Der Kuss des Feindes. Titus Müller
versorgen. Aber Savina brauchte ihn nur einmal anzusehen, und er fühlte sich feige und dumm wie ein kleiner Junge.
Sie schien seine Unsicherheit zu bemerken. Spöttisch lächelte sie ihn an. »Mach dir nicht in die Beinkleider, mir passiert schon nichts.«
Er sagte: »Die sind skrupellos. Du hast sie nicht erlebt, Savina.«
»Dann wird es Zeit.« Sie trat auf den Ausgang zu. »Ich helfe bei der Suche.«
Die Schwester stellte sich ihr in den Weg und umfasste ein Schwert aus Luft, das sie sich ins Herz stieß. Ob sie ihr damit sagen wollte, du bringst mich noch um, oder ob sie Savina an ihren Onkel Maurikios erinnern wollte, den die Araber vor vier Monaten draußen erwischt und getötet hatten, wusste Jonathan nicht zu deuten. Aber die Taubstumme zeigte mit der freien Hand auf den Boden, als würde sie befehlen: Du bleibst hier. Dabei gab sie einen strengen Laut von sich.
»Da draußen ist die Hölle los«, sagte Jonathan. »Sie haben ein arabisches Schwert gleich neben einem der Lüftungsschächte gefunden. Was, wenn es nicht bloß ein Spion ist, was, wenn ein Dutzend Araber in die Stadt eingedrungen sind? Und während wir hier reden, morden sie sich leise durch die Behausungen!«
»Ein Spion wäre genauso schlimm.« Savina wies nach draußen. »Wenn wir den nicht fangen, bevor er entkommt und uns verrät, werden sie ganz Korama ausräuchern. Also lasst mich mitsuchen.«
Savinas Schwester holte ein Schwert aus der Wandnische. Als sie es dem Vater reichte, malte sie Kreuze in die Luft, als würde er sich einem Heer Dämonen entgegenwerfen, sobald er aus der Wohnhöhle trat.
Er nahm das Schwert entgegen und wandte sich Savina zu. »Keine Widerrede! Du bleibst hier.«
Pherenike rührte an den Arm ihres Vaters und zeigte dann zum Ausgang. Anschließend wies sie auf ihre Augen. Wenn man wohlwollend war, konnte man es als Aufforderung deuten, er solle auf sich achthaben da draußen. Allerdings konnte es genauso gut als Hinweis verstanden werden, er solle sich an der Suche nach dem Araber beteiligen, anstatt weitere Worte zu verlieren.
»Ich geh schon.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Pass auf Savina auf.« Damit verließ er die Wohnung.
»Und du, Jon?«, fragte Savina. »Willst du feige hier warten, bis die Gefahr vorüber ist, unter dem Vorwand, zwei Frauen zu beschützen?«
Ihre Dreistigkeit verschlug ihm den Atem. »Ich habe den Arabern ein Dutzend Mal gegenübergestanden, das weißt du genau.«
»Worauf wartest du dann? Da draußen läuft eine Treibjagd. Fang den Spion.«
Seine Fürsorge schlug in Wut um. Nichts Sanftes, Weibliches war mehr an Savina, nur Härte. Für gewöhnlich staunte er, wie sehr sich die Schwestern voneinander unterschieden, heute aber waren sie gleich: zwei ungnädige, herrische Eisblöcke. Fühlte sie wirklich, was sie da sagte, oder gab sie sich nur nach außen so verletzend? Das war doch dieselbe Savina, die wunderschöne Wandmalereien erschuf, dieselbe Savina, die sich über einen Käfer freute, der sich in die Höhlen verirrt hatte, und ihn fürsorglich befreite. Es war dieselbe Savina, die stundenlang über Wind und Sonne und Sterne reden konnte und ihn so bezaubernd anlächelte, wenn er von seinen abenteuerlichen Handelsfahrten berichtete.
Von der, die er liebte, verletzt zu werden, schnürte ihm den Hals zu. Er schüttelte den Kopf und ging. »Du bist unerträglich«, sagte er, während er nach draußen trat.
Marwan fasste die Zügel einhändig, er lenkte den Wallach mit den Schenkeln. Auf seiner rechten Hand saß der Falke, die gelben Vogelfüße in den Handschuh gekrallt. Der Kopf des Falken steckte unter einer Kappe. Heiße Windböen fuhren ihm in das dichte Federkleid.
»Ich würde sagen, er ist tot«, nahm Nuh das Gespräch wieder auf.
Marwan sagte: »Und was, wenn nicht? Was, wenn er versehentlich eine Heldentat begeht und die Christen findet?«
Sie ritten durch das unwegsame Gebiet nahe des Vulkanbergs Argaios. Die Hundemeute streunte vorneweg. Feiner Staub lag in der Luft, er erschwerte das Atmen. In der Steppe standen Pilze aus Tuffgestein, Säulen und Brücken und turmartige Felsgebilde. Im Licht der aufgehenden Sonne funkelten ihre zerklüfteten Wände blau und rotbraun. Trotz der Sommerwärme war die Spitze des Argaios, der sich aus dem Gebirgszug in den Himmel erhob, mit Schnee bedeckt.
»Glaubst du, er ist wirklich zu den Christen geritten?«, fragte Yusuf.
»Möglich, dass er es aus Verzweiflung getan hat. Vielleicht haben wir ihn unterschätzt.«
»Ach was.« Yusuf grinste. »Der ist doch kaum mutiger als sein behinderter Bruder.«
Marwan schüttelte den Kopf. »Vergiss nicht, dass auch Utman sein Bruder war. Utman war ein Held.«
»Die Zakariyyas werden den nächsten Anführer stellen«, sagte Nuh. »Das wirst du sein. Was haben die Asads denn schon vorzuweisen?«
»Haroun jagt mit einer Gepardin. Niemand sonst besitzt ein solches Tier.« Marwan sah zu seinem Falken hinüber. Einen Falken hatten viele. »Wir haben Helme und Schilde und Schwerter, aber Haroun hat ein Kettenhemd. Er ist besser ausgerüstet als wir alle, und der Kalif hat ihn auf der Diwanliste für die Beuteverteilung weit oben eingeordnet. Er gilt beim Kalifen als verdienstvollster Krieger unseres Stammes.«
»Er wird alt«, sagte Nuh, »und Arif wird nicht in seine Fußstapfen treten. Al-Qabih schon gar nicht. Und Harouns Frau kriegt keine Kinder mehr.«
»Dann nimmt er sich eine Zweitfrau. Hast du daran mal gedacht?«
»Ehe der Balg aufgewachsen ist …«
Marwan schnaubte. »Richtig. Deshalb wird Haroun Arif unter Druck setzen. Das macht mir Sorgen. Aus Verzweiflung hat schon mancher Erstaunliches vollbracht.«
»Glaubst du im Ernst, Arif ist so dumm, dich herauszufordern?«
Die Hunde schlugen an. Sie stoben auf eine Gruppe von Sträuchern zu, umringten sie und bellten. Rasch zog Marwan dem Falken die Kappe vom Kopf und warf ihn in die Luft. Der Falke schlug mit den Flügeln, er stieg auf. Hoch über ihnen kreiste er am Himmel, während die Hunde bellend um das Gebüsch tobten.
Ein Ringfasan hielt das Kläffen nicht mehr aus und erhob sich flatternd aus dem Gebüsch. Der Falke griff sofort an. Er legte die Schwingen an den Körper an und fiel aus dem Himmel. Erst als er den Ringfasan fast erreicht hatte, öffnete er die Flügel. Die Vögel prallten hart gegeneinander. Der Ringfasan taumelte in der Luft. Schon jagte der Falke in einer Kehrtwende heran, packte den Ringfasan mit den Krallen und biss ihm ins Genick. Beide Vögel stürzten zu Boden.
Als Marwan und die anderen heranritten, saß der Falke bereits auf der Beute und hackte mit dem Krummschnabel Fleischstücke heraus. Die Hunde waren gut erzogen, sie hielten Abstand. Marwan stieg vom Pferd und nahm Taubenfleisch aus einem ledernen Päckchen am Sattel. Er rief den Falken. Der Falke flog zu ihm auf die behandschuhte Hand. Er begann, das Taubenfleisch zu fressen.
»Wir dürfen die Sache nicht sich selbst überlassen, Freunde«, sagte Marwan. Er sah zum Kadaver auf dem Boden hin. »Arif hat eine schwache Stelle: Er liebt seinen kleinen Bruder. Wenn wir uns den zur Brust nehmen, können wir Arif zerstören, bevor er uns gefährlich wird.«
6
Kein Wort, Frau.« Arif gab seinem Flüstern eine warnende Schärfe. »Du bleibst, wo du bist, und hältst den Mund.«
Die Troglodyten mussten Licht gehabt haben, um sein Schwert zu finden. Sicher gingen sie nicht mit Fackeln nach draußen, sonst verrieten sie ihre Höhlenstadt. Das bedeutete, dass der Morgen bereits dämmerte oder gar die Sonne schon aufgegangen war. Eine Flucht war unmöglich – bei Tageslicht sahen ihn die Troglodytenwächter draußen auf den Felsen sofort.
Das Kind würde über kurz oder lang zu weinen anfangen, hier war kein gutes Versteck für ihn. Wenn es überhaupt einen Ort in der Höhlenstadt gab, wo er Schutz finden konnte, dann bei dem Mondmädchen.
Noch schwieg die Mutter und auch der Junge sagte nichts. Sie hielten den Atem an. Hinter dem Fellvorhang wurde es hell. Menschen