Unterwegs mit dir. Sharon Garlough Brown

Unterwegs mit dir - Sharon Garlough Brown


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Sie hatten sich so viel zu erzählen!

      Emily hatte ebenfalls einige Wochen des Sommers weit weg von zu Hause verbracht. Sie war in einer Klinik für Teenager mit Essstörungen gewesen. Als Emily übers Wochenende nach Hause kam, besuchte Charissa sie. Seit dem Ende des Schuljahres hatten sie sich nicht mehr gesehen.

      Nichts, was Charissa über Emilys Kampf gegen die Anorexie gehört hatte, hatte sie auf das veränderte Aussehen ihrer Freundin vorbereitet: leere Augen, eingefallene Wangen, hervorstechende Schlüsselbeine. Emilys früher dichte, blonde Haare wirkten genauso vertrocknet und zerbrechlich wie ihr Körper. Obwohl Charissa versuchte, ihr Entsetzen zu verbergen, traute sie ihrem Mienenspiel nicht und wandte sich ab. Emily war schon immer sehr schlank gewesen, doch Charissa konnte nicht fassen, wie viel sie in nur zwei Monaten abgenommen hatte. Kein Wunder, dass ihre Eltern sich entschlossen hatten, sie wegzuschicken, damit sie Hilfe bekam. Wenn sie nach der Zeit in der Klinik noch so dürr war, wie hatte sie dann wohl vor der Behandlung ausgesehen?

      „Ich freue mich so, dich zu sehen, Charissa!“, rief Emily und umarmte sie mit ihren mageren Ärmchen. „Ich hab dich vermisst.“

      Charissa murmelte eine Erwiderung und kämpfte gegen den Drang an, sich von ihr zu lösen.

      „Ich will alles über deine Abenteuer in Griechenland hören. Und ich habe dir auch viel zu erzählen!“, sagte Emily lächelnd. „In der Klinik habe ich so viel gelernt, und ich möchte das alles mit dir teilen. Komm, lass uns einen Spaziergang machen, ja? Ich habe unsere Spaziergänge vermisst.“

      Charissa starrte auf das Freundschaftsband, das lose an Emilys Handgelenk hing, und wünschte, sie wüsste etwas zu sagen – irgendetwas.

      

      Charissa hatte sich um 13 Uhr mit John auf dem Parkplatz des New Hope-Zentrums verabredet. Sein Samstagvormittag war fürs Footballspielen mit Freunden reserviert. Mit dem Mittagessen, das John für sie vorbereitet hatte, setzte sie sich unter einen Baum und las seine Notiz auf der Dose: „Ich hoffe, der erste Tag deiner geist­lichen Reise ist fantastisch! Ich liebe dich!“

      Sie ließ langsam den Atem entweichen und lehnte ihren Kopf gegen den Baumstamm. Was sollte sie machen? Dass sie nicht wusste, welches Ziel der Kurs genau verfolgte, behagte ihr gar nicht. Wenn sie eine eigene Gruppe leiten würde, würde sie ganz sicher anders vorgehen. Und Katherine Rhodes’ Bemerkung darüber, dass man immer die Kontrolle über sein Leben haben wolle, hatte sie provoziert.

      Ich bin nicht kontrollierend! Ich bin diszipliniert!, protestierte Charissa innerlich. Sie holte ihren Laptop aus der Tasche. Die Zeit, bis John sie abholte, konnte sie sinnvoll nutzen und sich an die Aufgabe machen, die Katherine ihnen mitgegeben hatte … nur für den Fall, dass sie auch an der nächsten Sitzung teilnehmen würde.

      Sie öffnete ein neues Dokument und starrte lange Zeit auf den leeren Bildschirm, während sie sich an ihre frühesten Bilder von Gott zu erinnern versuchte.

      Großvater, tippte sie. Dann löschte sie das Wort wieder. Das war eine Sackgasse. Helfer. Sie bat Gott häufig um Hilfe und Frieden, wenn der Stress für sie zu groß wurde, und es war kein kleines Wunder, dass sie unter der Last ihrer eigenen hohen Maßstäbe noch nicht zusammengebrochen war. Ihre Mutter war der Meinung, John sei derjenige, der verhinderte, dass Charissa ein Magengeschwür bekam. Seine fröh­liche Verspieltheit sei ein gesunder Gegenpol zu ihrer Ernsthaftigkeit.

      Während Charissa in ihren vegetarischen Wrap biss, wanderten ihre Gedanken zu ihrer ersten Verabredung mit John zurück. Sie hatten im ersten Jahr an der Kingsbury-Universität studiert. Seit Monaten lag John ihr in den Ohren, sie solle doch mit ihm ausgehen, und er weigerte sich, ein Nein zu akzeptieren. Aber er war ganz und gar nicht ihr Typ. Zum einen war er mit seinen 1,77 Metern etwas kleiner als sie. Sie wollte nicht mit einem Mann ausgehen, der unter 1,80 Meter groß war. Und für ihren Geschmack redete er viel zu viel über Sport. Charissa kannte keinen Sportler, der auch intellektuelle Ziele ernsthaft verfolgte. Doch für sie war die wissenschaft­liche Laufbahn sehr wichtig, ebenso wie sie es für ihren Partner sein sollte.

      Doch er gab einfach nicht auf. Aus lauter Verzweiflung gab sie irgendwann nach – aber nur dieses eine Mal! Innerlich nahm sie sich vor, sich ihm gegenüber so abweisend zu verhalten, dass er sie nie wieder einladen würde.

      „Das ist ja fantastisch!“, rief er, als sie mit offen zur Schau gestelltem Widerstreben seine Einladung annahm. Er war wie ein kleines Kind, dem gerade ein Ausflug nach Disneyland in Aussicht gestellt worden war.

      Am Freitagabend derselben Woche klopfte er um Punkt 18:00 Uhr mit einer Schachtel mit Schokolade überzogener Kirschen an ihre Zimmertür. Ihre Mitbewohnerin schien ihn instruiert zu haben: Charissa duldete keine Verspätung, und sie liebte Schokoladenkirschen.

      John sagte: „Ich hätte dich vielleicht vorwarnen und dir sagen sollen, dass ich mit dir in ein Lokal gehe, wo das Essen zu wünschen übrig lässt, aber die Atmosphäre ist einmalig.“

      Sie zog einen Schmollmund. „Toll“, erwiderte sie in dem sarkastischen Tonfall, den sie perfektioniert hatte. Doch leider schien John das nicht zu bemerken. Charissa straffte die Schultern und folgte ihm durch den Flur.

      „Oh …“ Er griff in seine Tasche. „Entschuldige bitte! Ich habe meine Brieftasche in meinem Zimmer vergessen.“ Er zuckte fröhlich die Achseln, während sie einen genervten Seufzer ausstieß und einen Blick auf ihre Uhr warf. „Das ist nicht schlimm, mein Zimmer ist gleich hier, ein Stockwerk höher. Es dauert nur eine Minute. Komm mit.“ Sie hätte lieber in der Halle auf ihn gewartet, doch sie sparte sich den Atem für den Einwand.

      Als John die Tür zu seinem Zimmer öffnete, erkannte Charissa sofort die anschwellende Melodie eines ihrer Lieblingsstücke: Rhapsodie über ein Thema von Paganini von Rachmaninow.

      „Ich hoffe, Italienisch ist in Ordnung“, sagte er und schob sie ins Zimmer.

      In der Mitte des Zimmers stand ein kleiner runder Tisch mit einer rotweißen Tischdecke, für zwei Personen gedeckt. Auf den Bücherregalen und Schreibtischen standen Dutzende flackernder Kerzen und kleine Vasen mit roten Nelken. Noch während Charissa den Anblick zu verarbeiten versuchte, erschien Johns Mitbewohner in einem schwarzen Frack. „Willkommen! Ich bin Tim und werde mich heute Abend um Sie kümmern. Darf ich Ihnen vorab bereits ein Getränk bringen?“

      John schob Charissa den Stuhl zurecht und wartete darauf, dass sie Platz nahm. Verblüfft und mit offen stehendem Mund starrte sie auf den Tisch. „Irgendwas ohne Zucker“, murmelte sie schließlich und ließ sich auf ihren Platz sinken.

      „Ich nehme eine Cola“, sagte John. Kurz darauf kehrte Tim mit handgeschriebenen Speisekarten und ihren Getränken in Champagnergläsern aus Plastik wieder.

      „Ich empfehle die in der Mikrowelle aufgewärmte Lasagne“, sagte John, während er die Speisekarte überflog.

      Charissa konnte nicht anders – sie musste lachen. Lasagne war das einzige Gericht auf der Karte.

      In den nächsten vier Stunden unterhielten sich John und Charissa über Musik, Filme und Literatur. Charissa war erstaunt, dass John sich so gut in der Dichtung auskannte. Und sie staunte über seinen Humor. Sie war noch nie einem Menschen begegnet, der sie zum Lachen brachte. Im Laufe der folgenden Jahre trug John geduldig alle ihre Vorbehalte ab, bis sie schließlich Ja zu seiner Liebe sagte.

      Charissa riss ihre abwandernden Gedanken von ihrem Mann los und blickte auf ihre Uhr. Noch 30 Minuten. Das war mehr als genug Zeit, um die Aufgabe zu erledigen. Sie trommelte mit den Fingern auf das Keyboard ihres Laptops. Welches waren ihre Bilder von Gott?

      Die Erinnerung, die dabei in ihr hochstieg, verblüffte sie. Sie war 16 gewesen und gerade von einem mehrmonatigen Aufenthalt in Griechenland zurückgekehrt. Und ihre Freundin war über das Wochenende aus der Klinik nach Hause gekommen. Charissa freute sich auf Emily – schließlich hatten sie sich den ganzen Sommer nicht gesehen –, und sie machten einen Spaziergang um den Block. Unterwegs sprach Emily über Jesus. Mit wachsendem Unbehagen hörte Charissa ihr zu. Sie wünschte, Emily würde ein anderes Thema wählen, egal was. Das Thema Jesus bereitete ihr Unbehagen.

      10 Jahre


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