Musterbrecher. Dominik Hammer

Musterbrecher - Dominik Hammer


Скачать книгу
können. Darum haben wir die Software mittlerweile abgestellt. Und zwar mit mehrheitlicher Zustimmung der Mitarbeiter. Wir hatten vorstandsseitig diesbezüglich eine LQFB-Initiative gestartet, die eine Mehrheit fand. Und zwar schlicht deswegen, weil die Aktivitäten komplett erlahmt waren. Es gab einfach keinen Bedarf mehr an Anonymität im Entscheidungsprozess.« Wir werfen in das Gespräch ein, dass das ja ein sehr gutes Zeichen sei. Roebers antwortet mit einem knappen »Ja« und fährt fort: »Was ich auch gemerkt habe: Je schlechter es uns wirtschaftlich ging, desto mehr wurde die Möglichkeit genutzt, anonym Initiativen zu starten. Je besser es uns ging, desto weniger Initiativen wurden gestartet. Ich weiß noch nicht, wie ich das einordnen muss. Sollte irgendwann wieder der Wunsch nach Anonymität bestehen, dann können die Mitarbeitenden, die diesen Bedarf sehen, sich einfach an die Vertrauensperson wenden, dann wird das System wieder eingeführt. Es wird dafür auch keine Mehrheit mehr benötigt.« Roebers macht eine kurze Pause und fährt dann fort: »Im Gegensatz zum LQFB nutzen wir unser Wiki immer noch sehr intensiv.«

      Vor der Einführung von Liquid Feedback gab es bereits – und gibt es seit nun 13 Jahren – ein Synaxon-Wiki, das alle Prozesse und Zuständigkeiten des Unternehmens enthält, also das gesamte Firmenwissen. Jeder Mitarbeiter hat das Recht, Änderungen vorzunehmen, also beispielsweise den Einkaufsprozess neu zu strukturieren. »Seit der Einführung 2007 gab es über 500 000 Änderungen. Es war kein einziger Missbrauch dabei«, betonte Roebers bereits bei unserem ersten Treffen in Schwabing durchaus mit etwas Stolz. Nach nun weiteren sieben Jahren sind nochmals 200 000 Änderungen dazugekommen. Der Missbrauch blieb konstant bei Null. Dann erzählt er uns: »Was euch vielleicht interessieren könnte, in ein paar Monaten löschen wir das gesamte Wiki wieder.« Wir müssen kurz schlucken und fragen uns, warum das? Es müssten doch alle Prozesse optimal sein. »Wir fangen komplett neu auf einem weißen Blatt Papier an. Alle müssen mitentscheiden, was von dem alten Wissen rübertransportiert wird. Wir haben mittlerweile über 80 000 Artikel im Wiki und wollen nicht den gleichen Fehler machen wie die EU und uns überreglementieren, weil wir nicht in der Lage sind, alte Regeln zu löschen – entweder weil wir sie vergessen haben, oder weil sich keiner traut, sich davon zu trennen. Aktivitäten, mit denen wir experimentiert haben, wie zum Beispiel ›Löschtage‹ oder Ähnliches haben sich nicht als sinnvoll erwiesen. Also haben wir gesagt, wir schmeißen eine Bombe rein und fangen von vorne an. Und wer etwas retten will, der muss sich die Mühe machen, die Inhalte rüberzuschaffen. Vor 13 Jahren, als wir mit dem Wiki begonnen haben, sind wir von 120 000 Artikeln auf 4000 runtergekommen. Darum erwarte ich, dass wir dieses Mal von 80 000 auf 3000 kommen.«

      Wir finden den Mut spannend, mit dem Roebers immer wieder Neues ausprobiert, sind aber erleichtert, als wir hören, dass für die wirklich wichtigen Themen die klassischen Gespräche von Angesicht zu Angesicht dringend benötigt werden. Die analoge Welt hat sich einen Teil der digitalen wieder zurückerobert.

      Der Frage, ob er nach vielen Jahren agilen Arbeitens in der digitalen Welt auch glaube, dass echte Führung gerade in diesen Zeiten viel analoger denken müsste, stimmt Roebers sofort zu. »Digitale Systeme haben unser Arbeiten als Führungskräfte massiv erleichtert. Aufgrund von sehr guten Videokonferenz- und Instant-Messaging-Diensten haben wir zum Beispiel bedeutend mehr Zeit, einfach weil wir nicht mehr so viel reisen müssen.« Im agilen Projektmanagement habe man sogar einen Quantensprung gemacht. Es sei aber nie die Technik selbst, sondern es hänge auch hier davon ab, wie man im analogen Leben unterwegs sei. Wer gut organisiert sei, der profitiere massiv; wer nicht, verliere sich in der digitalen Welt.

      Roebers bringt es abschließend auf den Punkt: »Durch die Effizienzsteigerung aufgrund der digitalen Möglichkeiten habe ich für die essenziellen Themen mehr Zeit. Darum ist tatsächlich die Hauptlast in meinem Führungsalltag ›analoger‹ geworden.«

      Was bedeuten die gewonnenen Erkenntnisse für die zeitgemäße Ausgestaltung der Führungsaufgabe? Sie wird zweifellos schwieriger und intensiver – und sie sollte ganz in Roebers’ Sinne »analoger« werden. Die Beziehung der Führungskraft zum Mitarbeitenden, zu seinen Ideen, aber auch zu seinen Problemen, rückt in den Vordergrund und kann maximal digital unterstützt, niemals aber durch Digitalität ersetzt werden.

      In allen Fällen geht es darum, das unterschiedliche Naturell von Menschen zunächst einmal anzunehmen.

      Zudem sollte Führung sich der Nebenwirkungen moderner Großgruppenveranstaltungen – sowohl in analogen als auch digitalen Varianten – bewusst werden und den Mut besitzen, bei der Wahl des passenden Settings gesundes Augenmaß walten zu lassen.

      •Musterbrecher nutzen die Analyse- und Bewertungskraft von Kollektiven. Sie haben eine genaue Vorstellung von den Möglichkeiten und Grenzen des Schwarms.

      •Musterbrecher zerren stille Genies nicht ins Rampenlicht. Sie drängen die Lauten aber auch nicht in den Schatten.

      •Musterbrecher involvieren nicht pro forma. Wenn sie sich dazu entschließen, das Kollektiv mitbestimmen zu lassen, dann ohne Netz und doppelten Boden.

      •Musterbrecher verstehen es, die digitale Welt zu nutzen, um dem analogen Denken und Handeln mehr Raum zu geben.

      Anmerkungen

      23 Martenstein, H.: »Der Sog der Masse«, in: Die Zeit, 10.11.2011.

      24 Vgl. Dueck; G.: Schwarmdumm – So blöd sind wir nur gemeinsam, Frankfurt am Main 2015.

      25 Vgl. Cain, S.: Quiet – The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking, New York 2012.

      26 Die Diskussion um die Begriffe »Gruppe«, »Schwarm« und »Kollektiv« war eine Zeit lang in vollem Gange. Gesichert ist, dass sie nicht als Synonyme aufgefasst werden können. Beim Schwarm ist von der Anonymität der Schwarmmitglieder auszugehen. Die Mitglieder einer Gruppe kennen einander, es kommen deshalb bekannte Phänomene wie Gruppendynamik, Rollen- und Machtverteilung zum Tragen. Wenn hier von kollektiver Intelligenz gesprochen wird, gehen wir von der Annahme aus, dass ein Unternehmen auf der Makroebene als Schwarm gelten kann – und gleichzeitig auf der Gruppenebene analysiert werden muss. Insofern bildeten die Teilnehmer unserer Konferenz zu Beginn der Veranstaltung einen Schwarm, später arbeiteten sie in Gruppen.

      27 Vgl. Münker, S.: »›Ideen entstehen nicht durch Schwarmintelligenz‹ – Intellektuelle und das Internet«, Interview in: INDES, Herbst 2011, S. 102.

      28 Vgl. Lorenz, J. et al.: »How social influence can undermine the wisdom of crowd effect«, in: Proceedings in the National Academy of Sciences in the United States of America, Vol. 108, No. 22/2011, S. 9020–9025.

      29 Grams, T.: »Schwarmintelligenz – Herrschaft des Mittelmaßes«, 2012 (PDF-Dokument verfügbar über: http://www2.hs-fulda.de/~grams/hoppla/wordpress/?p=575) [letzter Abruf 01.03.2020].

      30 Martenstein, H.: »Der Sog der Masse«, in: Die Zeit, 10.11.2011.

      31 Vgl. Haun, D./Tomasello, M.: »Conformity to Peer Pressure in Preschool Children«, in: Child Development, 11/12-2011, Vol. 82, No. 6, S. 1765.

      32 Hüther, G.: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Göttingen 2009, S. 53.

      33 Vgl. Stroebe, W./Nijstad , B. A.: »Warum Brainstorming in Gruppen Kreativität vermindert: Eine kognitive Theorie der Leistungsverluste beim Brainstorming«, in: Psychologische Rundschau, Jg. 55, Nr. 1/2004, S. 9.

      34


Скачать книгу