DER ZEHNTE HEILIGE. Daphne Niko
unter der Oberfläche des östlichen Stelenfeldes hindeuten. Ihre Ausgrabung hat einige kleinere Objekte freigelegt – Metallgegenstände, Speerspitzen, Münzen, Steinfragmente, diese Art Dinge –, aber Sie haben noch keinen Eingang ausfindig gemacht. Und aus diesem Grund werden jede Menge Leute langsam nervös. Trifft es das in etwa?»
«So ziemlich.» Sie ging zu dem Tisch, auf welchem die Gegenstände zur Vermessung und Protokollierung aufgestellt waren. «Wir haben diese hier auf das vierte, fünfte und sechste Jahrhundert datiert. Vor dem Untergang Aksums. Wir gehen davon aus, dass die Nekropolis unterhalb des östlichen Feldes aus demselben Zeitalter stammt. Die Tatsache, dass sie so weitläufig und tief ist, deutet an, dass es sich um eine königliche Grabstätte handelt oder eine von wohlhabenden Adligen. Daher könnte dies ein äußerst interessanter Fund sein.»
«Und was ist der Plan?»
«Wir graben jeden Tag. Beginnen vor Sonnenaufgang, arbeiten, bis es zu heiß wird, legen eine Mittagspause ein und machen dann etwa zur Abenddämmerung Schluss. Eine Mannschaft ist in diesem Moment bei der Ausgrabung. Sie machen recht gute Fortschritte.»
«Und Sie?»
«Ich grabe für gewöhnlich mit ihnen. Heute muss ich mich jedoch für ein paar Stunden davonstehlen. Ich muss ein paar Dinge wegen in die Stadt.»
«Ich kann mit Ihnen kommen.»
«Nein. Nein, wirklich, bleiben Sie hier und machen Sie sich mit dem Projekt vertraut.»
«Was immer Sie wollen. Dann mache ich mich mal auf den Weg.» Bei der Tür drehte er sich um. «Übrigens, wie sind Sie eigentlich zu diesem hässlichen Schnitt an Ihrem Arm gekommen?»
«Unfall. Ich» – sie stolperte über ihre Worte – «habe ihn mir an ein paar Felsen aufgerissen.» Keine Lüge, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Er war der letzte Mensch, mit dem sie über ihren Zusammenstoß bei den Klippen Debre Damos sprechen würde.
Vom Eingang aus beobachtete sie, wie Daniel in den Land Cruiser stieg und in Richtung der Ausgrabungsstelle davonfuhr. Sobald er außer Sichtweite war, schnappte sie sich ihren Rucksack, verschloss das Labor und sprang in ihren Jeep.
***
Es war zu einer täglichen Routine geworden, dieser nachmittägliche Ausflug zu den Klippen. Die ersten paar Vormittage hatte sie in der Stadt verbracht, um Helfer für den Bau des komplizierten Holzgerüsts anzuwerben, das es ihr ermöglichte, die Abbruchkante zu erreichen, ohne steile Felswände und Skorpion gespickte Schotterpfade bewältigen zu müssen. Unter der Aufsicht ihrer Baustatiker hatte sie etwa ein Dutzend Einheimischer an die Arbeit geschickt und gemeinsam hatten sie das aufwendige Holzkonstrukt in Windeseile errichtet. Nachdem das Gerüst gebaut war, hatte sie sich zusammen mit ein paar ihrer Kollegen – denjenigen, denen sie am meisten vertraute – daran gemacht, die neben dem mysteriösen Symbol aufgestapelten Steine zu versetzen.
«Hallo, Truppe», rief sie, als sie die letzte Stufe des Gerüsts erreichte. «Heute schon was gefunden?»
Dennis, einer der ältesten Teilnehmer der Expedition, mit dem sie bereits in Zimbabwe zusammengearbeitet hatte, saß auf einem Stapel Steine, den die Crew entfernt hatte. Sein rundes Gesicht war pinkfarben von der Sonne und der Hitze. Mit einem Zipfel seines T-Shirts rieb er den Schweiß von seiner Brille. «Wir kommen voran», sagte er mit seinem East-End-Akzent. «Nur zu. Sieh es dir an.»
Sie näherte sich dem Gebiet, aus welchem sie die Steine entfernt hatten, und legte ihre Hand über die kleine Öffnung. «Kalte Luft.» Sie war überrascht. «Da hinten muss eine Höhle sein.»
«Allerdings. Und meiner Vermutung nach ist diese kleine Steinformation …»
«Nicht natürlich entstanden», beendete sie seinen Satz aufgeregt. Sie konnte sich nur ausmalen, was hinter den Steinen liegen mochte – aber etwas war dort. «Wir sollten uns auf diesen Teil der Konstruktion konzentrieren. Ich will, dass wir gerade genug der Felsen entfernen, um einen senkrechten Gang zu schaffen, den einer von uns passieren kann. Für die Aufklärung. Danach können wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen wollen.»
«Sollte nicht zu lange dauern. Das ist der schwächste Teil der Konstruktion. Der Stein zerfällt geradezu.»
Sarah und ihr Team arbeiteten den Rest des Nachmittags daran, die Steine zu entfernen, indem sie diese mit Spitzhacken zerschlugen und vorsichtig mit der Hand abtrugen, bis schließlich ein enger, vertikaler Schacht im Felsen entstanden war. Sarah leuchtete mit ihrer Taschenlampe hinein. Sie sah nur Felsen; möglicherweise die Wände einer Höhle, aber dessen konnte sie nicht sicher sein. «Ich werde reingehen. Seile mich an, Aisha.»
Aisha sah sich um. «Wo ist das Seil?»
«Ach, Mist. Ich habe es im Jeep gelassen. Stimmt ja. Ich bin sofort wieder da.»
Sie stieg das Gerüst bis zum Fuß des Felsens hinab und rannte die halbe Meile bis zu ihrem Jeep, der am Rand der nächstgelegenen Straße geparkt war. Das Tageslicht schwand schnell. Sie durchwühlte den Kofferraum und das Wageninnere, blickte unter Landkarten und Werkzeuge und lose Blätter ungeordneter Notizen. Sie fand das Seil zwischen den Vordersitzen. Das erklärte, warum sie es versehentlich zurückgelassen hatte.
«Das treiben Sie also, wenn Sie in die Stadt gehen.»
Die Stimme hinter ihr erschreckte sie so sehr, dass sie sich den Kopf am Überrollbügel anschlug.
«Tut mir leid», sagte Daniel. «Ich hätte anklopfen sollen.»
«Folgen Sie mir etwa?»
«Ja, das tue ich. Da ich vermute, dass Sie mich anlügen, gleicht sich das wohl wieder aus.»
«Hören Sie, ich bin in Eile.» Sie schob sich an ihm vorbei.
«Das glaube ich nicht», rief er ihr nach. «Ich schlage vor, dass Sie mir eine Erklärung anbieten. Es sei denn, Sie möchten, dass ich Dr. Simon und Ihren Geldgebern meine eigene Version erzähle.»
«Mistkerl», stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie besaß wenig Geduld mit anmaßenden, wichtigtuerischen Männern.
«Sie behandeln mich als wäre ich der Feind, aber ist es Ihnen mal in den Sinn gekommen, dass ich hier bin, um zu helfen?»
Sie drehte sich zu ihm um. «Tja, dann helfen Sie mir, indem Sie zur Ausgrabung zurückgehen.»
Er nickte in Richtung des Gerüsts. «Was ist da oben? Oder muss ich hinaufklettern und selbst nachsehen?»
«Das hat nichts mit Ihnen zu tun. Es ist ein kleines Nebenprojekt.»
«Ein Nebenprojekt? Mit Mitarbeitern und Ressourcen der Expedition? Haben Sie überhaupt die erforderlichen Genehmigungen, um hier zu sein?»
«Zu Ihrer Information, unsere Genehmigung umfasst einen Radius von zwanzig Meilen vom Tal der Stelen aus. Wie Sie also erkennen können, ist es sehr wohl unser gutes Recht, hier zu sein.»
«Dann ist das also der Grund dafür, warum Ihr Projekt sich so hinausgezögert hat.»
Sie stöhnte frustriert auf und warf das Seil zu Boden. «Verdammt, Madigan. Was wollen Sie von mir?»
«Die Wahrheit wäre nett.»
«Schön. Ich sehe ein, dass ich keine andere Wahl habe, als es Ihnen zu erklären und darauf zu warten, dass Sie mich ans Kreuz schlagen.»
Er ging auf sie zu und stoppte ein paar Zentimeter vor ihr. Er sprach ruhig, aber in seinen Augen lag eine Warnung. «Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse, Wildkätzchen. Sie wissen überhaupt nichts über mich.»
Sie schob sich langsam rückwärts, während sie sein Gesicht studierte. Sie konnte nicht sagen, ob er Freund oder Feind war, aber er hatte sie mit dem Rücken zur Wand in die Enge getrieben und sie hatte keine andere Wahl als die Wahrheit zu sagen. «Vor ein paar Wochen kam ich mit einem der Einheimischen hierher. Er wollte mir ein paar Höhlen voller Tonscherben zeigen. Er sagte, er hätte auch Glas gesehen und möglicherweise sogar Schmuck. Ich rutschte vom Weg ab, fiel diese Felswand hinunter und landete auf der Abbruchkante