Unterwegs mit dir. Sharon Garlough Brown
fragte sie.
Mara war die Einzige, die nickte. Hannah räusperte sich und begann langsam und deutlich zu lesen, gab den Wörtern Raum zu atmen. Sie konnte hören, wie Mara vor sich hinmurmelte, als versuche sie, die ersten drei Teile der Reise zu verinnerlichen. Ob Charissa und Meg zuhörten, konnte sie nicht sagen. Charissa starrte auf ihren Laptop. Meg hielt den Blick gesenkt.
„Also, wollen wir es mal versuchen?“, fragte Hannah, nachdem sie zu Ende gelesen hatte.
Mara und Charissa erhoben sich, doch Meg blieb sitzen. „Kommen Sie auch mit, Meg?“, fragte Hannah sanft.
Meg schüttelte den Kopf und deutete auf ihre High Heels. „Ich fürchte, meine Schuhe sind nicht so ganz passend. Ich habe das mit der ‚geistlichen Reise‘ wohl nicht wörtlich verstanden.“ In ihren Augen war ein Funke Leben und Humor zu erkennen. Aber nur ein Funke.
„Kommen Sie, Freundin“, beharrte Mara, ergriff Megs Hand und zog sie hoch. „Ihre Stöckelschuhe werden Sie nicht retten. Sie kommen mit uns, ob Sie wollen oder nicht.“
Hannah war verblüfft, dass Meg tatsächlich mitging.
Katherine beobachtete die Teilnehmer beim Hinausgehen. „Sie können Ihre Rucksäcke und Handtaschen auf den Tischen liegen lassen“, sagte sie. „Denn schließlich sollten Pilger ja mit möglichst leichtem Gepäck reisen.“
Als sie das Labyrinth erreichten, waren bereits ein Dutzend Leute darin unterwegs. Einige legten den Weg mit zügigen Schritten zurück. Andere bewegten sich langsam und blieben häufig stehen.
„Oh! So etwas hatte ich nicht erwartet“, bemerkte Mara in einem lauten Flüstern. „Ich dachte, es wäre eine Art Irrgarten mit Hecken oder so etwas. Aber das – sind das nur gemalte Linien auf dem Beton?“
„Sieht so aus“, erwiderte Hannah leise. Sie wollte die anderen Pilger in ihrer Andacht nicht stören.
„Na, dann hoffe ich, dass ich mich nicht verirre“, verkündete Mara trocken, bevor sie zum Ausgangspunkt schlenderte. Meg hatte eine Bank im hinteren Teil des Gartens gewählt, ziemlich gut abgeschirmt durch eine mit Spätsommerrosen überrankte Laube. Charissa ging außen herum und musterte die Menschen, die das Labyrinth abschritten.
Das Bild, das sich Hannah bot, erinnerte sie an einen langsamen englischen Volkstanz ohne Musik: Die Kursteilnehmer folgten den Linien, den Biegungen und Windungen des Pfades, gingen für eine kurze Zeit Seite an Seite und wendeten sich dann wieder voneinander ab, um der Richtung des Pfads zu folgen. Ein paar waren bereits in der Mitte angekommen. Ein Mann kniete auf dem Boden, den Kopf gesenkt; eine Frau stand mit erhobenen Armen auf dem Weg, das Gesicht der Sonne zugewandt.
Während Hannah darauf wartete, dass sich das Labyrinth wieder etwas leerte, betete sie für Mara, Meg, Charissa und Katherine. Eine Fülle anderer Gesichter standen ihr vor Augen und wollten nicht weichen, und so brachte sie auch diese Menschen vor Gott. Steve konnte sie nicht davon abhalten, wenigstens für die Menschen zu beten, die sie gezwungenermaßen im Stich lassen musste.
Steve hatte sie angewiesen, keinerlei Anrufe zu tätigen oder E-Mails zu schicken, die mit ihrer Arbeit zusammenhingen. Nancy hatte ihr aber immerhin versprochen, sie zu benachrichtigen, sollte sich etwas Wichtiges ereignen.
Der Tod wäre leichter zu ertragen gewesen.
Hannah fühlte sich wirklich ein bisschen wie ein Zombie. Sie lebte weiter, aber nicht mehr so, wie sie in den vergangenen 15 Jahren gelebt hatte.
Exil. Das war der passende Ausdruck dafür. Sie war ins Exil verbannt worden, allerdings an einen wunderschönen, ruhigen Ort. Eigentlich sollte sie dankbar sein. Aber sie war es nicht. Und dann machten sich die Schuldgefühle wieder bemerkbar. Es war ein Teufelskreis.
Hannah beobachtete, wie Charissa den Weg ins Labyrinth antrat und wünschte sich, Meg würde sich ihnen anschließen. Hör auf, hör auf, hör auf, ermahnte sie sich. Sie fing schon wieder an, Verantwortung für Menschen zu übernehmen, die sie gerade erst kennengelernt hatte. Nancy hatte recht. Hannah war so daran gewöhnt, die Lasten anderer zu tragen, dass sie nicht mehr wusste, wie man sie wieder ablegte.
Hilf mir.
Als sie endlich selbst zwischen die Linien auf dem Asphalt trat, hatten viele ihrer Mitreisenden den Weg bereits beendet. Meg und Charissa waren wieder zurück in den Seminarraum gegangen, und Mara befand sich auf der äußeren Schleife und kam auf einer der Serpentinen an Hannah vorbei. Hannah war zügigen Schrittes unterwegs, doch dann fiel ihr ein, dass es ganz und gar nicht darum ging, die Sache schnell hinter sich zu bringen, ja dass das sogar den Zweck der Übung total verfehlte. Vielleicht war ihr Tempo auch ein Hinweis auf die viel zu große Eile, die sie auch sonst im Leben an den Tag legte. Sie wurde langsamer und bat Gott um die Fähigkeit loszulassen.
Während sie betete, kam ihr eine Vision in den Sinn, die sie fast 20 Jahre zuvor gehabt hatte. Sie war damals am College gewesen, jung und leidenschaftlich in ihrem Glauben. Eines Tages, als sie in ihrem Zimmer saß und betete, sah sie sich selbst als kleines Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Die kleine Hannah rannte in den Thronsaal Gottes, um Jesus Blumen zu bringen. Hin und her tänzelte sie, hinein und hinaus. Jedes Mal, wenn sie hereinkam, legte sie Blumen zu Jesu Füßen ab. Dann eilte sie wieder hinaus, um noch mehr zu pflücken. Das ging immer so weiter, bis Jesus sie schließlich mitten in einem Durchlauf hochhob, auf seinen Schoß setzte und sanft die Arme um sie legte, sodass sie kurz dableiben musste.
„Danke für die Blumen, Hannah“, sagte er lächelnd. „Sie sind wunderschön! Aber ich würde jetzt wirklich gern hier mit dir sitzen und dich eine Weile halten.“
Hannah seufzte. 20 Jahre später würde Jesus vermutlich genau dieselben Worte zu ihr sagen. Warum nur fiel es ihr so schwer, einfach mal nichts zu tun und still zu sein?
Sie blieb stehen, blickte zur Mitte des Labyrinths und dachte an eine andere Frau, die Mühe mit denselben Dingen gehabt hatte: Martha, die Freundin von Jesus. Hannah hatte immer große Sympathien für Martha gehegt, die ihr Haus gastfreundlich für Jesus und die Jünger geöffnet hatte. Sie begriff, warum Martha sich so über ihre Schwester ärgerte, die ihr nicht dabei half, das Abendessen für ihre Gäste zuzubereiten. Hannah stellte sich vor, wie Martha in der Küche mit den Töpfen klapperte und seufzte, um Marias Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber Maria saß einfach nur bei Jesus, vollkommen unberührt von dem steigenden Blutdruck ihrer Schwester. Marthas Wut staute sich an und brach sich schließlich Bahn. Sie beschwerte sich bei Jesus über die Faulheit ihrer Schwester, beschuldigte ihn, dass sie ihm wohl ganz egal sei, und forderte ihn auf einzugreifen. „Herr, kümmert es dich nicht, dass mich meine Schwester die ganze Arbeit allein tun lässt? Sag ihr doch, dass sie mir helfen soll!“
In welchem Tonfall hatte Jesus ihr wohl geantwortet? „Martha, Martha, du bist um so vieles besorgt und machst dir so viel Mühe1.“
Wie oft hatte Jesus diese Worte in Hannahs Leben gesprochen? „Hannah, Hannah, du bist um so vieles besorgt und machst dir so viel Mühe.“
Sie seufzte erneut. Beide Schwestern lebten in ihr, und seit Jahren stritten sie miteinander. Wenn Hannah still saß und wie Maria aufmerksam auf Jesus hörte, beklagte sich ihre innere Martha, sie würde Zeit vergeuden und es gäbe doch so viel Wichtiges für das Reich Gottes zu tun. Und wenn Hannah von einem Termin zum anderen hastete und mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigte, dann warf ihre innere Maria einen nachdenklichen Blick in ihre Richtung, und sofort machten sich die Schuldgefühle bemerkbar.
„Nur eins ist nötig“, sagte Jesus zu Martha. Maria hatte den besseren Teil gewählt, indem sie bei Jesus war, und für Hannah galt dieselbe Einladung. Nachdem ihr nun jede Gelegenheit zum Dienst für andere genommen worden war, hatte Hannah alle Zeit der Welt, zu Jesu Füßen zu sitzen und aufmerksam auf ihn zu hören – und niemand forderte ihre Hilfe ein. Niemand.
Aber warum widersetzte sie sich genau der Sache, die sie doch angeblich so sehr wollte? Warum widerstand sie der Einladung, zu Jesu Füßen zu sitzen?
Als Hannah