Der Kuss des Feindes. Titus Müller
ihn fragte, ob er etwas herausgefunden hatte bei seinem Spähritt, aber sie tat es nicht. Je länger er wartete, desto wütender wurde er. Seine Eltern trauten ihm einfach nichts zu.
In der Nacht, draußen, hatte er sich stark gefühlt. Er hatte sich gefühlt wie ein Mann. Hier, bei den Eltern, war er schwach. Er verstand es nicht. Warum platzte er nicht mit der Nachricht heraus, dass er in einem verlassenen Christendorf gewesen war und bemerkt hatte, dass ihre Gärten noch gepflegt und bewässert wurden? Warum sagte er nicht, dass er sogar eine Troglodytin gesehen hatte?
Sein gekränkter Stolz verschloss ihm den Mund. Wenn sie es mir nicht zutrauen, dachte er, dann sollen sie auch nicht erfahren, welchen Mut ich bewiesen habe. Er sah schweigend der Mutter hinterher, die fortging, um Feuerholz zu holen.
»He, al-Qabih! Du furzt wie ein Wallach.«
Marwan, Nuh und Yusuf traten an das Feuer heran.
»Gemein!«, rief al-Qabih und zog ein böses Gesicht.
Sie lachten.
Die Frauen ignorierten es, dass Arifs Bruder verspottet wurde. Sie hatten sich daran gewöhnt. Al-Qabih war nicht sein wirklicher Name. Es war ein Spitzname, er bedeutete »der Hässliche«. So nannte ihn jeder im Lager. Al-Qabih sah aus wie der missratene Versuch, einen Menschen zu formen: Die Arme waren zu lang, die Finger dickknöchelig, die Hüfte war schief, und er hinkte. Obwohl er dreizehn Jahre alt war, besaß er den Verstand eines Zweijährigen.
Marwan schubste ihn. »Hast du dich schon mal ins Feuer gesetzt, Kleiner? Da wird dir schön warm.«
Al-Qabih floh zur Gepardin. »Beißt!«, drohte er. In sein Gesicht stand Angst geschrieben, während er Marwan entgegenblickte. Die Gepardin wandte desinteressiert den Kopf zur Seite.
Marwan grinste. »Ich glaube nicht, dass sie dich beschützen wird.«
Die Frauen unterbrachen nicht einmal ihr Gespräch. Einen Schwächling wie al-Qabih zu verteidigen, dazu sahen sie keinen Grund. Er fiel dem Stamm zur Last und war eine Schande für seine Familie.
Arif trat Marwan in den Weg. »Du rührst ihn nicht an.«
»Richtig, er ist dein Bruder. Hatte ich fast vergessen.« Marwan sah über seine Schulter zu Nuh und Yusuf, und die beiden lachten. Er blickte wieder nach vorn. »Wie konnte mir das entfallen, bei dieser Ähnlichkeit.«
»Nur ein Feigling vergreift sich an Schwächeren.«
»Du bist der Mutige von uns beiden, stimmt ja! Du bist zu den Ungläubigen geritten. Wie kommt’s, dass sie dich am Leben gelassen haben? Nicht mal verwundet bist du. Mir fällt da nur eine Erklärung ein.«
Yusuf und Nuh verschränkten hinter Marwan die Arme. Der schwarzhäutige Nuh spuckte auf den Boden.
Marwan sagte: »Du warst überhaupt nicht dort. Du hast dir in die Hosen gemacht vor Angst.«
»Und ob ich dort war«, sagte Arif. »Ich bin in ihren Häusern und in einem ihrer Gärten gewesen. Ich war ganz in der Nähe ihres Verstecks.« Und ich habe ein Mädchen gesehen, dachte er, ein Mondmädchen, wie ihr es nie erblicken werdet.
»Beweise es!«, forderte Marwan.
»Komm doch mit beim nächsten Mal, wenn du dich traust.«
Der Zakariyya zog geringschätzig die Mundwinkel nach unten. »Ich bin der Erbe. Man setzt das Leben des Erben nicht leichtfertig aufs Spiel. Meine Familie braucht mich, ich werde sie eines Tages führen, sie und den ganzen Stamm.« Marwans tiefe Stimme ließ ihn klingen wie einen erfahrenen Krieger. Seine Ohren waren klein und verknorpelt, die Fingernägel abgekaut. Aber keiner konnte es an Kraft mit ihm aufnehmen. Wenn seine Familie weiterhin Ruhm ansammelte und ihre Ehre und Reinheit bewahrte, würde er tatsächlich eines Tages der ranghöchste Mann im Stamm sein.
»Ich bin genauso der Erbe meiner Familie«, sagte Arif, »und noch führt mein Vater den Stamm an.«
»Was meinst du, warum er dich überhaupt losziehen lässt? Er weiß, dass du nicht den Mut hast, dich in Gefahr zu begeben. Du prahlst doch nur! Sobald du außer Sichtweite bist, steigst du vom Pferd und setzt dich unter einen Baum. Und wir sollen dir glauben, dass du die Feinde ausspähst.«
Arif hörte ein Knurren hinter sich. Al-Qabih hatte sich hingehockt und streichelte die Gepardin. Obwohl sie warnend die Zähne bleckte, so sehr, dass sich die Haut an der Schnauze kräuselte, hörte er nicht auf. Arif nahm al-Qabihs Hand und hielt sie fest. »Lass das. Sie mag es nicht.«
Al-Qabih schob schmollend die Lippe vor.
Marwan sagte: »Ich war bei der großen Schlacht im Frühjahr dabei. Ich habe Feinde getötet. Du hast feige zu Hause gesessen. Jeder weiß das.«
»Ich war krank«, sagte Arif.
Die drei Zakariyyas lachten heiser. »Denkst du, das hat dir einer geglaubt?«
»In Ordnung.« Arif reckte sich zu voller Größe auf. »Ich reite diese Nacht hin und komme mit einem Beweis zurück. Ihr werdet sehen, dass ich die Wahrheit sage. Ihr werdet euch entschuldigen und ein für alle Mal aufhören, die Ehre der Asads zu beleidigen.«
Er suchte im Mondlicht die Hänge ab. Durchstreifte die Berglandschaft auf der Suche nach geheimen Pässen, Höhlen und Pfaden. Flächen, die keine Deckung boten, mied er. Wo immer es ging, hielt er sich im Schatten, immer auf der Hut vor den Troglodytenwächtern. Wieder und wieder kehrte er zu dem Felsen zurück, hinter dem er das Mondmädchen hatte verschwinden sehen, und schlich von dort aus in die nahe gelegenen Hügelzüge. Ergebnislos.
Alles, was er fand, war ein Loch im Boden, halb verdeckt von einem Gebüsch und zu klein für einen Höhleneingang. Die Zweige des Gebüschs waren abgeknickt. Ihre Blätter waren noch nicht verwelkt, es konnte nicht lange her sein, dass die Zweige geknickt worden waren.
Wenn er hineinkletterte, um nachzusehen, weckte er womöglich Schlangen, die im Loch schliefen. Niemand würde ihm dabei helfen, die Wunde auszuschneiden, wenn sie ihn bissen. Besser, er ging ins steinerne Labyrinth und nahm sich eine Tonscherbe aus einem der Häuser mit.
Beim Abstieg stellte er sich vor, dass Vater ihn mit stolz funkelnden Augen ansah wie Utman. Dass er sich Abu Arif nannte und ihm vor den Männern die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Mein Sohn.« Im ganzen Stamm würde man sich erzählen, dass er, Arif, die Christen aufgestöbert hatte, nach denen sie seit Monaten suchten.
Er fasste sich an den Kragen und schüttelte das Hemd, um das Böse abzuwehren. Er zog den Augenachat hervor, den er an einem Lederband um den Hals trug, küsste ihn und murmelte: »Inshallah.« Gott allein wusste, wann man Izra’il sah, den Engel des Todes. Wenn es heute sein sollte, dann war es eben heute.
Diesmal fürchtete er sich nicht vor dem Troglodytenhaus. Er klaubte eine Tonscherbe auf und kehrte zum Erdloch um. Jeden Strauch nutzte er zur Deckung, jeden Felsbrocken. Der Mond schien hell, er durfte nicht unvorsichtig werden.
Mit angehaltenem Atem schnallte er sich das Schwert ab und legte es neben den Busch, der Schacht war zu eng, er würde darin stecken bleiben. Dann streckte er die Beine in das Loch. Er stützte sich mit den Armen auf dem Boden ab und ließ sich hinabsinken.
Es ging tief hinunter, erst als er schon bis zur Brust im Erdreich verschwunden war, erreichten seine Füße festen Grund. So weit er es in der Enge vermochte, beugte er die Knie und rutschte Fingerbreit für Fingerbreit weiter, bis er auf dem Boden kauerte. Er lauschte. Keine Schlangen zischten. Sorgfältig tastete er die Wände ab. Da war ein Gang, der sich seitwärts in den Felsen grub. Arif kroch hinein. Erdklümpchen und Staub rieselten ihm ins Haar. Es ging wieder abwärts, er musste klettern. Dann kam ein zweiter Knick und der Gang verbreiterte sich plötzlich. Arif ließ ein Steinchen hinunterfallen. Er hörte den leisen Aufprall gleich danach. Also konnte es nicht allzu tief hinabgehen. Sorgfältig suchte er sich Felsspalten für seine Finger und ließ sich an den Armen herab. Bevor er sie ganz ausstrecken musste, berührten seine Füße den Grund.
Eine Klinge legte sich an seine Gurgel. »Du hättest auf mich hören sollen«, zischte jemand.
Das Blut in