DER ZEHNTE HEILIGE. Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE - Daphne Niko


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schläft, um der gnadenlosen Hitze zu entfliehen, kehren die Männer zum Weideland zurück und die Frauen finden sich in Runden zusammen, um zu tratschen, zu kichern und zu singen, während sie die Mitgiften ihrer Töchter weben. Weberei und Stickerei sind im genetischen Code beduinischer Frauen verankert, so sehr sogar, dass es für stolze Väter üblich ist kundzutun, dass ihre Töchter mit Nadel und Faden in der Hand geboren wurden. Händler bieten ausgefallene Perlen, Säcke voller Pfeffer, Gewürze und Amulette aus Elfenbein zum Tausch für die Webereien an, doch die Beduinenfrauen lehnen ab – nicht, weil sie sich nicht von ihren Meisterwerken trennen können, sondern weil sie einem nützlichen Zweck dienen, wie zum Beispiel dem, die Unterkünfte der Männer von denen der Frauen abzutrennen, oder die Kinder in eisigen Winternächten warmzuhalten.

      Abende sind in der Wüste etwas Besonderes, eine Zeit für die Goums, um das Überleben eines weiteren Tages in diesem ungastlichen Land voller Gefahren und Entbehrungen und unaufhörlicher Einsamkeit zu feiern. Die Männer und die Alten, Frauen und Kinder nehmen ihren Platz im Kreis um das Feuer herum ein und sprechen mit ihrem Nebenmann über nichts Wesentliches, bis einer der jüngeren Männer die Festlichkeit einleitet, indem er auf eine Trommel aus Ziegenhaut schlägt oder die Saiten der Rebab zupft. Die anderen fallen einzeln ein. Der Flötenspieler bläst in eine Tonpfeife und lässt den fröhlichen, einfachen Singsang des Viehhirten erklingen. Die alten Männer steuern zum Rhythmus bei, indem sie kleine Fässer aus getrockneter Ziegenhaut schütteln, die mit Kernen oder Samen von Datteln gefüllt sind. Die Frauen sind die Sänger der Gruppe. Sie sitzen zusammen und singen von den Jahreszeiten oder den Ereignissen des Tages oder von Liebe. Ihre melancholischen, hohen Stimmen durchbohren die Stille der Nacht, wie einer Tigerin Klauen das Fleisch ihrer Beute reißen.

      ***

      Gabriel wartete, bis die blutrote Tinte getrocknet war, ehe er die Bahn aus Ziegenhaut beiseitelegte, die man ihm als Geschenk dargereicht hatte, als er aus dem Zelt des Heilers herausgetreten war. Sie war ein Symbol neuen Lebens, eine Gabe, die für die Erneuerung des Fleisches stand. Er war viele Monde lang beim Stamm gewesen, zu viele, um sie zu zählen, und hatte den Großteil seiner Zeit in Abgeschiedenheit verbracht, hatte beobachtet und geschrieben. Er wusste nichts über die Wüste, den Himmel oder diese Menschen, die sich Nacht für Nacht ums Feuer drängten, sodass ihre Gesichter in der Schwärze kupferfarben leuchteten. Er führte ein Tagebuch in Englisch, der einzigen Sprache, die er kannte, in der Hoffnung, dass die Aufzeichnungen seiner Eindrücke ihm helfen würden, ein Verständnis für diesen Ort zu entwickeln.

      Das hatte es. Was als Ungeduld und Intoleranz gegenüber einer ihm völlig unbekannten Kultur begonnen hatte, war zu einer Art Mitempfindens geworden. Die Nomaden ließen ihn in Ruhe, behandelten ihn jedoch nie wie einen Außenseiter. Er war jederzeit willkommen, sich zu beteiligen oder nicht, und heute Nacht war das nicht anders.

      Er spürte eine Hand auf seiner Schulter.

      Hairan deutete auf den Feuerkreis, während er sprach.

      Gabriel musste die Sprache nicht kennen, um zu verstehen, dass der alte Mann von ihm wünschte, der Feier beizuwohnen. Er zögerte. «Danke», sagte er und winkte ab. «Ich glaube nicht, dass ich dazu bereit bin. Vielleicht in einer anderen Nacht.»

      Hairan nickte, aber die Kinder konnten mit solchen Höflichkeiten nichts anfangen. Von der Einladung des Stammesführers ermutigt, erhoben sie sich vom Lagerfeuer und versammelten sich um den Fremden. Kichernd beäugten sie seine langen, bleichen Finger, sein fahlblondes Haar, verknotet und drahtig von Trockenheit und Vernachlässigung, und den wilden rötlichen Bart, der die milchig weiße Haut seines Gesichts von den Wangenknochen abwärts bedeckte und ihm die schroffe Gestalt eines alten Mannes verlieh. Während die Jungen sich um Gabriel herum hinknieten und seine Gewänder anhoben, um zu sehen, welche ungewöhnlichen Merkmale darunter lauerten, flüsterten sie einander ihre Neugier zu. Einer nahm Gabriels Hand und zog ihn zur Gruppe. Die anderen Kinder schlossen sich an und drückten ihre Begeisterung durch Gelächter aus, sodass er letztlich keine andere Wahl hatte, als die Gastfreundschaft seiner Gastgeber anzunehmen.

      Die Kinder führten Gabriel zu den jungen Männern des Stammes, und während er verlegen zur Begrüßung nickte, nahm er seinen Platz zwischen ihnen ein. Er wickelte seine Wolldecke um seinen Körper, um die Kühle abzuwehren, und bemühte sich darum, mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Es war unmöglich. Jeder war sich seiner Gegenwart bewusst. Er wusste, dass er diesen Menschen ebenso fremd war, wie sie ihm. Sie alle starrten, nicht in drohender Manier, sondern ihn studierend, als ob dem Subjekt anhaltend ausgesetzt zu sein, ihnen seine Natur zu verstehen helfe.

      Gabriel vermied es, ihnen in die Augen zu sehen, und starrte stattdessen in den Bauch des Feuers. Die Beduinen fühlten sich möglicherweise nicht von ihm bedroht, aber er war sich nicht sicher, ob er genauso von ihnen empfand.

      Was hatte ihn in die Mitte dieser Menschen verschlagen? Er kämpfte darum, sich an sein bisheriges Leben zu erinnern, vermochte es aber nicht. Die Erinnerung war ein Scharlatan, der ihn um etwas so Grundlegendes wie seine eigene Identität betrog. Es war, als hätte sein Leben in der Nacht begonnen, in welcher er – schwach an der Lebendigkeit hängend – in Hairans Zelt erwacht war. Alles davor war ein Geheimnis, dessen Schleier noch gelüftet werden musste.

      Er starrte ins Feuer und versuchte sich zu konzentrieren. Was ihm in den Sinn kam, war dasselbe konfuse Durcheinander: Gesichter ohne Namen, unbekannte Orte, Bilder, die gleich der Flut seiner Träume heranströmten und wieder verebbten. Die schrille Stimme einer a cappella singenden Frau unterbrach seine wirren Gedanken. Sie war eine vortreffliche Sängerin; ihre Stimme hob und senkte sich, hallte in ihrer Kehle wider und floss traumverloren im Raum zwischen Realität und Illusion dahin. Alle waren regungslos, im Bann der Chanteuse, als wäre außer ihrem Lied nichts von Bedeutung.

      Gabriel war von der Verehrung der Anmut überrascht, die diese Menschen, welche er als Philister abgetan hatte, zur Schau stellten. Eine Welle der Scham rollte über ihn hinweg.

      Die Hymne des Singvogels war der Auftakt für einen ganzen Abend voller Tanz und Gesang. Die Musiker spielten mit einer Leidenschaft, die üblicherweise großen Ereignissen vorbehalten war, solchen wie dem Übergang zum Frühling oder einer Geburt von Mensch oder Tier. Die Instrumente klagten unter unaufhörlichem Klopfen, Zupfen und Blasen.

      Die Frauen knieten sich vor die Männer und gossen Wein aus Ziegenlederblasen in kleine Tonbecher. Taneva, die Älteste des Weibsvolks, verbeugte sich vor Gabriel und goss Wein in seinen Becher. Die alte Frau sah ihn mit den liebevollen Augen einer Mutter an und lächelte so breit, dass sie die vier Zähne enthüllte, die sich wie Stalaktiten an ihr purpurnes Zahnfleisch klammerten.

      Gabriel hatte keine Ahnung, wer sie war, oder dass sie ihn aus dem ewigen Sand ausgegraben hatte. Er trank. Die Flüssigkeit schmeckte wie Essig, sauer und scharf, doch er hatte großen Durst und so schluckte er sie hinunter. Er bemerkte nicht, dass er beobachtet wurde, bis die jungen Männer um ihn herum anerkennend johlten, als er den Becher umstülpte. Der Nachgeschmack schüttelte ihn.

      Zwei der jungen Männer zogen Gabriel auf die Füße und – trotz seines Protests – auf die Mitte des Kreises zu. Zum fröhlichen Rhythmus eines bukolischen Flötenliedes stampften die Männer, wiegten sich hin und her und winkten mit den Armen gen Himmel, während sie eine unverständliche Kadenz skandierten. Als sich ausgelassenes Gelächter und gutmütige Rufe aus der Menge erhoben, stießen sie ihn an, damit auch er sich bewegte. Er hatte keine andere Wahl, als sich zu amüsieren und die anderen sich über ihn amüsieren zu lassen. Er tat sein Bestes, um die Bewegungen der anderen Männer zu imitieren, doch es mangelte ihm an der rechten Anmut, um einen Tanz zu einer unbekannten Weise zu improvisieren. Es hatte ohnehin keine große Bedeutung für ihn oder sonst jemanden. Der Gedanke dahinter war es, sich am Augenblick zu erfreuen. Schließlich ließ er seine Hemmungen fallen und erlaubte es der Musik, seine Füße zu führen, während er versonnen die fremdartige und wunderschöne Szenerie um sich herum betrachtete.

      Die Kinder schliefen beim Feuer. Die Sterne – so viele Sterne – bebten wie Tänzer auf einem Drahtseil über einem schwarzen Abgrund. Gabriel tanzte, bis der Rauch des schwindenden Feuers in seinen Augen brannte; dies war sein Zeichen, aufzuhören.

      ***

      Als


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