Musterbrecher. Dominik Hammer

Musterbrecher - Dominik Hammer


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der Erkenntnis, dass Kollektive nicht als Ganzes zur Entwicklung bahnbrechender Ideen fähig sind, erfreuen sich die Methoden, die uns das Gegenteil suggerieren, bis heute großer Beliebtheit.

      Egal ob wir von Schwärmen oder Großgruppen sprechen, es geht immer auch um die Teilhabe an der Schaffung und Bewertung von (neuen) Realitäten im Sinne einer Enthierarchisierung und Demokratisierung ursprünglich elitär geführter Diskurse. Damit wird automatisch die Machtfrage neu gestellt. Im Kern geht es bei der altbekannten Gruppenarbeit in der Automobilindustrie oder in modernen Scrum-Teams der agilen Arbeitswelt wie auch bei internetbasierten »Liquid-Democracy«-Experimenten stets um das Bemühen, viele Menschen an der Ausgestaltung von Strukturen und Prozessen teilhaben zu lassen – ein Ansatz, der in der Politikwissenschaft als Deliberation bezeichnet wird. Demokratie ist, politisch betrachtet, ohne die Weisheit der vielen nicht zu denken.

      Allerdings kann der »Strudel der Masse« auch dazu führen, dass demokratische Grundprinzipien wie der der Schutz von Minderheiten oder die Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen angetastet werden. Wenn paradoxerweise durch die Einbeziehung von Vielfalt genau diese zerstört wird und der Mainstream die Herrschaft übernimmt, kann von kollektiver Intelligenz nicht mehr die Rede sein. Die stets geforderte Innovationskraft ist dann gefährdet oder wird sogar verhindert – ein Phänomen, das wir gerade in den sozialen Medien beobachten. Diese bieten zunächst ein urdemokratisches Forum, auf dem jeder zu Wort kommen, jeder gehört werden kann. Menschen aus der ganzen Welt begegnen sich und nehmen an einer besonderen Form der Kommunikation teil. Doch dieser kollektive Raum ermöglicht unter dem Schutz der Anonymität auch Hetze und Verschwörung mit tätlicher Gewalt als möglicher Folge und Formen eines Gegeneinanders, das im direkten Austausch so eher nicht erreicht würde. Es kann eine das soziale Gefüge gefährdende Direktheit durchbrechen, die ungeahnte Probleme für die Gesellschaft, also das Kollektiv, erzeugt. Und die Selbstvermarktung – mit der sich die eingangs erwähnte Susan Cain kritisch auseinandersetzt – erhält hier eine noch bedeutendere Rolle als in der realen Welt.

      Wenn wir die im Kollektiv vorhandene positive Kraft nicht verlieren wollen, müssen wir Räume schaffen auch für die Darlegung von still entwickelten Ideen Einzelner – selbst wenn sie nicht der Logik der gewieften Selbstvermarktung entsprechen.

      Trotz anderslautender Versprechen ist die digitale Welt nur bedingt dafür geeignet, im Kollektiv starke Ideen entstehen zu lassen, wie das folgende Beispiel zeigt.

      Als wir uns das erste Mal 2013 in der Schwabinger »Bar Giornale« trafen, erzählte uns Frank Roebers, Vorstandsvorsitzender der Synaxon AG, von einem Werkzeug namens Liquid Feedback (LQFB), das im Jahr zuvor in seiner Firma eingeführt wurde. Genau genommen ging es nicht um ein Werkzeug, sondern um Kulturarbeit, die mit einem durchdachten Instrument in Gang gesetzt werden sollte. Roebers und seine Kollegen in der Führung wollten einen entscheidenden Schritt in Richtung strategische Beteiligung der Mitarbeitenden und Demokratisierung von Entscheidungen gehen, da Initiativen bei entsprechender Mehrheit auch dann umgesetzt werden sollten, wenn der Vorstand gegen sie war. Im Ergebnis wurde das Unternehmen durch das Software-Tool LQFB, das als Experiment gestartet wurde, entscheidend vorangebracht. Die Arbeit mit LQFB lieferte viele Erkenntnisse und beeinflusste die Kultur maßgeblich – bevor die Plattform schließlich nach sieben Jahren nicht mehr benötigt und 2019 abgeschaltet wurde.

      Was war der Auslöser für die Einführung dieses Instruments? »Vor ein paar Jahren haben meine Kollegen aus der Geschäftsleitung und ich mit viel Mühe ein neues Leitbild geschrieben«, so Roebers bei unserem Treffen. »Während des Prozesses, über den wir die Mitarbeiter stets informierten, erhielten wir eine Rückmeldung, die erfreulich und ernüchternd zugleich war. 85 bis 90 Prozent der Kolleginnen und Kollegen fanden sich in dem Leitbild wieder, waren also der Meinung, dass geschriebener Text und reales Erleben irgendwie zusammengingen.« Es passte zu dem Westfalen Roebers, dass er den Rest der Rückmeldungen ungeschönt darstellte: »Dummerweise mussten wir akzeptieren, dass zehn bis 15 Prozent der Mitarbeiter offenbar in einem ganz anderen Unternehmen arbeiten als der Rest. Die Kultur, die wir gerade so nett im Leitbild beschrieben hatten, existierte für diesen Teil der Belegschaft überhaupt nicht. In der Geschäftsleitung diskutierten wir daraufhin intensiv, wie wir mit dieser Erkenntnis umgehen sollten.«

      An dieser Stelle des Gesprächs von 2013 gingen wir insgeheim im Kopf unsere Kunden und Forschungspartner durch. Andere Unternehmen, so unsere Überzeugung, kämen vermutlich gar nicht auf die Idee, über eine derartige Diagnose weiter nachzudenken. Wo sollte auch das Problem liegen, wenn man nur etwas mehr als ein Zehntel der Menschen verloren hat? Doch das Führungsteam der Synaxon AG, der inzwischen größten IT-Verbundgruppe Europas mit mittlerweile 210 Angestellten, 3800 Verbundpartnern und über drei Milliarden Euro Außenumsatz, wollte sich auch mit vergleichsweise geringen »Verlusten« nicht abfinden und stellte sich zwei entscheidende Fragen: Wie schaffen wir es, dass sich auch diejenigen Kollegen äußern und einbringen, die mit unserer Kultur unzufrieden sind? Und wie gelingt es, dass wir dieses »Outing« unter den Schutz der Anonymität stellen? Während Roebers dies erzählte, wurden wir hellhörig. Wir dachten uns im Stillen: »Wie ernsthaft kann man an einer Kultur arbeiten, wenn der Mut fehlt, Ross und Reiter zu benennen? Lohnt es sich, nach einem Werkzeug zu suchen, wenn die Menschen noch nicht einmal zu einem offenen und persönlichen Austausch in der Lage sind?« Wir verpackten unsere Vorbehalte gegenüber dem in der Online-Welt gängigen Modus der Anonymität in eine moderate Frage, die uns nicht als ewiggestrig-analog erscheinen ließ. Frank Roebers antwortete knapp – und nachvollziehbar: »Es ist ein schöner Gedanke, dass man – wäre die Kultur ideal – gar kein Tool bräuchte. Aber es ist wohl ein bisschen viel verlangt, alle Konflikte offen auszutragen. Vor allem dann, wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter davon ausgehen kann, dass die Führungskraft einen Sachverhalt anders einschätzt als sie oder er.«

      Das LQFB wurde wie folgt umgesetzt: Wann immer ein Synaxon-Mitarbeiter ein Anliegen positionieren wollte, konnte es im Liquid-Feedback-System beschrieben werden – ohne Nennung des Namens. Wichtig war nun, für diese Initiative Unterstützung von anderen im Unternehmen zu erhalten. Denn damit eine Initiative überhaupt zur Abstimmung gelangen konnte, musste sie von zehn Prozent derjenigen Kolleginnen und Kollegen, die sich für ein Themenfeld angemeldet hatten, befürwortet werden. Diese Hürde sei ganz bewusst eingebaut worden, damit das Unternehmen von einer Unzahl von Initiativen verschont bleibe, so Frank Roebers damals. »Sie können sich vorstellen, dass es bei den Initiativen dicke und dünne Bretter gibt. Je nachdem, wie dick ein Brett, wie anspruchsvoll also ein Thema ist, geben wir kürzere oder längere Bedenk- und Diskussionszeit. Das hat sich bewährt.«

      Für die Abstimmung galt dann: Alle Initiativen mit einfacher Mehrheit sollten umgesetzt werden. »Wir haben uns als Unternehmensleitung dazu verpflichtet, erfolgreiche Initiativen konsequent umzusetzen. Einige fand ich persönlich absolut sinnlos«, so Roebers. »Aber ich bin Bestandteil dieses Systems und würde beim LQFB nur dann von meinem Vetorecht Gebrauch machen, wenn Synaxon als Ganzes gefährdet wäre. Insofern schreite ich nur in Ausnahmefällen ein. Ich muss und will mit der Demokratie leben.« Der Mut, den Frank Roebers und die anderen Vorstände hatten, beeindruckte uns.

      Nach sieben Jahren stellte sich heraus, dass eine Software, die Anonymität garantierte, nicht mehr benötigt wurde. Der CEO sagt heute: »In den ersten vier Monaten waren wir mit LQFB schwach gestartet, dann konnten wir vier Jahre ganz herausragende Ergebnisse erzielen und seit drei Jahren benötigen wir das Tool nicht mehr.« In der Anfangszeit war die Beteiligung nicht sonderlich groß. Man vermutete, dass es damals an einer unzureichenden Nutzerführung der Software lag. Auch die Qualität der ersten Vorschläge enttäuschte: So wurde etwa die Anschaffung eines Firmenfahrrads und eines Getränkeautomaten vorgeschlagen. Mit der Zeit besserte man die Software nach, und die Vorschläge wurden mutiger. »Die Mitarbeitenden hatten wirklich bahnbrechende Ideen. Es wurden uns gewünschte Karriereoptionen aufgezeigt, neue Modelle bezüglich Arbeitszeit und Arbeitsort wurden entwickelt. Die Geschäftsleitung wurde bei Personalentscheidungen kritisiert und Gegenvorschläge wurden gemacht. Außerdem konnten wir immer gleich nachvollziehen, wie groß die Zustimmung für diese Initiativen in der Belegschaft war, denn das bildete ja das System ab«, sagt Roebers. »Mittlerweile brauchen wir den Umweg über LQFB nicht mehr. Die Kolleginnen und Kollegen schreiben ihre Vorschläge direkt ins Wiki oder melden sich mit ihren Anliegen bei der


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