Der Kuss des Feindes. Titus Müller
hart die Zeltplane auf, als Mutter ebenfalls aus dem Zelt trat. »Arif will allein in die Berge reiten und die Ungläubigen ausspähen. Haroun, sage ihm, dass das Irrsinn ist.«
Ungerührt schnitt Vater ein Stück Fleisch vom Hasenkörper und warf es der Gepardin hin. Sofort schnappte sich die Raubkatze den Leckerbissen. »Arif ist jetzt sechzehn und längst erwachsen«, antwortete er. »Es wird Zeit, dass er Mut beweist wie sein Bruder Utman.«
»Aber nicht so!« Mutters Stimme war plötzlich dünn, als schnüre ihr etwas die Kehle zu. »Utman ist niemals allein losgezogen. Es waren immer andere Krieger dabei.«
Arif sagte: »Wenn ein Trupp unserer Reiter kommt, verstecken sich die Christen. Die Reiter wirbeln viel Staub auf und sind laut. Allein kann ich die Christen überraschen. Ich spüre ihr Versteck auf, und dann hole ich dich, Vater.«
Haroun schabte mit dem Messer über das rohe Hasenfleisch. »Finde diese verfluchten Ungläubigen.«
»Geh wenigstens du mit ihm, Haroun!«, flehte die Mutter. »Ich habe schon einen Sohn verloren, ich will nicht auch noch den zweiten verlieren.« Sie fiel nieder auf die Knie und umklammerte Harouns Füße. »Ich bitte dich, tu mir das nicht an, halte ihn zurück!«
»Der Junge hat sich entschieden. Er ist erwachsen, er kann reiten, wohin er will.«
Arif küsste seine Mutter auf die Wangen, was sie mit Tränen in den Augen erduldete, als schlage er sie, statt sie zu küssen. Kaum hatte er sich umgewandt und ging, brannten auch ihm die Augen. Vater hatte gleichgültig geklungen. Und warum sollte er sich ereifern? Es ging ja nur um ihn, Arif. Vater liebte Utman mehr als ihn, das war immer so gewesen. Und dass Utman jetzt über ein Jahr tot war, änderte nichts daran. Utman war ein Held! Er war ein Sohn gewesen, wie Haroun sich ihn immer gewünscht hatte.
Auf dem Schlachtfeld war Utman der Erste gewesen, der sich den persischen Kriegselefanten entgegenwarf. Er schoss vom Pferderücken aus seine Pfeile, und jeder Pfeil war ein Treffer. Er schlug mit dem Schwert eine Bresche in die Reihen der schwer gerüsteten Byzantiner, er tötete Juden, Christen und Heiden, ohne zurückzuweichen.
Vater war so stolz auf ihn gewesen, dass er sich nicht mehr Haroun nannte, sondern Abu Utman, Vater des Utman. Nun aber war Utman tot und niemand sagte stattdessen Abu Arif zu Haroun. Dabei war er, Arif, jetzt der älteste Sohn Harouns – und das künftige Familienoberhaupt.
Vielleicht lauerten die Ungläubigen ihm auf, wie die Mutter befürchtete. Vielleicht töteten sie ihn. Dann war es eben so. Es war Zeit, dass er seinem Namen Ehre machte. Zeit, dass er wahren Mut bewies.
Die Muezzins riefen zum Nachmittagsgebet auf. »Allahu Akbar! Gott ist groß! Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah. Ich bezeuge, dass Mohammed der Prophet Gottes ist. Eilt zum Gebet! Eilt zur Rettung! Allahu Akbar. Es gibt keinen Gott außer Allah.«
Männer breiteten kleine Gebetsteppiche vor ihren Zelten aus. Sie stellten sich darauf, verbeugten sich mit geradem Rücken, indem sie die Hände auf ihre Knie legten, und richteten sich wieder auf. Dann fielen sie augenblicklich nieder, berührten mit Händen und Stirn den Boden und murmelten: »La ilaha illa’llah. Es gibt keinen Gott außer Gott. Muhammadun rasul Allah. Mohammed ist der Botschafter Gottes.« Wieder und wieder verbeugten sie sich.
Arif ging an ihnen vorüber. Er würde das Gebet am Abend nachholen. Wichtig war allein, dass es im Laufe des Tages fünf Gebete waren, lehrte der Scheich. Vater konnte den Stammesältesten nicht leiden, aber der Scheich musste es wissen, schließlich hatte er den gesamten Koran auswendig gelernt und trug den ruhmreichen Beinamen al-Hafiz, der Hüter, eine Ehre, die nur wenigen Glaubensgelehrten auf der ganzen Welt zuteilwurde.
Hinter den Zelten kamen die Dromedarherden in Sicht, der Reichtum des Stammes. Die Tiere rissen das trockene Gras aus und hoben die Köpfe zum Kauen. Die bepelzten Höcker hingen schlaff von ihren Rücken, viel bot es nicht, das felsige, mit Dornengestrüpp bewachsene Land. Aus der Wolle der Dromedare spannen die Frauen Garn, und aus dem Garn webten sie Teppiche, Zeltbahnen und Kleider. Die Kamelhäute wurden zu Leder verarbeitet, das Fleisch und die Kamelmilch nährten den Stamm.
Noch kostbarer als die Dromedare waren die Pferde. Ihre Koppeln befanden sich zwischen zwei kleinen Hügeln, Arif hielt jetzt darauf zu. Dromedare waren nützlich, wenn es galt, Beute zu transportieren – ein Dromedar hielt bis zu vier Wochen aus, ohne zu trinken, und es fraß nahezu alles, was es fand. Im Kampf aber war das Kamel wertlos. Die Männer stiegen von ihrem Dromedar ab, wenn die Schlacht begann, und kämpften lieber zu Fuß mit Speer oder Schwert. Wer reich war, wechselte auf sein mitgebrachtes Pferd. Mit ihrer Schnelligkeit und durch die überlegene Kampfhöhe beherrschten solche Reiter das Feld, oft entschied ihre Anzahl über den Ausgang einer Schlacht: Vom Pferderücken aus führte man stärkere Schwerthiebe und konnte Gegner umreiten, man konnte den feindlichen Bogenschützen in die Flanke fallen. Pferde bedeuteten Macht. Arifs Stamm besaß zwei große Herden, insgesamt fast einhundert Tiere.
Die Stimmen von Yusuf und Nuh drangen herüber. »Ich hab dich erschlagen«, keuchte Yusuf. »Zum dritten Mal!« Klirrend schlugen ihre Klingen gegeneinander.
Nuh erwiderte: »Hast du nicht! Es war eine Finte, du Esel.«
Arif straffte seine Schultern. Erhobenen Hauptes ging er an ihnen vorüber, als sei nichts gewesen, als habe die Demütigung, die er vor fünf Tagen erlitten hatte, nie stattgefunden.
Der Streit der beiden Zakariyyas verstummte und Yusuf rief: »Schau an, Arif kommt aus seinem Loch gekrochen.«
»Und er hat sein Spielzeugschwert dabei«, spottete der schwarzhäutige Nuh.
Arif ging schweigend weiter. Die Zakariyyas waren seit Jahrzehnten mit seiner Familie zerstritten, und das, obwohl sie dieselben Vorväter gehabt hatten. Aber im Kampf um die Herrschaft zählte entfernte Verwandtschaft nichts. Die Rivalität, die einige Jahre kaum merklich geschwelt hatte, loderte seit Utmans Tod wieder auf. Dass Utman nicht mehr am Leben war, weckte die Hoffnung der Zakariyyas, sie könnten Haroun ablösen und die Führerschaft im Stamm übernehmen.
»Suchst du Marwan, um es ihm heimzuzahlen?« Yusuf lachte böse. »Vergiss es. Er macht dich fertig.«
Sie folgten ihm.
»Alle reden von deiner Niederlage«, sagte Yusuf. »Dein Ansehen ist dahin, Arif. Geh, stürz dich irgendwo runter. Du hast nicht den Mumm, den Utman hatte, du bist einfach ein Krieger der zweiten Reihe, Futter für den Pfeilhagel.«
Das ging zu weit. Arif blieb stehen und legte die Hand an den Schwertknauf.
»Ach, hab ich dich etwa verletzt?« Yusuf trat von hinten so nahe an ihn heran, dass Arif seinen warmen Atem im Nacken spüren konnte. »Willst du dich mit mir messen? Ich mache dich fertig, genauso wie Marwan dich fertiggemacht hat.«
Utman war breitschultrig gewesen, er hatte seine Hiebe mit solcher Kraft geführt, dass Rüstungen darunter zerbarsten. Diese Kraft besaß Arif nicht. Trieb man ihn in die Enge und kam es auf ein Kräftemessen an, so versagte er. Aber in einem übertraf er alle anderen: Er war schnell.
Er drehte sich um und zog in derselben Bewegung sein Schwert.
Yusuf, der das erwartet hatte, sprang zurück und hielt seine Klinge vor sich.
Aber zu spät, Arif war mit seinem Schwert unter Yusufs Deckung hindurchgetaucht und von links wieder aufgestiegen. Er hielt es ihm an die Kehle. »Du bist zu langsam, Yusuf.«
Yusuf Zakariyya ließ sein Schwert sinken. Er hielt angestrengt den Hals still, um sich nicht an Arifs Klinge zu verletzen. »Diesmal«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
»Nimm zurück, was du gesagt hast.«
Yusuf zögerte, aber als Arif den Druck der Klinge auf seine Kehle verstärkte, krächzte er: »Ich hab’s nicht so gemeint.«
Natürlich hast du es gemeint, dachte Arif, du hältst mich für feige. Er senkte sein Schwert. »Wenn ich wirklich keinen Mut hätte, würde ich wohl kaum allein zu den Ungläubigen reiten. Ihr könnt übrigens gern mitkommen und euch dort mit den richtigen Feinden messen, wenn ihr euch das traut.«
Nuh