Der Kuss des Feindes. Titus Müller
Gurken gediehen nur, wenn man die Pflanzen bewässerte. Die Troglodyten haben ihre Gärten nicht aufgegeben, dachte er, sie sind noch in der Nähe. Er stand auf. Böse starrten ihn die dunklen Höhlenaugen der Felshäuser an.
Womöglich zielten die Troglodyten gerade mit Wurfspeeren auf ihn, bereit, sie zu schleudern, sobald er sich näherte. Er zog den Kopf ein, schlich gebückt bis zur Mauer. Lautlos sprang er hinüber und kroch im Schatten der Steindämonen in Richtung Berghang, dahin, wo er Layla zurückgelassen hatte. Am letzten Steinkegel hielt er inne und spähte aus.
Da war Layla.
Aber sie war nicht allein.
Ein Frau stand bei der Stute. Auf ihrem schwarzen Haar glänzte das Mondlicht, und sie streichelte der Stute den vernarbten Hals. »Du Armes«, sagte sie leise, »wer hat dich so misshandelt? Ich wäre an deiner Stelle auch abgehauen.«
Sie sprach Griechisch. Wie sie die Worte formte, unterschied sich sehr von der Aussprache, die ihn der Scheich in den Unterrichtsstunden gelehrt hatte – ihr Griechisch war nicht durch den harten arabischen Zungenschlag eingefärbt. Weich sprach sie die Wörter aus, als sei da ein schlafendes Kind, das sie nicht wecken wollte, und tätschelte dabei weiter Layla den Hals. Ihre schmalen Schultern waren von blasser Haut, auch die Hand auf Laylas Fell. Sie musste eine Troglodytin sein, es hieß, dass Troglodyten das Sonnenlicht mieden. Wie hatte sie es geschafft, sich der Stute zu nähern? Layla hätte scheuen müssen, sie hätte nach der Frau beißen müssen! Stattdessen stand sie ruhig da und ließ sich berühren.
Die Frau war jung, fast noch ein Mädchen, und sicher unverheiratet. Frauen in ihrem Alter hatten im Zelt zu bleiben, sie spazierten nicht allein im Freien herum, das gehörte sich nicht. Lief die Troglodytin wirklich ohne Begleitung durch die Nacht? Es war ihm unbegreiflich.
Die Frauen, die er kannte, trugen goldene Armreifen und Ohrringe. Diese trug keinen Schmuck, und doch war sie so schön wie der Mond.
»Ich kann dich nicht mitnehmen«, sagte sie. »Wirst du allein zurechtkommen? Du musst die Quellen meiden, die haben sie vergiftet. Friss das taufeuchte Gras. Dann passiert dir nichts.« Sie fuhr mit ihrer Hand über Laylas Kruppe und Flanken. »All die Narben! Ich fasse es nicht, dass sie dir das angetan haben. Araber sind Bestien.«
Die Mondfrau bückte sich, rupfte etwas Gras ab und bot es der Stute an. Layla hielt schnuppernd die Nüstern darüber. Schließlich nahm sie die Halme mit den weichen, behaarten Lippen auf und fraß sie.
»Lässt du mich aufsteigen? Ich hab noch nie auf einem Pferd gesessen.« Die Frau trat neben den Sattel und steckte ihren Fuß in den ledernen Steigbügel. Ein Zucken ging durch Laylas Körper. Die Stute sprang beiseite. Die Frau hing im Steigbügel fest und wurde mitgerissen. Kopfunter schleifte sie über den Boden.
Arif schnellte hoch. Er rannte hinterher, kürzte ab, indem er sich durch ein Gebüsch schlug, und sprang Layla mit ausgebreiteten Armen in den Weg. »Ruhig!«, befahl er. »Steh!« Layla versuchte, ihm auszuweichen, aber er fasste nach dem Zaumzeug und hielt die Stute fest.
Die Frau hing schreckensstarr im Steigbügel und sah ihn an. Endlich begann sie zu zappeln und befreite sich. Sie stand auf. In sicherer Entfernung klopfte sie sich das Gras vom Kleid. Ihr zartes Kinn und die gerade Nase wirkten anmutig, nur die Brauen, die beinahe über der Nase zusammenwuchsen, wölbten sich drohend.
Natürlich. Er hatte Arabisch gesprochen. Das hatte sie erschreckt. Er sagte in griechischer Sprache: »Mein Name ist Arif ibn Haroun ibn Abu Bishr ibn Asad.«
Sie verzog spöttisch den Mund. »Genug Namen für eine ganze Familie.«
»Wer bist du?«, fragte er. Als er sah, dass sie ihren Kopf massierte, fügte er hinzu: »Hast du dir wehgetan?«
»Geht schon.« Sie ließ den Kopf los. »Ich bin Savina. Du bist Araber, nicht wahr?«
»Ich komme aus dem Jazirat al-Arab.«
»Das bedeutet?«
»So heißt unsere große Halbinsel im Süden. Insel der Araber.«
Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Wenn es da so groß ist, warum bleibt ihr dann nicht dort? Warum kommt ihr hierher und wollt uns unser Land wegnehmen?«
Weil ihr zum Kaiserreich Byzanz gehört und Byzanz sich nicht unterwerfen will, wollte er sagen. Er brachte es nicht über die Lippen, während er in das bezaubernde Gesicht der Mondfrau sah.
Sie sagte: »Lass dich hier nicht mehr blicken! Die Wächter machen mit Arabern kurzen Prozess.« Sie drehte sich um und lief den Berg hinauf. Auf halber Höhe wandte sie sich noch einmal um. »Worauf wartest du? Verschwinde, ehe ich die Wächter rufe!«
Er blickte ihr weiter nach. Erst als sie nicht mehr zu sehen war, saß er auf und schnalzte mit der Zunge. Zögerlich ritt die Stute an, als fiele es ihr schwer, die Mondfrau zu verlassen.
4
Sie wartete hinter einem Felsengrat und hörte auf die sich entfernenden, dumpfen Hufschläge. Erst, als sie sicher war, dass er davongeritten war, lief sie den Hang wieder hinunter, den sie hinaufgeklettert war, und schlug den richtigen Weg ein, immer bemüht, nicht auf den steinigen Flächen zu laufen, wo Kiesel ins Rollen geraten und sie verraten konnten. Wenn der junge Araber bemerkte, wo sie in die unterirdische Stadt hinabkletterte, verriet sie mehr als zehntausend Menschen an ihre Mörder.
Bevor sie den Busch beiseitebog, spähte sie noch einmal in alle Richtungen. Rasch stieg sie in den Lüftungsschacht hinab. Sie war ungeschickt beim Klettern, ihr Bein schmerzte vom missglückten Reitversuch. Zweimal rutschte sie ab und schürfte sich die Haut auf. Unten, im Gang, blieb sie lange stehen und lauschte nach oben in den Schacht. Aber es blieb still. Niemand folgte ihr.
Sie schlich zurück in die Familienhöhle. Dort kroch sie unter ihre schwere, kratzige Wolldecke. Der Strohsack knisterte, während sie sich drehte, bis sie bequem lag und kein Halm sie mehr piekte.
Von der anderen Seite des Raums kam Vaters müde Stimme. »Hast du schlecht geträumt, Schätzchen? Versuch wieder einzuschlafen.«
»Ja, Vater.« Sie sah in die Dunkelheit und dachte an das vernarbte Pferd und den jungen Araber. Wie er in die Ebene hinausgaloppiert war, frei und kraftvoll! Er war unabhängig. Er war nicht der Gefangene einer Höhlenstadt.
Savina roch an ihren Händen. Sie dufteten nach dem Pferd, es war ein herber Geruch. Sicher roch auch der junge Araber so. Unmöglich, dass er seinem Pferd die Wunden zugefügt hatte. Sein Gesicht war stolz und zugleich sanft und verletzlich gewesen.
Arif erwachte von den Kitzelschritten einer Fliege auf seiner Stirn. Er verscheuchte sie und drehte sich auf die Seite, um wieder einzuschlafen. Die Fliege landete auf seinem Hals. Ärgerlich wedelte er sie fort. Sie landete auf seinem Ohr. Arif schlug darauf. Nach dem Knallen blieb ein Pfeifton, der erst allmählich verschwand, und sein Haarschopf kitzelte, die Fliege krabbelte darin herum. Er fuhr hoch. Diese Fliege machte ihn wahnsinnig!
Er sah im Halbdunkel, dass der Vater sich ankleidete. »Du gehst?«, fragte er.
»Heute wird Brot gebacken«, sagte Haroun. »Ich hasse es, wenn die Weiber den ganzen Tag beisammenhocken und schwatzen.« Er schlüpfte in seinen Umhang.
Von draußen drangen gedämpfte Gespräche herein und man hörte das Aufklatschen des Eimers am Brunnen. Das Lager erwachte. Arif wartete darauf, dass der Vater nach den Ergebnissen seines nächtlichen Spähritts fragte. Aber Haroun ging wortlos nach draußen.
Später stand die Mutter auf, und dann Arifs kleiner Bruder und er selbst. Die Frauen der befreundeten Familien kamen. Mutter bat Arif, vor dem Zelt Holz für ein Feuer aufzuschichten, und während er das tat, tobte al-Qabih, Arifs Bruder, um die Frauen herum. Er drückte frech seinen Zeigefinger in den Teig, den sie kneteten, und lachte nur, als die Mutter mit ihm schimpfte.
Sie buken Weizenbrote für die nächsten Wochen. Die jungen Frauen mischten den Teig und kneteten ihn. Die Frauen mittleren Alters rollten die Teigkugeln auf Holzbrettern zu Fladen aus. Die alten buken die Brote auf den heißen Steinen beim Feuer, indem sie Asche darüber ausbreiteten, bis sie fertig gebacken waren, und