Unterwegs mit dir. Sharon Garlough Brown

Unterwegs mit dir - Sharon Garlough Brown


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Einladung: „Kommen Sie mit auf eine geist­liche Reise.“

      Obwohl ihre ältere Schwester Rachel nicht sonderlich religiös war, rief Meg sie schließlich an und fragte sie um Rat. „Weißt du, du musst wirklich mal etwas für dich tun, Meg“, erwiderte Rachel. „Seit Mutter tot ist, lebst du ganz allein in diesem großen, alten Kasten. Außerdem weiß ich, dass du samstags keine Klavierschüler unterrichtest. Also, was hindert dich daran, an dem Kurs teilzunehmen?“

      Nach dem Telefonat mit ihrer Schwester dachte Meg noch lange über ihre Worte nach. „Es gibt gute Gründe und tiefere Gründe“, sagte ihr Pastor Dave gern. Gute Gründe, um nicht hinzugehen, hatte Meg nicht anzubringen. Und der eigent­liche, tiefere Grund?

      Sie hatte Angst.

      Aber dafür würde Rachel kein Verständnis haben, darum machte Meg erst gar keine Anstalten, es erklären zu wollen. Rachel war immer die Draufgängerin und Abenteuerlustige von ihnen gewesen. Rachel war die Tochter mit Flügeln. Meg war die Tochter mit Wurzeln.

      Einmal hatte sie ihre Flügel ausgebreitet, doch weit war sie nicht gekommen. Meg hatte ihren Freund aus der Schulzeit geheiratet, und sie war in ein Haus gezogen, das nur ein paar Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt lag. Sechseinhalb Jahre war sie Mrs Jim Crane und glücklich ohne Maßen gewesen. Und dann, an einem grauen und ungemüt­lichen Novembernachmittag, als Meg im 8. Monat mit Becca schwanger war, übermittelte ihr die Stimme eines Fremden die Nachricht, die sie in ihren Grundfesten erschütterte: „Es tut mir so leid, Ihnen mitteilen zu müssen … Ihr Mann … Unfall … Rettungswagen … St. Luke’s-Hospital. … Mrs Crane?“

      Als Meg im Krankenhaus eintraf, war es bereits zu spät.

      An diesem Abend packte sie so viel von ihrem Leben mit Jim, wie sie tragen konnte, in zwei Koffer, schloss die Haustür ab und taumelte zurück ins Haus ihrer Mutter. Sechs Wochen später war sie erneut im St. Luke’s und brachte am Heiligabend ihre Tochter zur Welt.

      In der Zeit nach dem Unfall war Meg sich selbst fremd. Nachdem sie nun nicht mehr „Jims Frau“ war, musste sie lernen, „Beccas Mutter“ zu sein. Wenn ihre Mutter zu Bett gegangen war, weinte Meg sich meist in den Schlaf. Obwohl auch ihre Mutter Witwe geworden war, als Meg erst vier Jahre alt gewesen war, hatte sie kein Verständnis für Tränen und duldete kein Selbstmitleid. „Ich konnte mir nie den Luxus gönnen, mich im Selbstmitleid zu baden“, schalt sie Meg häufig. „Und du kannst dir das auch nicht leisten. Du hast ein Baby, um das du dich kümmern musst. Werd endlich erwachsen und mach weiter.“ Und so weinte Meg im Verborgenen.

      Und jetzt, mehr als 20 Jahre später, war das Ungleichgewicht der Trauer zurückgekehrt, nur dieses Mal noch trostloser, grausamer und vernichtender als zuvor. Mutter war tot. Becca war fort. Und Jim war wieder da.

      Nach Jahren der stillen Abwesenheit war Jim wieder bei ihr, in ihren Träumen. Im Schlaf ließ ihr Unterbewusstsein Jim wieder auferstehen, und nur im Wachzustand hatte sie die Macht, ihn wieder zu begraben. Und selbst diese Macht ließ nach. Neue Trauer hatte das Unbeweg­liche bewegt, das Siegel über ihrem alten Kummer gebrochen und den Stein fortgerollt, mit dem sie das Grab ihrer Erinnerungen fest verschlossen gehabt hatte. Doch Jim blieb immer außerhalb ihrer Reichweite. Sie konnte ihm nicht folgen. Sie konnte ihn nicht halten. Und sie hatte nicht die Kraft, ihn noch einmal so zu betrauern und zu vermissen. Bitte, Herr, lass nicht zu, dass der Verlust wieder so schmerzt. Wenigstens war Becca weit fort in England. Meg wollte nicht, dass ihre Tochter ihre Qual oder ihre Tränen mitbekam.

      Und darum weinte sie im Verborgenen.

      „Du bist jetzt sechsundvierzig Jahre alt, Meg“, erinnerte Rachel sie eines Abends am Telefon. „Es wird höchste Zeit, dass du herausfindest, wer du bist, wenn du nicht Ruth Fowlers Tochter bist. Geh zu der Gruppe. Und ich sag’s noch mal: Schaff dir ein Haustier an oder so was, ja?“

      Meg wusste, dass ihre Traurigkeit nicht nur auf den Tod ihrer Mutter zurückzuführen war, auch wenn Rachel das nicht verstand. Ihre Trauer reichte tiefer als der Verlust ihrer Identität als „Tochter“. Mutters Tod war nur die Brechstange gewesen, die eine alte Kiste voller Schmerz aufgebrochen hatte.

      Es wird höchste Zeit, dass du herausfindest, wer du bist.

      Vielleicht hatte Rachel recht. Vielleicht war es an der Zeit, sich aus den Mauern ihres einsamen Hauses hervorzuwagen. Vielleicht war es wirklich Zeit für eine geist­liche Reise.

      Wenn sie nur die Kraft hätte, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

      Kapitel 2

      Die Pilgerreise beginnt

      Wie glücklich sind alle, die in deinem Haus Wohnrecht haben

      und dich dort immerzu preisen können!

      Wie glücklich sind sie, die bei dir ihre Stärke finden und

      denen es am Herzen liegt, zu deinem Heiligtum zu ziehen!

      Wenn sie durchs Wüstental wandern, brechen dort Quellen auf, ­

      milder Regen macht alles grün und frisch.

      Psalm 84,5-7

      Als Meg am zweiten Samstag im September am New Hope-Zentrum eintraf, suchte sie instinktiv nach einem Parkplatz, der so weit wie möglich vom Eingang entfernt lag. Nachdem sie ein wenig herumgefahren war, fand sie einen Platz, der von kleinen Büschen teilweise abgeschirmt wurde. Hilf mir, betete sie, als sie den Motor ausschaltete. Ihre Hand lag am Sicherheitsgurt, halb, um ihn ­auszuklinken, halb, um sich festzuhalten. Von ihrem geschützten Platz aus beobachtete sie, wie sich eine kleine Gruppe von ­Menschen vor dem Haupteingang traf. Sie fragte sich, ob auch nur einer von ihnen an diesem Morgen mit ver­gleichbaren ­Dämonen zu kämpfen gehabt hatte wie sie. Die geist­liche Reise hatte noch nicht einmal begonnen, und sie war bereits erschöpft.

      „Denk einfach an dieses alte Sprichwort“, hatte Rachel ihr gesagt. „Selbst die weiteste Reise beginnt mit einem ersten Schritt.“

      Während Meg das mit Efeu überwucherte Gebäude betrachtete, versuchte sie genügend Mut aufzubringen, um die hundert Meter über den Parkplatz zurückzulegen. Hilf mir, Gott, bitte, betete sie. Während ihre Absätze in gleichmäßigem Tempo über das Pflaster klapperten, wurde das Pochen ihres aufmüpfigen Herzens immer wilder. Als sie die Eingangstür erreichte, dröhnte ihr der Herzschlag in den Ohren.

      Eine zier­liche, grauhaarige Frau mit rundem Gesicht begrüßte sie an der Tür. „Hallo, herzlich willkommen! Ich bin Katherine Rhodes“, stellte sie sich vor und streckte beide Hände aus. Meg hatte von dieser kleinen Person eine sanfte Berührung erwartet, nicht diesen festen, beruhigenden Händedruck mit beiden Händen. Diese Frau strahlte große Entschlossenheit aus, ähnlich wie Megs Mutter. Doch im Gegensatz zu Ruth Fowler, die entschieden kühl gewesen war, ging von Katherine eine geradezu sommer­liche Wärme aus. „Kommen Sie zur geist­lichen Reisegruppe?“, fragte Katherine lächelnd.

      „Ja“, erwiderte Meg mit dünner Stimme. Sie spürte, wie sie errötete. Warum war ihr Gesicht immer heiß und ihre Hände immer kalt?

      „Ich freue mich, dass Sie da sind“, sagte Katherine. „Gehen Sie zum Ende des Flurs und dann rechts. Und bedienen Sie sich bitte mit Kaffee und Brötchen.“

      Meg verschwand erst mal in der Toilette und war erleichtert, dass sie allein dort war. Kritisch überprüfte sie ihre Erscheinung im Spiegel, drehte sich hin und her. Aber aus jedem Blickwinkel fand sie Mängel. Sie versuchte, ihre schulterlangen Locken aus dem Gesicht zu streichen, aber das ging gar nicht. Die hektischen roten Flecken an ihrem Hals waren zu deutlich sichtbar. Darum ließ sie ihre Haare wieder ins Gesicht fallen. Und ihre Kleidung? War sie mit Rock und Bluse zu elegant ausstaffiert? Katherine und die anderen, die sie gesehen hatte, waren lässig gekleidet.

      Als eine Frau in Jeans und Sweatshirt die Tür öffnete, wurde Meg klar, dass ihr keine Zeit mehr blieb, sich in Ordnung zu bringen. Heute würde es keine Gelegenheit mehr geben, die kritische Stimme in ihrem Kopf zu besänftigen. Mutters Stimme. Oder war es ihre eigene? Sie konnte es nicht sagen.

      


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