Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen. Carmen Thomas
lernte ich in einer augenöffnenden Fortbildung bei Ruth Cohn, der Erfinderin der themenzentrierten Interaktion. Daraus wuchsen neue Feedback-Strategien. Die halfen mir schrittweise, beim Zulassen und Auswerten immer besser zu werden. Und als ich später über Jahre Gruppen-Coachings leitete, wurden Reaktanz-Situationen immer klarer erkennbar. Und das machte es immer leichter, sie umnutzen zu lernen, als ich die Sache mit dem Zulassen zu durchschauen begann. Denn das ist schlicht die Voraussetzung zum
Zuhören: Was meint das Gegenüber genau?
Hinhören: Nuancen, die Diktion, die Stimme, Mimik, Gestik, das Äußere bewusster mitbeachten.
Dahinterhören: Was ist die „hidden agenda“, die eigentliche versteckte Botschaft des Gegenübers?
Verwertend hören: Nur auf die Substanz achten und die herausfiltern, statt abzublocken oder wegzuhören.
Ganz ehrlich? Das fiel mir erst mal richtig schwer. Ein wichtiger Lernschritt war, sich niemals mehr zu rechtfertigen und nix mehr zu erklären – egal, was geäußert wurde. Uff – erst mal reaktanzig-herausfordernd. Aber so befreiend. Denn das bedeutete ja auch, anderen weniger Macht über sich zu geben. Jedes Rechtfertigen macht im Grunde vor allem eines deutlich: Touché – aha, hier sind offenkundig dünnhäutige und verletzliche Stellen getroffen.
Zulassen – das Abenteuer beginnt
Die Auswahl der Gäste für Radio und Talkshows verlief in den meisten Redaktionen ebenso quälend mit dauernden Herabsetzungen wie das Feedback. Kreative oder mutige Ideen entwickeln? Kein Gedanke dran. Sofort wurde jeder Einfall zu Tode argumentiert und die Ideengeber gern lächerlich gemacht. Meine Anregung, doch einfach mal das Publikum nach seinen Wünschen bezüglich der Talkgäste zu befragen, wurde bei „3 nach 9“ mit höhnischem Gelächter quittiert: „Denen fallen doch sowieso nur Peter Alexander oder Inge Meisel ein.“
Dabei war ich mir von Anfang an sicher, dass das Publikum ganz eigene und interessante Themen auf der Pfanne hätte. Und wie wunderbar: Ab 1974 hatte ich als Redaktionsleiterin den Beweis dafür und die freie Hand zum Umsetzen. Jetzt konnte ich alles anders machen als zuvor. Und dazu gehörte tatsächlich die Umstellung, die Themenwünsche des Publikums zuzulassen. Damit war die Mitmach-Idee zu „Hallo Ü-Wagen“ geboren: In dieser „Kult-Institution“ – wie sie später so schmeichelhaft betitelt wurde – holte ich von 1974 bis 1994 wöchentlich drei Stunden lang Tausende von Menschen ans Mikrofon des Ü-Wagens, der ambulant an jeweils zum Thema passenden Orten in NRW zu Gast war. Fast 1.000 vom Publikum selbst angeregte politische, kulturelle, Alltags- und Tabu-Themen wurden dabei von geladenen Expert-inn-en und spontan Dazukommenden diskutiert. Zum ersten Mal konnten Millionen von Hörerinnen und Hörern im bevölkerungsreichsten Bundesland sowohl live am Ü-Wagen als auch in zahllosen wöchentlich vorgelesenen Pro-und-Kontra-Briefen ebenso spannend wie informativ ungefiltert von sich aus interaktiv mitmachen.
Was ich damals nicht mal ahnte, war, dass mir die Mitmach-Idee nicht nur die schönsten Lorbeeren und Preise als echte Rundfunk-Innovation einbrachte. Zusätzlich entpuppte sich die Idee als Vehikel zur absoluten journalistischen Freiheit. Von Stund’ an musste ich in keiner Redaktions-Konferenz mehr begründen, warum ich ein Thema interessant fand. Es war ein Publikums-Wunsch, also wurde es zugelassen. Das führte dazu, dass zum ersten Mal über fast drei Stunden Themen im Radio vorkamen, die vorher dort noch gar nicht oder nicht so ausführlich Platz gefunden hatten.
Anfangs dachte ich bei „Hallo Ü-Wagen“ noch selbst: Ich bin mal nett zu diesen einfachen Menschen, indem ich sie auch mal was sagen lasse. Bis ich begriff, dass umgekehrt das Publikum extrem nett zu mir war, dass es mich nicht ein einziges Mal in Hitze, Schnee und Regen hat allein stehen lassen, sondern der Sendung vielmehr zu ihrem unverwechselbaren Image verhalf, hat es eine Weile gedauert.
Das Publikum war es dann auch, das mir ein komplett neues Themenverständnis beigebracht hat. Und diese wöchentlichen neuen Vorbilder schoben im Laufe der Zeit einen Prozess an. Der sorgte dafür, dass immer mehr ebenso alltägliche wie ungewöhnliche Anregungen eingesandt wurden, die mir im Leben nicht eingefallen wären. Der Dreh war, das Politische im Alltäglichen zu erkennen und aufzufalten. Überhaupt der normalen Wirklichkeit in den Medien mehr Raum zu verschaffen. Das gelang nur mit der wachsenden Fähigkeit, aus jedem, wirklich jedem Thema etwas machen zu lernen.
Bei der allerersten „Hallo Ü-Wagen“-Sendung ging es erst mal schlicht mit dem Thema „Nikolaus-Bräuche“ los und mit der Frage, inwieweit das Kinder-Täuschen dabei richtig und oder nur nett für Erwachsene ist, oder ob der Vertrauensbruch folgenreiche negative Auswirkungen auf die arglosen und vertrauensvollen Kleinen haben kann. Diese Sendung war noch meine eigene Idee. Schlicht, weil mein Start am 5.12.1974 stattfand und ich noch auf Tages-Aktualität gedrillt war.
Danach ging es dann dramaturgisch geplant durch Themengebiete, die die Hörer-innen eingesandt hatten: Nacktsein, Vornamen, Hundekot, Karnevalsbräuche, Stillen, Drachenfliegen, Altensport, Adoption ...4 Was die Themen kennzeichnete, war, dass sie weniger auf Pressekonferenzen vorkamen, dafür aber ohne Aufhänger praktisch täglich aktuell waren. Sie brannten Menschen unter den Nägeln. Und das zuzulassen war zu der Zeit eine echte Innovation: die Wirklichkeit im Radio stattfinden lassen.
Schräges zulassen als Motor der Kreativität
Eine besonders hilfreiche Einsicht war, dass es sich lohnt, auch Schräges zuzulassen statt zuzumachen. Ein Praxis-Beispiel: eine Drei-Stunden-Livesendung über den Bleistift. In einer normalen Redaktion wäre selbst ein Drei-Minuten-Beitrag darüber als zu lang abgeschossen worden, nicht nur wegen des Mangels an Tagesaktualität. Denn die Tatsache, dass den Bleistift so viele Menschen alltäglich gebrauchen, war für eine normale Redaktion noch lange kein Grund für eine Sendung. Da müsste schon ein Bleistift als Mordwaffe verwendet worden sein. Doch neue Herangehensweisen schufen komplett andere und kreativere Zugänge.
Die Konzeption für die Sendung ergab sich aus dem Redaktions-Storming mit Fragen wie: „Wo kommt der Bleistift ursprünglich her? Wer hat ihn erfunden? Wie lange gibt es ihn schon? Wo alles auf der Welt wird er verwendet? Und wo gar nicht? Was ist da drin? Wie kommt der Bleikern in das Holz? Wieso fallen die Minen nicht raus? Und wann doch? Was ist Grafit denn genau? Und wie wird es erzeugt? Welche Ersatzstoffe wurden wie und woraus und von wem wo entwickelt? Wann wurde der Drehbleistift vom wem, weshalb und wo erfunden? Welche Maße haben Bleistifte und welche Rekordhalter gibt es? Was genau ist der Unterschied zwischen Blei- und Buntstiften? Was wurde inzwischen noch alles neu entwickelt? Auf welchen Untergründen kann der Bleistift genutzt werden und worauf nicht? Welche Künstler-innen verleg(t)en sich besonders auf Bleistifte? Für welche Berufe sind Bleistifte unverzichtbar? Was ist mit den Spitzern: Methoden, Formen und Tools? Welche Nationen haben den höchsten Bleistift-Verbrauch und wieso? Und welche den geringsten? Was sind Nachteile des Bleistifts? Welche anderen Stifte bedrohen die Existenz der Bleistifte am meisten? Was wurde vor dem Bleistift benutzt? Wer kann eine Lobeshymne, wer eine Hass- und wer eine Trauerrede auf den Bleistift halten? Wie steht es um die Zukunft des Bleistiftes und um seine Kombination mit der riesigen Radiergummi-Welt?“ Und, und, und …
Es war immer wieder überraschend, dass auch auf den ersten Blick so „trockene“ Themen wie der Bleistift so viele interessante Facetten enthalten können. Das entpuppte sich erst mal nur durchs Zulassen. Und unterstützt wurde es, als ich das MOSES-Stormen aus dem Coaching ab 1980 als ersten Schritt auch in die Redaktionsarbeit einführte: Da ich die Eskimo-Methode noch nicht erfunden hatte, wurden am Whiteboard fünf Spalten eröffnet mit den Überschriften: Mensch – Ort – Sachthemen – Ereignisse – Sinnliches (also sehen, hören, schmecken, riechen, tasten). Auf Zuruf wurden dann chaotisch zu jeder Sparte getrennt Einfälle gesammelt und entweder von Inge, der Aufnahmeleiterin mit der schönen Schrift, oder rotierend pro Spalte notiert. Danach wurden von jeder Person ein bis drei Einfälle schlicht nach Bauch-Gefallen notiert und geordnet. Und zack, entstand in maximal 30 Minuten ein erstes Konzept der Sendung, aus der Gruppen-Klugheit von allen gleichermaßen gespeist.
Für mich gibt es keine langweiligen Themen und keine langweiligen Menschen mehr, sondern nur langweilige Arten, auf Menschen und Dinge zuzugehen.
Mit zwei bedeutenden Erkenntnissen: Für mich gibt es seither keine langweiligen Themen und keine langweiligen Menschen mehr,