Gegenteil, sie konnte jeden Verbündeten brauchen, den sie bekommen konnte. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Daniel keiner von diesen Konzernduckmäusern war, sondern eher jemand, der den Beruf wirklich liebte; sie hoffte nur, dass sie recht hatte. «Ich habe das Ge’ez vom Sargdeckel übersetzt.»

      Seine goldbraunen Augen funkelten im Lampenlicht, als er aufsah. «Und?»

      «Und … es war eine Warnung. Da stand: Verflucht sei der, der diese Gebeine ans Licht bringt.»

      Vier

      Die Knochen lagen auf dem Labortisch und verspotteten Sarah. Es war ihr unmöglich gewesen, das Labor zu verlassen, seit ihr Team den Sarg vor vier Tagen freigelegt und hergebracht hatte. Sie hatte keinen Appetit. Sie schlief auf einem Stuhl, dann und wann, und auch nur, wenn die Erschöpfung sie übermannte. Sie war an nichts anderem interessiert, als dieses Exemplar zu untersuchen und sich einen Reim aus den Tatsachen vor ihren Augen zu machen. Das Becken implizierte, dass dies die Leiche eines Mannes war. Anhand der langen, schmalen Schädelform, der hohen Wangenstruktur, des kantigen Unterkiefers, der schrägen Nase und der Länge von Arm- und Beinknochen folgerte sie, dass er kein Afrikaner war. Sie sah sich die Maße noch einmal an: ein Meter siebenundachtzig vom Scheitel bis zur Sohle. Kaukasisch. Definitiv kaukasisch. Die Knochen waren bis auf zwei Stellen intakt: ein gebrochenes rechtes Handgelenk und ein Durchbruch im unteren linken Brustkorb. Sarah fuhr mit einem behandschuhten Finger über die Verletzung. Der durchtrennte Knochen war scharf, weder von der Zeit noch den Naturgewalten verändert. Der Mann musste in einem Krieg oder einer anderen Art Kampf gestorben sein. Sarah vermutete, dass eine Speerspitze ihm den Tod gebracht hatte – ein heftiger Stoß in die Brust, gerade unterhalb des Herzens.

      Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Schädel zu und befühlte dessen Linien; die aristokratischen Wangenknochen, die dunklen Höhlen, wo einmal Augen gewesen waren, das Kinn. Der Zustand der Zähne verwirrte sie am meisten. Gerade und unglaublich intakt konnten sie unmöglich einem Mann antiken Jahrgangs gehören. Sie hatte keinen Anhaltspunkt bezüglich des Alters – die Kohlenstoffdatierung, die Wochen dauern könnte, würde es ihr verraten – aber anhand der Bauweise des Sargs folgerte sie, dass er auf die frühen Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung datiert werden musste. Die Fakten widersprachen einander, zumindest im Moment, und machten sie verrückt vor Neugier.

      «Meine Güte, was machen Sie so früh schon hier?» Daniels nervtötend putzmuntere Stimme rüttelte Sarah aus ihren Gedanken.

      Sie sah auf ihre Uhr. Vier Uhr morgens. «Ich konnte nicht schlafen. Was ist Ihre Ausrede?»

      «Ich bin dauerschlaflos. Gehört einfach dazu. Ist das Tee?»

      «Da sind wir schon zu zweit.» Sarah goss ihm etwas Tee in einen Becher. Ihre Hand zitterte und ein wenig der kochend heißen Flüssigkeit schwappte auf ihren Fingerknöchel. Instinktiv ließ sie den Becher fallen und verzog das Gesicht, mehr aus Missbilligung ihrer Ungeschicklichkeit denn aus Reaktion auf den Schmerz.

      «Sie wissen sehr wohl, dass er nirgendwo hingehen wird», sagte Daniel mit einem Nicken zum Sarg. «Sie sollten sich etwas Schlaf gönnen.»

      «Ich bin okay.» Augenblicklich bedauerte sie es, so abwehrend geklungen zu haben.

      Er ging in die Hocke, um die Scherben aufzusammeln. «Sie sind nicht okay. Sie sind erschöpft. Sie konnten noch nicht mal den Tee eingießen, ohne meinen Lieblingsbecher zu zerbrechen.»

      Sie atmete aus. «Sie haben recht. Es ist nur so, dass ich mich quasi in unseren Freund hier verbissen habe. Ich habe die ganze Nacht auf den Fakten herumgekaut und kann mir trotzdem keinen Reim darauf machen.» Sie ging zum Sarg und betrachtete die Überreste. «Was hätte ein weißer Mann vor so langer Zeit in Äthiopien gewollt?», fragte sie, ohne unbedingt eine Antwort zu erwarten.

      «Ich bin nicht sicher, ob es so lange her ist. Die frühesten verzeichneten Weißen in Abessinien waren römische Missionare, die umherreisten, um die Lehren des Christentums zu verbreiten. Das war wann? Viertes oder fünftes Jahrhundert? Die römische Durchschnittsgröße damals lag vielleicht so bei einem Meter siebzig. Dieser Kerl hier ist ziemlich groß, zu groß, um aus dieser Epoche zu stammen. Sehen Sie sich außerdem das Gebiss an.» Er ging zum Sarg und wies auf die oberen Backenzähne. «Sehen Sie das? Das ist eine Art Füllung. Wollen Sie mir wirklich sagen, dass ein Mann des vierten oder fünften Jahrhunderts eine Zahnbehandlung gehabt hat?»

      Die Feststellung überrumpelte Sarah. Bezüglich der Zähne hatte sie einzig bemerkt, dass sie gerade waren und – besonders außergewöhnlich – alle vorhanden. Sie war leicht beschämt und verärgert darüber, dass Daniel dieses Detail zuerst aufgefallen war.

      «Natürlich werden wir das nicht mit Sicherheit wissen, bevor wir die Laborberichte zurückbekommen», fuhr er fort, «aber ich würde Haus und Hof darauf verwetten, dass wir uns einem neuzeitlichen Mann gegenübersehen.»

      «Ich weiß nicht. Was ist mit der in den Sarg geritzten Warnung? Ge’ez ist eine antike Sprache.»

      «Ja, aber sie wird bis zum heutigen Tag von äthiopisch-orthodoxen Geistlichen in Gottesdiensten und in Studien verwendet. Diese Inschrift wurde wahrscheinlich von jemandem aus der Glaubensgemeinde eingeritzt. Sie haben selbst gesagt, dass ein Mönch Ihnen befohlen hat, von dort zu verschwinden. Das ist kein Zufall.»

      «Okay. Die Kirche will also nicht, dass das Grab freigelegt oder die Knochen exhumiert werden. Warum?»

      Er strich sich über den Stoppelbart an seinem Kinn. «Es wäre nicht das erste Mal, dass die Kirche etwas versteckt. Ich vermute, dass es kein gewöhnliches


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