Kinder des Zufalls. Astrid Rosenfeld

Kinder des Zufalls - Astrid Rosenfeld


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ja, ist doch alles sehr gleich. Ich kannte einen Chinesen. Zumindest dachte ich, er wäre Chinese. Er nannte sich Joseph, weil niemand seinen Namen aussprechen konnte. Aber er war gar kein Chinese, sondern Japaner.«

      »Aha«, sagte Terry, ohne zu verstehen, was der Japaner mit Vietnam zu tun hatte. Aber vielleicht musste man nicht alles verstehen. Vielleicht hatten blonde Frauen, die auf Schiffen herkamen, ihre eigene Logik.

      »Joseph war ein feiner Mensch. Er konnte wunderschön Flöte spielen. Ich dachte, ich würde ihn eines Tages heiraten, aber ich war bloß ein Kind und Joseph sehr alt.«

      Aus dem Radio kam nur noch ein Knistern. Charlotte drehte an den Knöpfen, vergeblich. »Jetzt gibt es gar nichts mehr. Keinen Krieg, keine Musik.« Sie blickte aus dem Fenster, Kakteen, Hügel, unendliche Weite. »Wie man hier leben kann …«

      »Was meinst du?«

      »Na ja, ist doch alles sehr karg hier. Man hat das Gefühl, dass die Zeit stillsteht, dass in fünfzig Jahren alles genauso sein wird, wie es schon vor fünfzig Jahren war.«

      »Carmen hat eine Klimaanlage, die gab es vor fünfzig Jahren nicht, es gab ja nicht mal Carmen vor fünfzig Jahren.«

      »Ach, Terry.« Sie berührte seinen Unterarm. »Du nimmst alles sehr genau, was?«

      »Aber schau doch aus dem Fenster, schau doch!«

      »Da ist nichts.«

      Wo sie nichts sah, sah er Schönheit, sah er Heimat. Wie erklärt man Schönheit? Wie erklärt man Heimat? Terry hatte keine Worte dafür. »Schau doch!«, sagte er noch einmal. Charlotte schüttelte nur lachend den Kopf.

      Städte hatte er nie gemocht. Nicht dass er viele gesehen oder dort viel Zeit verbracht hätte. Zwei Mal war er in Dallas gewesen und vielleicht sieben Mal in El Paso. Verkehr, Menschen, ja selbst die Gebäude schienen um Aufmerksamkeit zu buhlen. Ein stetes Rauschen, das ihn verwirrte.

      Sie erreichten den Bahnhof.

      »Na, dann heißt es jetzt Abschied nehmen«, sagte Charlotte und öffnete die Beifahrertür.

      »Warte!« Er griff nach ihrer Hand, spürte die weiche Haut. Auch diese Zartheit verwirrte ihn, eine andere Art Verwirrung. Die weiche Hand ließ ihn wissen, dass sie fortwollte, also ließ er los, zog den Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche, zerriss eine Streichholzschachtel und schrieb in Druckbuchstaben:

      Finsher Ranch – Terry Finsher

      PO Box 17, Myrthel Spring, Texas

      »Vielleicht möchtest du mir schreiben.«

      »Ich schreibe nie.«

      »Aber vielleicht eines Tages, irgendwann.«

      Mit einem Lächeln, das mehr war als eine freundliche Geste – das fühlte er genau –, ließ sie das Stückchen Pappe in ihrer Lederhandtasche verschwinden.

      Sein Angebot, sie zum Schalter zu begleiten, lehnte sie ab, und so blieb Terry nichts anderes übrig, als ihr den Koffer zu reichen und Lebewohl zu sagen.

      Terry sollte die blonde Frau nie vergessen. Jeden ersten Dienstag im Monat hoffte er, einen Brief oder zumindest eine Karte von Charlotte in seiner Post zu finden.

      Charlotte vergaß Terry ziemlich schnell. Doch viele Jahre später sollte sie sich wieder an den jungen Rancher aus Texas erinnern.

      Nicht vergessen und wieder erinnern sind zwei sehr unterschiedliche Dinge.

      An diesem Tag fuhr kein Zug mehr, Charlotte verbrachte die Nacht in einem Hotel in Bahnhofsnähe. Schon am frühen Abend legte sie sich in einem dunkelroten Negligé auf das Doppelbett.

      Es war eines von Dutzenden Hotelzimmern, in denen Charlotte seit ihrer Ankunft in New York übernachtet hatte.

      Sie spürte ihr Herz schlagen, schnell.

      Noch vor kurzem hatte sie in Heidelberg gelebt. Charlotte – das uneheliche Kind eines amerikanischen Offiziers und seiner badischen Haushälterin.

      Wahrscheinlich hatte der Offizier sich einsam gefühlt in dem fremden Land. Seine rechtmäßige Frau war noch in Maryland. Die Haushälterin Helga, ein hübsches, etwas ängstliches Fräulein, wärmte Jonathans Körper. Dann rückte die Ehefrau samt siebzehn Koffern und einer senilen Schwiegermutter an. Charlotte war gerade elf Monate alt. Außer einem schlechten Gewissen empfand Jonathan Foreman nicht viel für sein Kind. Doch sein Ehrgefühl gebot ihm, Verantwortung zu übernehmen, gerade so viel, dass es keine Umstände machte. Er sorgte dafür, dass Charlotte Englisch lernte und Helga ihren Posten als Haushälterin behielt. Die Ehefrau nahm weder Anstoß an Helgas Anwesenheit noch an Charlottes Existenz, obwohl sie wusste, wer der Vater des Mädchens war. Selbst die senile Schwiegermutter sah sofort die Ähnlichkeit. Man schwieg einvernehmlich.

      Ein Tag verlief wie der andere. Charlotte hatte immer gewusst, dass sie raus wollte, aus dem Haus, der Stadt, dem Land.

      Vor einem knappen Jahr war Helga an Gebärmutterkrebs gestorben. Bis zum Schluss hatte sie das Parkett des zweistöckigen Hauses gebohnert und für die Offiziersfamilie gekocht, geputzt und gewaschen.

      Nie hatte Charlotte Forderungen an ihren Erzeuger gestellt, nur genommen, was er freiwillig gegeben hatte. Erst nach dem Begräbnis der Mutter bat sie ihn um einen Gefallen.

      Es rührte den eitlen Mann, dass Charlotte seine Heimat kennenlernen wollte. Zwar konnte die junge Frau ihm nicht erklären, was genau sie dort wollte, aber das kümmerte Jonathan nicht weiter. Fast zwanzig Jahre nach ihrer Geburt erhielt Charlotte den Namen ihres leiblichen Vaters und einen amerikanischen Pass. Der Offizier und Charlotte nahmen Abschied voneinander. Auch diese letzte Umarmung war nicht mehr als eine Pose.

      Und endlich war Charlotte frei: Befreit von der Mutter, diesem bedauernswerten Wesen, die ihre besten Jahre einem Mann geopfert hatte, der ihr außer Millionen Spermien nichts hatte geben können. Helga, die Haushälterin, die es allen recht machen wollte und jede Demütigung schweigend hinnahm. Helga, die sich so leise bewegte, so leise sprach, dass man ihre Anwesenheit mühelos ignorieren konnte.

      Die Erbschaft der Mutter wurde in eine Schiffsfahrkarte und ein Bündel Dollarscheine investiert.

      Charlottes Habseligkeiten passten in einen kleinen Koffer. Zuletzt packte sie Helgas dunkelrotes Negligé ein, das Einzige, was an der Mutter nicht ängstlich gewesen war. Es schien von der Möglichkeit eines anderen Lebens zu erzählen. Dass einst auch für die Haushälterin Helga ein Türchen offen gestanden hatte. Ein Leben, in dem es ein bisschen mehr Liebe, ein bisschen mehr Freude gegeben hätte. Ein bisschen mehr als Bohnerwachs und den Samen eines amerikanischen Offiziers.

      Als freie Frau hatte Charlotte Foreman, geborene Kirchner, das Deck des Schiffes betreten. Das Herz schlug schnell.

      Er war ein Dichter. Die schwarzen Haare und die dunklen Augen bildeten einen hübschen Kontrast zu seiner blassen Haut. Im Zug nach Kalifornien las er Charlotte seine Geschichten vor. Geschichten, die nie in einem Happy End oder einer Tragödie endeten, sondern einfach zwischen zwei Gläsern abbrachen.

      Der Erzähler fand seine Titelheldinnen in Bars und Kneipen, in denen Dunkelheit herrschte. Hier schien die Sonne auch am Tag nur durch verschlossene Vorhänge. Es wurde getrunken, gevögelt und gehofft.

      »Und das ist alles so passiert?«, fragte Charlotte.

      »Nie genau so.«

      »Aber so in etwa, ja?«

      Er lachte.

      »Und sind die Frauen dir nicht böse. Zum Beispiel diese Lara. Seitenlang beschreibst du, wie sie untenrum aussieht. Das kann ihr doch nicht gefallen haben? Ich meine, falls es Lara wirklich gibt.«

      »Sag ich denn etwas Schlechtes über sie?«

      »Aber es geht doch niemanden etwas an.«

      »Laras Möse sah aus wie jede andere. Ein Loch. Wäre das besser gewesen? Lara war nicht besonders klug, nicht besonders schön, sie war nichts Besonderes. Das ist die reale Lara. Die fiktive


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