Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen. Carmen Thomas

Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen - Carmen Thomas


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      Es war ein längerer Lernprozess, der mich zu der Erkenntnis führte: Ich kann die Reaktanz-Empfindungen als pointierte Beratung begreifen, sie ernst nehmen und dann in Ruhe ganz gelassen hinsehen und hinhören, was eigentlich genau los ist. Erst mal zulassen statt zumachen führt immer weiter. Abweisen geht ja immer noch und jederzeit.

      Im Zulassen, im Erstmal-neugierig-Sein liegt der erste Schritt zu den anderen Sätzen. Nur wer überhaupt erst mal zulässt, kann danach addieren, verwerten, umnutzen, sich interessieren und fehlerfreundlich sein. Das Zulassen ist der Generalschlüssel zu einer neuen Verhaltens-, Umgangs- und Lösungs-Kultur. Zulassen verhindert zeitfressende Bedenkenträgereien und stoppt fruchtlose Überlegungen, wie’s nicht geht. Außerdem ist Zulassen der Türöffner, um bei Reaktanz-Gefühlen angesichts von Kritik erst mal Ruhe einkehren zu lassen. Und es ist der Grundstein zu der Grundannahme: „Geht nicht gibt’s nicht – es gibt immer mindestens einen Weg.“

      Der Lohn des Zulassen-Lernens ist das schöne Gefühl, mit schwierigen Situationen gelassen, fair und offen umgehen und sogar aus fiesen Situationen noch Nutzen ziehen zu können.

      Der Lohn des Zulassen-Lernens ist das schöne Gefühl, mit schwierigen Situationen gelassen, fair und offen umgehen und sogar aus fiesen Situationen noch Nutzen ziehen zu können. Wie das geht? Beginnt wie immer mit einem ersten Schritt …

      Uff – zulassen? Diesen ersten Schritt musste ich als Anfängerin im Radio erst finden. Nach Abschluss meines Studiums fragte ich den Chefredakteur, welche Chancen es denn wohl für mich zum Weiterentwickeln gäbe. Das brachte ihn auf den glorreichen Einfall, mich ausgerechnet ein Volontariat in der Redaktion machen zu lassen, in der ich bereits seit zwei Jahren als Moderatorin arbeitete.

      Dazu ist wichtig zu wissen, wie tief der Graben zwischen Redaktion und Moderation schon immer war: Das „Schwarze-Peter-Karussell“ lautet(e): „Die Moderation versaubeutelt die tollen Redaktions-Themen auf dem Sender.“ Gekontert mit: „Die Redaktion liefert die doofen Themen, weshalb die Moderation schlecht sein muss.“

      Ich saß also in der Redaktion, als der Oberredakteur des Morgenmagazins zu einem Jüngeren sagte: „Ruf doch mal für morgen früh den XY in New York an.“

      „Wer ist das denn?“, fragte der Kollege.

      „Das ist der stellvertretende UNO-Generalsekretär“, sagte der andere.

      In diesem Moment kam eine Kollegin herein. Moderatorin wie ich, aber etwas älter und schon länger dabei. Der frisch Beauftragte sagte ironiefrei zu ihr: „Rufen Sie doch mal für die Sendung morgen den XY an.“

      „Wer ist das denn?“, fragte die Kollegin ganz normal.

      Und da antwortete der Typ, der vor einer Minute selbst die gleiche Frage gestellt hatte, ungespielt empört: „Waaaas?!?!?! Das wissen Sie nicht? Und dann wollen Sie hier als Moderatorin arbeiten?“ Und das todernst.

      Ich saß wie vom Donner gerührt da. Bis heute schäme ich mich dafür, dass ich feige die Klappe hielt. Und der Schock war so groß, dass ich von Stund’ an vor allem eins tat: zumachen. Also: Reaktanz durch Einschüchterung in Reinkultur. Der Mut, irgendeine Sachfrage zu stellen, war futsch. Denn es kam immer wieder vor, dass der Satz „Waas, das wissen Sie nicht?!?!“ auch in unterschiedlichsten anderen Zusammenhängen zum „Dissen“ benutzt wurde. Aber wie soll wachsen, wer kleingemacht wird?

      Und das war kein Einzelereignis, sondern ein Grundproblem in der Unternehmens-Kultur. Als eine der ersten Moderatorinnen des WDR-Morgenmagazins fand ich mich morgens um 5:00 Uhr im Sender ein. Und wenn ich dann um 9:00 Uhr nach drei Stunden Moderation erschöpft und voller Selbstzweifel aus dem Studio wankte, saß dort der Redakteur, die Füße auf dem Schreibtisch. Und dann legte er los mit der Manöverkritik: „Da hast du wieder nicht ...“ – „Und da hättest du doch ...“ Gelegentlich erledigte er das, was ihm akzeptabel erschien, mit einem Mini-Satz: „Das ging ja, aber …“, und dann kam der Rattenschwanz von Kritik.

      Natürlich ließ ich mir nicht anmerken, dass ich jedes Mal zutiefst getroffen war. Die Kritik konnte ich aber auch nicht auf mir sitzen lassen und erklärte mich daher halb zu Tode. „Das ist nur geschehen, weil …“ - „Und dann hat der ja das und das gemacht …“ - „Das haben Sie missverstanden ...“ – „Das sollten Sie sich noch mal anhören ...“

      Mein ganzes Rechtfertigen und Erläutern, wie es dazu gekommen war und was für Umstände dies und das verhindert hätten, gingen so lange und waren so nervig, dass nach einiger Zeit kein Mensch mehr Lust hatte, mir überhaupt irgendein Feedback zu geben. Wie unendlich schade, wo Kritik und Feedback doch so wertvolle Entwicklungshelfer sein können – allerdings erst dann, wenn alle Beteiligten sich für wirkungsbewusste und Reaktanz senkende Methoden entschieden haben.

      Kritik und Feedback können wertvolle Entwicklungshelfer sein – allerdings erst dann, wenn alle Beteiligten sich für wirkungsbewusste und Reaktanz senkende Methoden entschieden haben.

      Als erste Frau, die eine Sport-Sendung im deutschen TV moderieren durfte, war ich 1973 bei der Samstagabend-Live-Sendung „ZDF-Sportstudio“ verständlicherweise eine wandelnde Reaktanz erzeugende Herausforderung – nicht nur für die Fans und das Publikum, sondern auch für die Kollegen. Bei den Nachgesprächen am Montag nach der jeweiligen Samstagabend-Sendung konnten bis zu 60 Redakteure „zu Gericht sitzen“. So wirkte diese distanzierte Runde in einem Riesen-Konferenzsaal auf mich. Die Rückmeldung verlief als schlicht formloses Ritual, undurchdacht-assoziativ, ohne weiterführende Lern-Punkte. Da es keine klare und respektvolle Feedback-Kultur gab, lag es an mir mit meinem riesigen, eingeschüchterten Reaktanz-Hals, die Rosinen aus den Ansagen herauszupicken.

      Einziger Vorzug: Da meist auch die obere Hierarchie anwesend war, ging es dabei deutlich kultivierter zu als dann 1975 bei der Talkshow „3 nach 9“ in Bremen:

      Ein Jahr war ich als Talkmasterin mit Wolfgang Menge und Karl-Heinz Wocker dabei, anstelle von Marianne Koch. Die Nachgespräche aus dieser Zeit sind mir als „emotionale Hinrichtungen“ in Erinnerung. Komplett etikettefrei wurde aufeinander rumgehackt und nach allen Seiten gnadenlos mit wetteiferndem Sarkasmus ausgeteilt. Alle waren erleichtert, wenn jemand einen frühen Zug oder Flug erreichen musste und das Gemetzel deshalb ausfiel.

      Ich war nie blöde genug, um nicht selbst zu merken, dass vieles nicht gut genug war. Im Gegenteil: Alles und jedes, was suboptimal gelaufen war, stand mir stets überlebensgroß vor Augen und Seele, auch wenn ich das mit kesser Lippe zu überspielen versuchte.

      Das Äußerste, was ich an Zulassen zustande bekam, bestand darin, mit „dickem Hals“ den Mund zu halten und niemanden anzuschauen, um keinen weiteren Streit vom Zaun zu brechen. Ein wahres Eldorado der Reaktanz – insgesamt vor allem blockierend und lähmend und ohne jede Chance zur Kreativität oder zum Dazulernen.

      Bestimmt wäre es ein Anfang gewesen, wenn ich es geschafft hätte, erst mal alles ganz gelassen stehen zu lassen – auch das, was mich traf. Aber das ist ohne Training richtig schwer, vor allem in dem jungen Alter. Da waren doch noch so viel innere Unsicherheit und Selbstzweifel. Das Ganze erinnerte ein bisschen ans Apnoe-Tauchen: Wer einfach die Luft anhält und loslegt, kann ohne richtiges Maß böse enden. Aber mit Methode üben und dann langsam steigern – das bringt Erfolg. Der Weltrekord im Luftanhalten liegt übrigens bei sensationellen 21 Minuten und 33 Sekunden (überraschend: der Weltrekordhalter kommt aus den Schweizer Bergen

) .

      Mein Job zwang mich dazu, mehr über den sinnvollen Umgang mit Feedback zu lernen als andere Menschen. Denn mit gerade mal 21 in so einer hoch begehrten und geachteten Position öffentlich zu werden, das hatte einen Preis, von dem ich anfangs noch nichts ahnte: Es führte zu tausendfachen nicht angeforderten Feedbacks. Per Post kamen Oberlehrer-Korrekturen, Taktlosigkeiten aller Art, Heiratsanträge, Neid-Attacken, ja sogar Morddrohungen bis hin zum damals noch analogen „Shitstorm“ in Form von echt benutztem Klopapier (bezeichnenderweise zu der Sendung zum Thema „Kinder aufklären“).

      Eins war klar: Wenn ich dabei keinen Schaden nehmen wollte, brauchte ich neue Wege, um


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