DER ZEHNTE HEILIGE. Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE - Daphne Niko


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von der Al Akhawayn-Universität in Marokko. «Es sind jetzt, was, fünf Monate? Man sollte meinen dürfen, dass wir mittlerweile fündig wären.»

      «Geduld, Mädchen», sagte Sarah, ohne aufzusehen. «Das ist kein Indiana-Jones-Film. Die erste Lektion der Archäologie: Egal wie lange es dauert, du lässt nicht locker.»

      Aisha richtete ihren Hidschab mit langen, dunklen Fingern. Sie seufzte mit der Ungeduld der Jugend und nickte in Richtung der Berge jenseits der Ausgrabungsstätte. «Glauben Sie, dass etwas da draußen ist?»

      Eine leichte Brise wisperte über die ausgedörrte Landschaft. Sarah verengte die Augen und blickte zum Horizont. «Ich weiß es.»

      «Ist das Ihre professionelle Meinung oder das berühmte Bauchgefühl, das von Archäologen erwartet wird?»

      «Ein bisschen von beidem, nehme ich an. Sieh mal, wenn es leicht wäre, dann wäre die Stätte aller Wahrscheinlichkeit nach längst geplündert worden. Die Tatsache, dass wir so lange brauchen, um sie zu finden, ist genau genommen ein gutes Zeichen. Was immer da unten ist, wurde sehr wahrscheinlich seit fünfzehn und mehr Jahrhunderten nicht mehr von menschlichen Augen gesehen.»

      «Nur ein Brite würde das für sexy halten.»

      Sarah lachte und klopfte dem Mädchen auf die Schulter. «Na los. Lass uns in die Stadt fahren und zu Mittag essen. Ich sterbe vor Hunger.»

      ***

      Die moderne Stadt Aksum zeigte nichts ihrer einst bedeutsamen Identität. Von allen vergessen – außer den Gläubigen, welche Wache über die Kirchen standen, und den Bauern, welche darauf beharrten, der wasserarmen Erde ihren Lebensunterhalt abzuringen – stand sie da wie ein trauriges Mahnmal längst verlorenen Glanzes.

      Dennoch nannte die Stadt siebenundvierzigtausend Einwohner ihr Eigen, von denen die meisten zur Mittagszeit unterwegs waren. Der Ort schwirrte vor Geschäftigkeit. Das würzige Aroma köchelnder Wots strömte aus lehmigen Innenhöfen. Alte zahnlose Frauen, zu schwach zum Kochen, saßen auf Bänken am Wegesrand und spannen Baumwolle für die Webstühle. Kinder rannten unbeaufsichtigt über die halbbefestigten Straßen und kreischten voller Freude, während sie einander mit dornigen Akazienzweigen nachjagten. In weiße Baumwollgewänder gehüllte und das hagere Antlitz der Armut tragende Dörfer bummelten durch die Stadt, zu keinem weiteren Zweck als die Langeweile zu mildern, welche in einem armen, abgelegenen Bauerndorf unvermeidbar war.

      Sarahs liebste Küche war Tigrinya, ein chaotischer Stand am Straßenrand, der mittags hunderte von Äthiopiern verpflegte. Das Essen war nicht besonders gut, aber die Energie war unbezahlbar. Alle versammelten sich hier, um sich zu treffen und Klatsch zu teilen. Dieser Tag war wie jeder andere: Es gab keinen Sitzplatz, Einheimische stritten mit dem Koch über die Wartezeit für ihr Essen, der Gestank heißen Öls tränkte die Luft, amharische Musik plärrte aus einem altmodischen Gettoblaster aus den Achtzigerjahren.

      «Versucht, einen Tisch zu bekommen», sagte Sarah zu den anderen. «Ich gehe bestellen.»

      Sie sprach ein besseres Amharisch als jeder andere in ihrer Crew. Seit ihrer Kindheit hatte sie eine Begabung für Sprachen gehabt, und ihre Fähigkeit, sich Fremdsprachen innerhalb weniger Monate anzueignen, hatte ihr unter den Archäologen einen Vorteil verschafft. Sie mochte es, sich an den Einheimischen zu üben. Während sie in der Schlange stand, verwickelte sie die Menschen in Gespräche: Bauern über den grausig regenlosen Sommer und Teenager über ihre Tischfußballstrategien. Um die Wahrheit zu sagen, genoss sie es mehr, mit den Afrikanern zu sprechen, als mit ihren eigenen Leuten, deren kannibalischen Klatsch übereinander sie unerträglich langweilig fand.

      Über ihre Schulter hinweg flüsterte ein äthiopischer Mann in gebrochenem Englisch: «Sie sind die englische Lady, ja? Von der Ausgrabung im Tal.»

      Sie wandte sich dem Fremden zu. Er war groß und schlaksig und trug Levi’s Jeans, die über den Knöcheln endeten, eine Kette mit einer silbernen Menelik-Münze als Anhänger und eine alte Yankees Baseballmütze. Sie schätzte ihn als einen typischen Profiteur aus der Gegend ein, der gefälschte Antiquitäten für alles Fremde – bevorzugt amerikanisch – eintauschte. Sie zwang sich zu einem steifen Lächeln, antwortete aber nicht.

      «Ich kann Ihnen helfen. Ich kenne einen Ort mit alten Dingen.»

      «Hören Sie, Mister …»

      «Ejigu.» Er streckte seine Hand aus. «Sehr schön, Sie zu treffen.»

      «Hören Sie, Ejigu, ich will nicht unhöflich sein, aber ich brauche Ihre Hilfe nicht. Danke trotzdem.»

      «Schauen Sie das.» Er holte zwei Keramikfragmente aus seiner Tasche, wobei er verstohlen über seine Schulter blickte.

      Sarah bemühte sich darum, desinteressiert zu wirken, während sie die Scherben begutachtete. Eine trug verblasste geometrische Muster – Rautenbahnen, stilisierte vertikale Linien, kleine Kreise mit Kreuzen darin –, die alle in Ockergelb gezeichnet waren. Die andere war schwarz und weiß mit fließenden Schnörkeln. Sie ließ ihre Finger über den freigelegten Lehm der zerbrochenen Kante gleiten. Sie war glatt, als wäre sie vor langer Zeit geborsten und längst wieder von der Erde ausgehärtet worden. Viertes oder fünftes Jahrhundert schätzte sie aufgrund der Symbolik. Insbesondere die Kreuze deuteten auf die nachchristlichen aksumitischen Zivilisationen hin, die hierzulande irgendwann nach dem Jahr 320 verbreitet gewesen waren. «Woher haben Sie das?»

      Ejigu war deutlich zufrieden mit sich selbst, dass er ihr Interesse geweckt hatte. «Ist Geheimnis», flüsterte er in pseudoverstohlener Manier. «Aber wenn englische Lady wissen will …»

      Er rieb Zeigefinger und Daumen in der universalen Geste des Geldes aneinander.

      Sarah schüttelte den Kopf und lachte. «Nein, danke, mein Freund. Ich arbeite für eine Universität. Das bedeutet, dass ich kein Geld habe, das ich Ihnen geben könnte.»

      Ejigu musterte sie von oben bis unten. «Das ist eine schöne Uhr», sagte er, während er auf die ramponierte Timex an ihrem Handgelenk deutete. «Sie geben mir und ich bringe Sie, wo Sie diese Dinge finden.»

      «Sie haben mehr von dieser Art gesehen?»

      «Oh, ja, Lady. Viel, viel mehr.» Er weitete die Augen.

      Sarah schmunzelte, um ihm zu zeigen, dass sie das für eine Übertreibung hielt. Sie traute ihm nicht, aber die Scherben interessierten sie genug, um das Ganze einen Schritt weiterzutreiben.

      Die voluminöse äthiopische Dame hinter der Scheibe bellte Sarah an, ihr Gequatsche zu beenden und ihre Bestellung aufzugeben.

      «Hören Sie, ich muss los. Wenn Sie es ernst meinen, treffen Sie mich morgen hier. Sie bringen mich zu Ihrem Fundort, und wenn Ihre Behauptung wahr ist, dann verspreche ich, Sie zu entlohnen.»

      Sie gaben sich die Hand darauf, und Sarah lief zum Bestellfenster.

      ***

      Am nächsten Nachmittag wartete Sarah bei Tigrinya. Ihre anständige englische Erziehung riet ihr, niemals einem Einheimischen zu vertrauen, besonders nicht an einem Ort wie Äthiopien, wo alles für den richtigen Preis gekauft oder verkauft werden konnte. Doch ihre amerikanische Seite fiel genauso schwer ins Gewicht. Nachdem ihre Eltern sich hatten scheiden lassen, war sie mit ihrer Mutter nach New York gezogen und hatte ein Internat in Connecticut besucht. In dieser rücksichtslos wetteifernden Umgebung hatte sie ihre Instinkte geschärft. Sie hatte gelernt, wie man Menschen einschätzte und sie bei ihren eigenen Spielchen austrickste. Diese Raffinesse «made in America» leistete ihr in der Praxis gute Dienste. Ganz bestimmt hatte sie keine Angst vor Ejigu. Sie betrachtete ihn als einen kleinen Gauner, einen Kerl, der auf einen schnellen Dollar aus war und sich dann dem nächsten Handel zuwandte.

      Obwohl sie bezweifelte, dass viel dabei herauskäme, würde sie trotzdem gehen. Die meisten anderen Archäologen – ganz gewiss ihre Kollegen aus Cambridge – würden es niemals in Betracht ziehen, Hinweisen von Eingeborenen zu folgen, welche sie alle als raffgierige falsche Propheten betrachteten. Sie andererseits hatte keine derartigen Vorurteile. Obwohl sie sich darüber im Klaren war, dass neunundneunzig Prozent dieser


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