Unterwegs mit dir. Sharon Garlough Brown
Urteil.
Dawn erhob sich, ging zu ihrem Schreibtisch und suchte einen pflaumenblauen Flyer heraus. „Ich habe Ihnen ja schon vom New Hope-Zentrum erzählt“, sagte sie und reichte Mara den Flyer. „Jetzt wird dort ein Kurs angeboten, den ich Ihnen sehr empfehlen kann, eine so genannte ‚geistliche Reise‘. In diesem Kurs geht es darum, ganz unterschiedliche Übungen kennenzulernen, die Ihnen helfen, Gott zu begegnen. In einer solchen Gruppe würden Sie auch andere Menschen treffen, die auf demselben geistlichen Weg unterwegs sind. Ich denke, das wäre eine gute Sache für Sie.“
Mara überflog die Beschreibung und suchte nach einem Grund, sich gegen den Kurs zu entscheiden.
„Die geistliche Reise ist eine Pilgerreise für Menschen, die Gott näherkommen wollen. Diese Reise ist für alle gedacht, die unzufrieden sind mit einem Leben an der Oberfläche und die das Herz Gottes besser kennenlernen wollen. Wir möchten Sie mit vielfach erprobten geistlichen Übungen bekannt machen, die dem Zweck dienen, einen heiligen Raum zu schaffen für Gott.“
Mara brach ab. Da. Sie hatte es gefunden. „Das klingt … anstrengend“, wandte sie ein. „Ich fühle mich jetzt schon schuldig, obwohl ich noch nicht mal hingegangen bin.“
„Ich weiß“, erwiderte Dawn. „Aber bei geistlichen Übungen geht es nicht um anstrengende Tätigkeiten oder Regeln oder Gebote, die befolgt werden müssen. Sie sind das Handwerkszeug, das uns hilft, einen Raum in unserem Leben zu schaffen, um Gott zu begegnen. Aus uns selbst heraus können wir uns nicht verändern. Das ist Gottes Werk, seine Gnade. Und die geistlichen Übungen helfen uns, uns für das Wirken Gottes zu öffnen.“
Mara zeigte ihre Skepsis durch ein Stirnrunzeln.
„Sehen Sie es doch einmal so, Mara: Wir haben nicht die Macht, die Sonne aufgehen zu lassen, aber wir können uns entscheiden, aufzuwachen, wenn dies geschieht. Geistliche Übungen helfen uns dabei, innerlich wach zu werden für Gott.“
Mara beschäftigte sich weiter mit dem Flyer, suchte nach anderen Gründen, Nein zu sagen. Im Laufe der Jahre hatte sie viele geistliche Bücher gelesen und Bibelstudienhefte durchgearbeitet. So etwas brauchte sie nicht mehr, aber ob sie bereit war, sich mit anderen Menschen über ihr geistliches Leben auszutauschen, das wagte sie zu bezweifeln. „Ich weiß nicht so recht. Es stört mich, dass es eine Gruppe ist“, gestand sie.
„Warum?“
„Wenn ich solche Dinge allein mache, kann mich wenigstens niemand ablehnen.“ So. Sie hatte es ausgesprochen.
„Sehen Sie doch mal, wie weit Sie bereits gekommen sind“, erwiderte Dawn sanft. „Sie haben mir gegenüber vieles enthüllt, über das Sie vorher nie reden konnten, und ich habe Sie nie abgelehnt.“
Mara lächelte schwach. „Ich bezahle Sie ja auch dafür, dass Sie mich nicht ablehnen.“ Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.
„Mara, ich würde diese Gruppe nicht empfehlen, wenn ich nicht glauben würde, dass sie bereit für den nächsten Schritt sind. Ich verspreche Ihnen, Sie brauchen nur das von sich preiszugeben, was Sie möchten. Aber sie würden den Weg mit anderen zusammen gehen. Es ist nicht gut für Sie, allein zu sein, Mara. Und Sie sind fast Ihr ganzes Leben lang allein gewesen, selbst in der Gegenwart von anderen.“
Das stimmte. Mara umgab sich mit Menschen, die sie gar nicht wirklich kannte und auch niemals an sich heranlassen würde: Oberflächliche Bekannte, mit denen sie gemeinsame Interessen hatte; Menschen, die sie bei den außerschulischen Aktivitäten der Jungen kennenlernte, sogar Freunde in der Kirche. Mara hatte eine Person erschaffen, die in diesem Umfeld relativ gut funktionierte. Doch tief in ihrem Inneren war sie immer noch ein kleines Mädchen, das schreckliche Angst davor hatte, von anderen abgelehnt zu werden, wenn sie erkannten, wer sie tatsächlich war.
Als sie Dawns Praxis verließ, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sicher, sie war gefangen in ihren Ängsten, aber diese Gefangenschaft war ihr wenigstens vertraut. Was würde sie wohl entdecken, wenn sie durch die Tür ins Unbekannte trat? War ihre innere Unzufriedenheit so groß, dass sie das wagte? Mehr noch, vertraute sie Gott tatsächlich genug, dass sie die Vergangenheit loslassen und auf etwas Neues zugehen würde?
Sie wusste es nicht. Sie wusste es ehrlich nicht.
Am Donnerstagabend wartete Mara, bis die Jungen in ihren Zimmern verschwunden waren, bevor sie Tom von Dawns Vorschlag erzählte. Er war früh von seiner Geschäftsreise nach Hause gekommen und schien relativ guter Laune zu sein.
„Dawn hat mir einen Kurs im New Hope-Einkehrzentrum empfohlen“, erwähnte sie beiläufig, während sie die Reste des Kartoffelpürees in einen Plastikbehälter löffelte.
Er blickte nicht von seiner Sportzeitschrift hoch. Sie stellte die Reste in den Kühlschrank und versuchte es noch einmal. „Ich war diese Woche bei Dawn, und sie hat mir den Kurs wärmstens ans Herz gelegt. Sie meinte, er würde mir weiterhelfen.“
Er las weiter. „Was kostet der?“, fragte er. Mara hatte gewusst, dass ihn dieser Punkt interessieren würde.
„Das läuft auf Spendenbasis.“
„Und was wird da so erwartet?“ Er sah sie immer noch nicht an.
„Ich weiß es nicht. Das entscheidet man selbst, schätze ich. Die Spenden werden für die Arbeit dort eingesetzt.“
Er blätterte um. „Warum gibst du dann nicht deine Therapie auf und entscheidest dich für das kostenfreie Angebot?“
Er hatte sich schon öfter über die Kosten für ihre Therapiesitzungen bei Dawn beschwert. Er verstand einfach nicht, warum Mara unbedingt jemanden bezahlen musste, der ihr zuhörte.
„Die Besuche bei Dawn helfen mir, alles zusammenzuhalten.“ Sie hoffte nur, dass Kevin und Brian nicht lauschten.
„Was musst du denn zusammenhalten? Dein Leben ist doch nicht besonders schwierig.“ Er wies mit der Hand auf ihre neu gestaltete, erweiterte Küche. „Es gibt Menschen auf dieser Welt, die wirkliche Probleme haben, weißt du.“
Sie starrte auf ihre Fingernägel und zählte bis zehn. Natürlich, das war ja klar gewesen. Tom würde sich nicht weigern, den Kurs zu bezahlen. Er würde nur Schuldgefühle in ihr wecken, weil sie so etwas überhaupt machen wollte. Oder, wie Dawn immer wieder sagte: Mara würde sich entscheiden, auf Toms Äußerungen mit Schuldgefühlen zu reagieren.
Sie nahm die Eiscreme aus dem Gefrierschrank, bevor sie sich in ihr Schlafzimmer verzog, wo sie sich mit ihrem Lebenselixier tröstete: Reality-Fernsehen und Eis. Die Dramen und Konflikte anderer Menschen auf dem Bildschirm zu verfolgen half ihr, besser mit ihren eigenen klarzukommen.
Meg
Beschwingt eilte Meg Fowler von der Schule nach Hause. Jim Crane hatte sie für den Valentinstag zum Tanzen eingeladen! Seit Monaten hatte sie das Geld gespart, das sie mit Babysitten verdiente, in der Hoffnung, er würde sie einladen und sie könnte sich dafür ein Kleid kaufen. DAS Kleid, um genau zu sein. Das schönste Kleid, das sie je gesehen hatte: Himmelblauer Chiffon mit luftigen Rüschen am Ausschnitt.
Meg bewunderte sich im Spiegel der Umkleidekabine, drehte sich hin und her und begutachtete sich von allen Seiten. Das Kleid war noch schöner, als sie es in Erinnerung gehabt hatte, und passte perfekt zu ihren blonden Haaren und ihrer hellen Haut. Strahlend schwebte sie durch den Gang, um sich ihrer Mutter zu präsentieren.
„Das ist das Kleid, um das du so viel Wind gemacht hast?“, fragte diese stirnrunzelnd. „Du hast definitiv nicht die Figur dafür. Aber gut, es ist dein Geld. Mach, was du willst.“
Meg kehrte in die Umkleidekabine zurück, zog das Kleid aus und hängte es zurück an den Kleiderständer.
Beinahe hätte Meg den Flyer des New Hope-Zentrums weggeworfen. Doch er landete zusammen mit einem Stapel anderer Prospekte, die sie noch durchschauen wollte, auf der Küchentheke. Wenn eine Entscheidung anstand, und besonders, wenn sie sich überfordert fühlte, flüchtete sie sich oft in die Passivität. Wenn sie lange genug wartete, würden andere