DER ZEHNTE HEILIGE. Daphne Niko
davon auf Wangen, Stirn und Lippen des Fremden, und eine weitere auf dessen Brust. Den restlichen Brei legte er in die Hände des Mannes und schloss diese zu leichten Fäusten.
Hairan hob seine eigenen Hände in Ehrerbietung der Mächte zum Himmel. «Ich bin ein einfacher Mann, der nichts weiß», psalmodierte er leise. «Jegliche Weisheit, die mir gewährt wurde, teile ich gerne mit meinem blassen Bruder. Doch ist es nicht an mir, ihn zu retten. Sein Schicksal ist nur dem Großen Geist bekannt, dem Hüter allen Lebens.» Er rollte sich neben dem Fremden auf dem Boden zusammen; dieser würde heute Nacht seine Bettstatt sein, so kalt und ungastlich er auch war. Unbequemlichkeiten schreckten den Beduinen nicht. Sie waren genauso ein Teil des Daseins in der Wüste wie die brennende Sonne, oder eines Kamels fauler Atem, oder die endlose Weite von den letzten Strahlen des Tageslichts vergoldeter Dünen. Hairan beobachtete den Mann, der dort um sein irdisches Leben kämpfend lag. Mit seiner spitzwinkligen Nase, seinen blassrosa Lippen und seiner unpigmentierten Haut war er weder ein Beduine noch überhaupt ein Araber und auch kein Jude. Taneva trat mit einem Glas warmer Ziegenmilch ein. «Wird er überleben?»
Der Stammesführer schüttelte den Kopf. «Dessen kann ich nicht sicher sein.»
«Ist er einer der Wilden aus dem Osten, Sheikh?»
«Womöglich. Oder vielleicht ist er ein Händler von der anderen Seite des Roten Meeres. Es gibt keinen Grund, solche Fragen zu stellen. Alle Dinge werden offenbart, wenn es Zeit ist und wenn wir bereit sind.»
«Du bist ein weiser Mann, Hairan. Ein großherziger Mann.»
«Ich tue nur, was von mir verlangt wird. Wir alle sind gleich und wir leben, um einander zu dienen.»
Taneva warf Hairan ihre alte Decke über und strich im sanft durchs Haar; eine seltene Zurschaustellung von Zuneigung. Vor den anderen Familien waren er der Sheikh und sie eine alte Frau. Nur wenn sie alleine waren, war sie seine Mutter. «Dein Vater wäre stolz. Gute Nacht, mein Sohn.»
***
Der Fremde öffnete seine Augen am Morgen des siebten Tages. Der Schleier der Bewusstlosigkeit wog noch schwer auf seinen Lidern und sein Körper schmerzte so sehr, dass er nichts weiter tun konnte, als stillzuliegen.
Er betrachtete seine Umgebung mit der Benommenheit eines langen Schlummers, wie ein aus dem Winterschlaf erwachter Bär. Die Wände waren aus dickem Sackleinen, das Dach aufrecht gehalten von einem Baumstamm in der Mitte des Raumes. Es gab keinen Fußboden; er lag auf über den Sand gebreiteten Decken. In der hinteren Ecke stand eine kleine aus Holz geschnitzte Bank, auf welcher Steinwerkzeuge lagen. Neben seiner Schlafstatt befand sich ein Tontopf, feuergeschwärzt, und ein Stapel schmutziger Gaze. Seine Decken waren aus Wolle und so schwer, dass er nicht die Kraft besaß, um sie anzuheben, aber sie waren schön, offensichtlich von der Hand eines Künstlers gewoben, mit Bildern von Sternen und Skorpionen und allsehenden Augen in Indigo, Safran und Purpur.
Trotz seines Bemühens, das Gesehene zu ordnen, verarbeite sein Gehirn es nicht. Die Bilder waren ihm nicht vertraut. Er wusste, dass er im Inneren eines Zeltes war, doch wessen Zelt? Wo? War er in Gefahr? Und wie war er hierhergekommen? Sein Kopf schmerzte bei dem Versuch, sich an die Umstände zu erinnern, die ihn an diesen Ort geführt hatten. Er konnte es nicht. Gerade blickte er sich entmutigt um, auf der dringenden Suche nach einem Hinweis, um seine Erinnerung anzufachen, als ein Mann sich hereinduckte.
Dieser nickte ihm zu, sagte aber nichts. Ein schmales Lächeln überflog seine wettergegerbten Lippen und sein Gesicht verzerrte sich, um ein Netzwerk von Falten zu enthüllen.
«Wer bist du?», krächzte der Fremde auf Englisch. «Was für ein Ort ist das? Warum bin ich hier?»
Der Mann sagte etwas in einer unverständlichen Sprache, tauchte Gaze in Flüssigkeit, und wischte ihm über die Stirn.
Er begann zurückzuweichen, es mangelte ihm jedoch an Kraft, um sich zur Wehr zu setzen.
Der Mann reichte ihm einen kleinen Tontopf, deutete auf seine eigenen Lippen und sprach dann wieder.
Noch immer verwirrt wandte der Fremde seinen Kopf ab. «Lass mich in Ruhe, alter Mann. Geh und kümmere dich um deine Ziegen oder so etwas.»
Der Mann schlüpfte stumm aus dem Zelt.
Mit geschlossenen Augen versuchte der Fremde, eine Erinnerung heraufzubeschwören. Wahllose Bilder rasten durch seinen Verstand und es war unmöglich, aus ihnen schlau zu werden. Er sah Gesichter – Gesichter, die er nicht erkannte, deren Züge von der grausamen Hand des Gedächtnisses ausgelöscht waren. Metallische Stimmen dröhnten in seinem Kopf, verspotteten ihn mit ihrer unheimlichen Tonhöhe. Zuerst sah er Dunkelheit, dann ein grelles, orangefarbenes Licht, gestaltlos und stürmisch wie Feuer. Das Bild ließ sein Blut gefrieren. Die Stimme einer Frau erhob sich hinter der Dunkelheit. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber sie klang ruhig und tröstlich. Sie sagte ein einzelnes Wort: Gabriel.
Er wusste mit aller Bestimmtheit, dass dieser Name sein eigener war, doch seine Erinnerung betrog ihn um alles andere. Kein Maß an Anstrengung brachte die Rückbesinnung darauf, wer und was Gabriel gewesen war.
Zwei
Zur Mittagsstunde brannte die subsaharische Sonne die Erde zu feinem Pulver. Der Boden war brüchig und trocken wie altes Pergament. Jedes Mal, wenn eine Schaufel sich knirschend in die Erde bohrte, stieg der Staub in großen Wirbeln auf und hing in der Luft. Sarah Weston machte eine Pause vom Graben und wischte sich Schmutz und Schweiß von ihrer Stirn. Sie war erschöpft, da sie seit dem Morgengrauen gearbeitet hatte, so wie sie es jeden Tag in den letzten fünf Monaten getan hatte, um etwas – irgendetwas – zu finden, das ihre Theorie bestätigte, unter der heißen Erde und dem Granit läge eine königliche Totenstatt, wie sie ihresgleichen kein Archäologe in diesem Teil der Welt je unberührt vorgefunden hatte.
Aksum. Jenes äthiopische Großreich, welches vor Jahrhunderten das einflussreichste Königreich in Ostafrika und Arabien gewesen war. Das sagenumwobene Ahnenland der Königin von Saba. Die Heimat von Herrschern und mächtigen Kriegern und unermesslichen Reichtums, alles begraben in weitläufigen Labyrinthen unterhalb der zerbrochenen Stelen, welche wie stumme, immerwährende Soldaten an den Ausläufern des Sankt-Georgs-Bergs standen.
Sarah glich ihre Koordinaten mit der Anzeige des Georadars ab. «Hier muss es sein.» Sie grub ihre Schaufel in die Erde.
Diese Routine war ihr nicht neu. Als Archäologin der Universität von Cambridge war sie auf Expeditionen rund um die Welt gesandt worden, von den Grabmälern Ägyptens zu den Dschungeln Guatemalas. Bei der Arbeit vor Ort würde niemand jemals vermuten, dass sie eine Aristokratin war; die einzige Tochter eines britischen Baronets und einer amerikanischen Schauspielerin, die genauso berühmt für ihre Schönheit gewesen war, wie auch für ihren Hang zu Wodka und Valium, die ihr Leben gefordert hatten.
Ungeachtet des allbekannten Namens Weston hütete Sarah ihr Privatleben und unternahm große Anstrengungen, um ihrer Crew gleichzustehen. Sie war die Erste, die vor Sonnenaufgang ihre Ärmel aufrollte, und die Letzte, die ihre Spitzhacke nächtens aufhing.
Sie sah kein bisschen wie die Debütantinnen aus, mit denen sie aufgewachsen war. Sie versuchte nicht, ihre herabfallenden blonden Locken zu bändigen; stattdessen steckte sie ihre Haare unter billige Bandanas, die sie von Straßenhändlern kaufte. Ihre Figur, so schlank und geschmeidig wie die eines Windhundes, versteckte sie unter ausgebeulten, abgetragenen Khakihosen und ausgefransten T-Shirts von Marks & Spencer. Ihre Augen hatten die Klarheit und Farbe von Gletschereis, doch niemand konnte das wissen, da sie die große schwarze Fliegersonnenbrille selten absetzte, die sie seit ihrem Aufbaustudium besaß. Sie gab sich auch keine besondere Mühe, die dunklen Halbmonde von den Spitzen ihrer Fingernägel zu entfernen. Der «vornehme Schmutz», wie sie ihn nannte, erinnerte sie an ihre Verbindung zur Erde und zu den Menschen, die vor ihrer Zeit darauf gewandelt waren.
Sie arbeitete an der Ausgrabung mit wie jeder andere, obwohl sie die Expedition leitete – zum ersten Mal in ihren fünfunddreißig Lebensjahren hatte sie diese begehrte Chance erhalten. Sie wusste es besser, als sich aufs hohe Ross zu setzen; es war zu einfach, herunterzufallen