DER ZEHNTE HEILIGE. Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE - Daphne Niko


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Daniel heuchelte Empörung.

      Rada krümmte sich vor Lachen; ein schnellfeuerartiges, schrilles Geräusch, das ihn wie eine Comicfigur klingen ließ. «Richtig», brachte er zwischen einzelnen Lachern hervor. «Und was sollte der verrückte Tanz?»

      «Ist der Steinbock gekommen, oder nicht?»

      «Ist er; ist er. Das war das Seltsamste, was ich je gesehen habe.»

      «Ich hatte schon immer ein Händchen für Tiere.»

      Die beiden Männer lachten und stießen mit ihren Biergläsern an.

      «Das waren gute Zeiten», sagte Rada kopfschüttelnd.

      Sarah lächelte nervös. «Mr. Kabede, wir sind hier, um Ihre Meinung über etwas einzuholen. Wir haben diese …»

      Unter dem Tisch griff Daniel nach Ihrer Hand und drückte sie.

      Widerwillig behielt sie ihre Gedanken für sich.

      Eine Kellnerin brachte ihnen einen Krug und eine Schale, sodass sie ihre Hände am Tisch waschen konnten. Während Rada sich die Hände über der Schüssel einseifte, flirtete er ungeniert mit dem Mädchen.

      Daniel beugte sich zu Sarah. «Es tut mir leid, dass ich Sie unterbrochen habe», flüsterte er. «Es ist nur so, dass die Dinge hier einer anderen Geschwindigkeit folgen. Es ist sehr unhöflich, am Esstisch über das Geschäft zu sprechen. Vertrauen Sie mir einfach.»

      Sarah verdrehte die Augen. Sie kannte die Etikette sehr wohl; sie hatte nur schlicht keine Geduld dafür.

      Die nächsten beiden Stunden sprachen die Drei über alles – Weltpolitik, Daniels Abenteuer in der Wüste bei Qaryat-al-Fau, das Wetter in London – außer den Inschriften. Von der Injera, einem großen Sauerteigfladen, den der Kellner über ihrem Tisch ausgerollt hatte, nahmen sie reichlich; anstelle von Besteck wurden Stücke des Fladens abgerissen, um damit mundgerechte Portionen des Essens aufzunehmen: pikant geschmortes Hühnchen, Doro Wot genannt, Linsensalat, gewürzter Ziegenkäse und ausgebackene Kichererbsenplätzchen. Das einzige Besteckstück auf dem Tisch wurde mit dem letzten Gang gebracht. Es war ein Messer mit Elfenbeingriff und einer geschwungenen Spitze, welches dazu gedacht war, Scheiben aus einem großen Stück rohen Rindfleisches – einer hiesigen Delikatesse – zu schneiden.

      Nachdem sie sich alle satt gegessen hatten, rieb Rada seine Hände und ließ ein breites Lächeln aufblitzen. «Und jetzt Kaffee.»

      Sarah war erleichtert, dass das Essen beinahe vorüber war und sie bald auf den Punkt kommen konnten.

      Sie gingen in einen anderen Raum, in welchem der Boden stellenweise mit Gras bedeckt war. Eine von Kopf bis Fußknöchel in Schals aus weißem Baumwollflor gehüllte Frau saß auf einem solchen Grasflecken. Über einem Kohlefeuer schwenkte sie eine Pfanne hin und her, bis die Kaffeebohnen darin geröstet waren. Mit nicht allzu flinken Bewegungen zerrieb sie diese dann mit Mörser und Stößel. Die zerstoßenen Bohnen tat sie in eine Tontasse mit Wasser und filterte das Gebräu gute zehn Minuten lang. Genauso gut hätte sie Teer in die winzigen Porzellantassen gießen können, so dunkel und zähflüssig war der Kaffee.

      Sarah verwirbelte die Flüssigkeit in ihrem Mund. Sie erwartete, dass sie wie Benzin schmecken würde, und daher war sie über den milden, nussigen Geschmack überrascht. Sie stülpte die Tasse um, um ihre Anerkennung auszudrücken, und innerhalb von Sekunden spürte sie, wie ihr Herz vom Koffein zu rasen begann. Auch gut. Sie hätte heute Nacht ohnehin nicht geschlafen.

      Anschließend spazierten sie zu Radas Büro. Die Feuchtigkeit des Sommers hatte sich in der Betonstadt festgesetzt. Nach dem Regen war es immer schwül und stickig genug, um einen Schleier von Erde und Staub auf der Haut zu hinterlassen. Noch immer sprachen sie nicht über den Grund ihres Besuches.

      Sarah glaubte mittlerweile, dass dieser ganze Ausflug vielleicht reine Zeitverschwendung wäre, bis Rada in seinem Büro sagte: «Was kann ich für euch tun?»

      «Na schön, alter Freund», sagte Daniel. «Meine Kollegin und ich brauchen deine Hilfe. Wir haben etwas gefunden. Inschriften …»

      «In Aksum?»

      «Ja. In einer Grabkammer.»

      Rada verschränkte die Finger und legte seine Hände an den Mund.

      «Wir fanden dieses Grab in einer versiegelten Höhle in der Nähe von Debre Damo. Dort gab es keine persönliche Habe, nur einen schlichten Holz–»

      «Wir können bezüglich dieses Projekts nicht allzu sehr ins Detail gehen», unterbrach Sarah ihn, «wie Sie sicher verstehen können. Wir müssen nur wissen, ob Sie diese Sprache übersetzen können.» Sie warf ein Bündel Fotos vor Rada auf den Schreibtisch: Nahaufnahmen eines Teils des Textes.

      Rada betrachtete die Zeichen genau und blickte dann kurz auf; er war offensichtlich aufgeregt. «Das ist eine antike Sprache, die nicht mehr existiert. Ich glaube, es ist eine Variation des Safaitischen, eine Art semitischer Dialekt. Er wurde vor etwa zweitausend Jahren in Arabien gesprochen, hauptsächlich von Nomaden.» Er fixierte seinen Blick zuerst auf Sarah, dann auf Daniel. «Du behauptest, ihr habt das in Aksum gefunden?»

      Daniel nickte.

      «Unmöglich. Dieser Dialekt wurde dort nie gesprochen.» Rada nahm eine Lupe zur Hilfe, um die Inschriften genauer betrachten zu können. Dann lehnte er sich zurück und verfiel kopfschüttelnd in Schweigen.

      «Ich sehe, wie es in deinem Kopf rattert, alter Junge», sagte Daniel. «Sag mir, was du denkst.»

      «Das ist nur eine Theorie, aber die Nomaden der Syrischen Wüste reisten oft zu den Siedlungen der Wüste Negev Öder südlich Ubars, um mit ihrem Vieh zu handeln. Es wäre nicht unsinnig, anzunehmen, dass einige von ihnen sich heimlich von ihren Stämmen davongemacht haben, um sich auf der Suche nach einem glücklicheren Leben westwärts nach Ägypten und schlussendlich nach Nubien und Aksum durchzuschlagen.» Er sah genauer hin. «Die meisten safaitischen Inschriften, die gefunden wurden, sind Berichte über das nomadische Leben. Die Menschen, die diese Dialekte sprachen, waren einfache Stammesleute, also könnte dies hier allerwenigstens einen tollen Einblick über frühes Ziegenhüten und Kamelrennen bieten.»

      Er stieß ein kurzes, schrilles Lachen aus. Daniel lachte leise. Sarah verstand, dass der Scherz nur die Spannung mindern sollte, aber er nervte sie trotzdem.

      «Mr. Kabede, können Sie uns helfen oder nicht?»

      Daniel öffnete den Mund, aber sie brachte ihn zum Schweigen, indem sie die Hand hob.

      Rada zuckte mit den Schultern. «Unter Umständen kann ich einen Teil davon übersetzen. Aber der einzige Mensch, der Ihnen wirklich helfen kann, ist derjenige im Besitz des Steins.»

      Daniel sah sie an. Sie wusste, dass er dasselbe dachte wie sie. Es musste einen Schlüssel zur Übersetzung der antiken Sprachen der Region geben, das Äquivalent zu Ägyptens Stein von Rosette.

      «Und wo ist dieser Stein?», fragte Daniel.

      «Er ist in den Katakomben einer Kirche nahe Lalibela eingeschlossen. Yimrehane Kristos. Zumindest den Gerüchten nach. Niemand hat ihn je gesehen. Er wird sehr streng von den örtlichen Priestern bewacht. Gerade wie die Bundeslade.»

      «Mr. Kabede, Sie meinten, Sie könnten einen Teil davon übersetzen, ja?», fragte Sarah. «Wie lange würden Sie dazu brauchen?»

      «Geben Sie mir ein paar Tage, um mir das anzusehen. Über diesen Dialekt wurde nur sehr wenig geschrieben. Ich werde einige Forschungen anstellen müssen. Aber ich kann nichts versprechen.»

      Sarah, die sehr abgeneigt war, jemandem zu vertrauen, überließ ihm nur widerwillig die Fotos.

      ***

      Bis sie das Hilton erreichten, war es schon acht Uhr abends. Sarah verabredete mit Daniel, sich früh am Morgen für die Rückfahrt nach Aksum zu treffen und zog sich dann auf ihr Zimmer zurück. Sie sicherte den Türriegel und schaltete das Licht ein.

      Auf dem Boden neben ihren Füßen lag ein weißer Briefumschlag. Kurz dachte


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