DER ZEHNTE HEILIGE. Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE - Daphne Niko


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war pünktlich. Für eine Wanderung angezogen – mit zerrissenen Jeans und schlammverkrusteten Nike-Schuhen mit limonengrünen Schnürsenkeln, die er offensichtlich bei einem Touristen eingetauscht hatte – gesellte er sich zu Sarah an einen hölzernen Picknicktisch unter einem Baum abseits der die Zeit vertrödelnden Einheimischen.

      Sie zündete sich eine Zigarette an und offerierte auch ihm eine. «Also», sagte sie in einem argwöhnischen Tonfall. «Wo gehen wir hin?» Sie sprach amharisch, damit sie nicht für eine unwissende Auswärtige gehalten wurde.

      Ejigu deutete in Richtung der Berge, nördlich des Tals, in dem Sarahs Expedition stationiert war. «Da oben. Nicht einfach zu finden. Sie müssen klettern.»

      Sie klappte ihr tragbares Fernglas auseinander, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Das Gelände, felsig und ausgedörrt, ging langsam in das Vorgebirge über und gipfelte in steilen, von den Winden aufgerauten Felswänden. Auf einer der weit entfernten Klippen stand ein fachgedecktes Steinbauwerk. Sarah konnte es nicht genauer erkennen. «Was ist das für ein Gebäude?»

      Sie kannte die Legende des Klosters. Es war eine der von den neun Heiligen, die das Christentum in Äthiopien verbreitet hatten, gebauten Kirchen. Abuna Aregawi, einer jener Neun, hatte sein Ordenshaus hoch auf eine Klippe gestellt, wo kein gewöhnlicher Mensch es erreichen konnte. Selbst die Mönche, die dort lebten, hatten keinen leichten Zugang. Jedes Mal, wenn sie das Kloster verließen, um Wasser zu holen oder sich auf Meditation zu begeben, mussten sie über ein geflochtenes Lederseil herabsteigen, das von der Felswand herabhing, und auf demselben Weg auch wieder hinauf.

      Die exilartige Lage war nicht unbeabsichtigt; der Ort war dazu bestimmt, von der Welt abgeschieden zu sein. Debre Damo beherbergte wichtige illuminierte Handschriften und fantastische religiöse Gemälde, und die Äthiopier betrachteten diesen Platz als heilig. Sarah hatte ihn schon lange sehen wollen, wusste aber, dass es unmöglich war, denn bis zu diesem Tag war es Frauen nicht erlaubt, in dessen geweihten Bereich vorzudringen.

      «Diese Dinge, ich finde in Höhlen auf der Straße zu Debre Damo», fuhr Ejigu fort. «Es ist sehr reich. Töpferei, Münzen, Glas …»

      «Glas?» Sarah war überrascht. Laut aksumitischer Geschichte waren Glaswaren nicht in Äthiopien hergestellt, sondern vielmehr aus Ägypten und Syrien importiert worden. Sie waren kompliziert zu befördern und sehr teuer und wurden daher nur von den wohlhabenden Klassen verwendet. Derartige Objekte könnten Hinweise auf die schwer auffindbare Grabanlage bieten. Das reizte sie.

      «Ja, gefärbtes Glas», sagte er. «Blau, gelb … Sie werden sehen.»

      Am Ende könnte doch etwas dran sein. «Dann lassen Sie uns gehen.» Sie drückte ihre Zigarette im dünnen Aluminiumaschenbecher aus. «Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.»

      ***

      Nach einer Fahrt Richtung Norden zu den Gebirgsausläufern wanderten sie stetig aufwärts, bis sie das Hochland erreichten. Sarah benötigte keine Pause, hielt aber an, um die Aussicht auf sich wirken zu lassen. Unter ihr, im Süden, lag das Tal der Stelen, wo ihre Kollegen in ihrer Abwesenheit mit den Grabungen fortfuhren. In der Ferne erhoben sich die stummen Ruinen einer antiken Anlage, welche die Einheimischen gerne als den Palast der Königin von Saba bezeichneten, obwohl Archäologen sie auf das siebte Jahrhundert datiert hatten, lange nach Sabas Zeit. Die Äthiopier liebten ihre Legenden und die Wissenschaft konnte ihren Glauben nicht entmutigen. Ein paar hundert Meter über ihrem jetzigen Standpunkt befanden sich die berüchtigten Granitklippen mit ihrem Netzwerk von Höhlen; manche davon natürlichen Ursprungs, manche nicht. Sie war erpicht darauf, sie zu erkunden, bevor das Licht schwand.

      «Die Töpfereien, sie sind in einer Höhle auf dem Gipfel dieses Berges.» Ejigu deutete in die Richtung ihres Ziels. «Kommen Sie. Hier entlang.» Er führte sie über ein Findlingsfeld zu einem schmalen Pfad, der die kahle Klippenwand hinaufführte. Der Weg wand sich um die Felskante und war kaum breit genug, dass ein Mensch darauf stehen konnte. Ein Abgrund auf der anderen Seite fiel steil zu noch mehr Felsen hin herab.

      Daran gewöhnt, immer einen Schritt vorauszudenken, rechnete sich Sarah aus: Wenn sie abrutschte, könnte sie versuchen ihren Fall zu bremsen, indem sie sich an den knorrigen Wurzeln der Kossobäume festhielt, welche dort – unmöglicherweise – zwischen den Steinen wuchsen.

      Ejigu beschritt den Pfad mit der Leichtigkeit eines Menschen, der entweder keine Angst kannte oder das Leben zu gering schätzte. Mit dem Rücken an der Felswand schob er sich Zentimeter um Zentimeter, einen Fuß nach dem anderen, seitwärts wie eine Krabbe nach oben.

      Sarah folgte ihm widerwillig. Schweißperlen bildeten sich jedes Mal auf ihrer Stirn, wenn das lockere Gestein und der Kies nachgaben.

      «Ein paar Meter noch», kündigte Ejigu an und ließ ein grauzahniges Grinsen aufblitzen. «Fast da.»

      Sarah atmete tief durch und konzentrierte sich. Auf dem letzten Stück des Pfades gab es keinen Halt. Der Felsen war von den Elementen glatt poliert worden. Sie richtete ihren Blick auf den Horizont. Wenn sie nach unten sah, könnte sie ihren festen Stand verlieren. Mittlerweile schwitzte sie richtig, teilweise wegen der Hitze, aber hauptsächlich aus Sorge. Ihre Hände waren klamm und rutschig am Stein, aber sie konnte sie nicht an ihrem Bandana abwischen, welches sie für ein ebensolches Szenario um ihr Handgelenk gewickelt hatte.

      «Lady. Nicht bewegen.» Ejigu sprach leise, war aber eindeutig beunruhigt. «Ein Skorpion. Vor Ihren Füßen. Halten Sie still, dann wird er Ihnen nichts tun.»

      Der Skorpion kletterte auf Sarahs Stiefel. Von dort krabbelte er ihr Bein hinauf.

      Sie blieb bewegungslos und ruhig. Sie hatte genug Zeit an abgelegenen Orten verbracht, um zu wissen, dass sich ein Skorpion von Bewegung bedroht fühlen und zustechen würde. Unbeweglichkeit könnte ihn tatsächlich dazu verleiten, sie für einen Teil der Landschaft zu halten.

      Mit eingerolltem und wie ein Lasso über ihrem Kopf baumelnden Schwanz schob sich die lästige schwarzgepanzerte Kreatur langsam nach oben, überquerte Sarahs Bauch und erreichte schließlich ihren nackten Hals. Die Haare standen ihr zu Berge, als sie zuerst seine Scheren über ihre Haut streifen, und dann seine acht haarigen Beine, eins nach dem anderen, über ihren Hals schreiten spürte. Ein Stich in die Halsschlagader wäre tödlich.

      Sie wägte ihre Möglichkeiten ab. Sie könnte ihn mit einer schnellen Bewegung wegschnipsen, die sie mit Sicherheit ihre Balance verlieren und den Abhang hinunterfallen ließe, oder sie könnte nichts tun und hoffen, dass sich das auszahlen würde.

      Obwohl es ihr vor der Aussicht darauf graute, eine tödliche Dosis neurotoxischen Gifts injiziert zu bekommen, bewahrte sie Ruhe. Was sie jedoch nicht kontrollieren konnte, war der Schweiß, der an ihrem Haaransatz entlangrann und den Konturen ihres Gesichts bis hin zu ihrem Kiefer folgte. Ihr Herz hämmerte doppelt so schnell, während sich die Szene in Zeitlupe abspielte. Ein einzelner Tropfen fiel von ihrem Kinn auf den Kopf des Skorpions.

      Er hob seinen Stachel.

      In dem Sekundenbruchteil, ehe er angreifen konnte, beförderte sie ihn mit einem rückhändigen Fingerschnippen von ihrem Körper. Sie hatte keine Zeit nachzusehen, wo er landete, da der Boden unter ihr abbröckelte und sie den steinigen Hang hinunterrutschte. Sie griff nach dem Felsen, um wenigstens einen kleinen Halt zu bekommen, aber die Klippe war zu steil und ihr Fall zu schnell. Ein zerklüftetes Stück Granit riss ihr die Innenseite des linken Arms vom Bizeps bis zur Handinnenfläche auf, doch sie war zu vollgepumpt mit Adrenalin, um Schmerz zu spüren.

      Sie blickte über ihre Schulter, um das Terrain zwischen sich und der felsigen Abbruchkante, die mit nervenaufreibender Geschwindigkeit auf sie zukam, zu sondieren. Sie erspähte den geschwärzten, löchrigen Ast eines uralten Kossobaums, griff danach und schaffte es, ein Büschel Blätter zu erwischen. Die Schwerkraft erlaubte es ihr nicht, ihren Halt zu festigen, doch die Bewegung verlangsamte sie und brachte ihr Zentrum gerade so sehr ins Schleudern, dass es sie auf Kollisionskurs mit der üppigen Astkonstruktion des Baumes brachte.

      Es funktionierte. Ihr Fall war gestoppt, zumindest so weit, dass sie die Kontrolle wiedererlangte. Jetzt konnte sie die Felsen passieren und es in einem


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