Kinder des Zufalls. Astrid Rosenfeld
besorgte Collin einen Job als Nachtportier in einem Hotel in Downtown. Die Art-Deco-Lobby war prächtig. Marmorsäulen und Skulpturen. Doch das vierzehnstöckige Hotel war nicht für seine schöne Lobby bekannt, sondern für zwei Selbstmorde, einen Mord und einen ungeklärten Todesfall. Es gab Zimmer mit Bad und Zimmer ohne Bad. Es gab Gäste, die auf der Durchreise waren, und Gäste, die auf unbestimmte Zeit hier wohnten. Ihre Barschaft reichte für ein paar Nächte oder mehrere Wochen. Das Hotel war ihre Zuflucht. Manchmal ihr letzter Halt. In den Augen vieler brannte die Verzweiflung.
Der steinerne Tresen der Rezeption und sein neues Leben schafften Distanz zwischen Collin und ihnen. Er fühlte sich gewappnet.
Der Station Wagon war repariert, und da Collin keine Miete zahlte, hatte er mehr Geld als je zuvor. Er konnte den Verzweifelten furchtlos ins Gesicht schauen. Vielleicht, so dachte er, hatte dieses ungute Gefühl ihn ganz verlassen.
Manche Gäste erzählten Collin ihre Geschichte. Jungs aus Idaho oder Oklahoma, die zum Film wollten. Geschäftsleute auf der Flucht vor Gläubigern. Spieler, die zu oft auf die falsche Zahl, auf das falsche Pferd gesetzt hatten. Frauen und Männer mit gebrochenen Herzen.
Und dann, eines Nachts, stand sie vor ihm. Nur in ein dunkelrotes Negligé gehüllt. Entschlossenheit in ihren dunkelblau umrandeten Pupillen.
»Im Zimmer neben mir weint jemand. Seit Stunden«, sagte sie.
»Das … das tut mir leid.« Die blonde Frau hatte einen seltsamen Akzent.
»Ich kann nicht schlafen. Es ist laut. Unnatürlich laut. Können Sie etwas dagegen tun?«
Collin lehnte sich weit über den Tresen, um ihr näher zu sein. Immer wieder würde er Charlotte von ihrer ersten Begegnung erzählen. »Du hattest nur ein Nachthemd an, und du sahst so … so vollkommen aus. Alles in meinem Kopf begann zu schwirren.«
»Ich habe diese Wirkung auf Männer«, sagte sie dann lachend.
»Möchten Sie ein anderes Zimmer?«, fragte Collin und versuchte, sie nicht anzustarren.
Sie schüttelte den Kopf. »Können Sie nicht mit diesem Menschen reden? Können Sie ihm nicht sagen, dass er ruhig sein soll?«
Das Weinen war schon auf dem Gang zu hören. Ein Wehklagen, das in den Ohren schmerzte.
Als Collin an der Tür klopfte, stand die blonde Frau hinter ihm. Er spürte ihre Wärme.
»Klopfen Sie fester.«
Er gehorchte. Hämmerte gegen das Holz. Niemand öffnete.
»Hier spricht das Hotel«, sagte er schließlich.
»Sie sind doch nicht das Hotel«, zischte Charlotte und stieß ihm ihren Ellbogen in die Rippen.
»Hier spricht das Management, öffnen Sie die Tür. Sonst sehe ich mich gezwungen, Gewalt anzuwenden.« Etwas Ähnliches hatte er jemanden mal in einem Film sagen hören. Es klang souverän, dachte er.
»Was soll das denn?«, fragte sie. »Haben Sie keinen Schlüssel? Einen Generalschlüssel? Sie müssen doch einen Generalschlüssel haben.«
Collin nickte.
»Dann schließen Sie auf. Worauf warten Sie noch?«
Eine Nachttischlampe brannte. Auf dem Bett lag ein junger Mann, etwa so alt wie Collin. Als sie das Zimmer betraten, verstummte er. Seine Augen waren verquollen. Seine Haare kurz geschoren.
Er richtete sich auf, blickte von einem zum anderen. »Hat man Sie geschickt? Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich dachte … ich dachte, ich könnte. Aber ich kann nicht.« Er zitterte, schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann nicht. Ich kann nicht«, wiederholte er immer und immer wieder.
Während Collin überlegte, was zu tun sei, setzte Charlotte sich neben den traurigen Mann. »Was haben Sie denn nur?« Ein Hauch von Vorwurf lag in ihrer Stimme. Collin spürte Eifersucht. Eifersucht auf den Fremden.
Ein Schritt. Zwei Schritte. Dann saß auch er auf dem Bett.
Der Zufall hatte sie hier aufgereiht.
In der Mitte Charlotte.
Zu ihrer Rechten Collin.
Zu ihrer Linken Bob.
Bob war 19 Jahre alt. Geboren in Santa Ana, Orange County. Er hatte sich freiwillig zu den Marines gemeldet. Weil sein Vater vor 26 Jahren das Gleiche getan hatte. Weil sie ihn früher oder später sowieso eingezogen hätten. MCRD San Diego, Bootcamp. Camp Pendleton, Infanterie-Training. Er war stark, mutig, ein guter Schütze. Mit Bravour hatte er seine Ausbildung absolviert. Bob, ein Marine. Wie sein Vater.
Das hier ist mein Gewehr!
Es gibt viele andere, aber dies ist meins!
Mein Gewehr ist mein bester Freund! Es ist mein Leben!
Ich muss es meistern, wie ich mein Leben meistern muss!
Ohne mich ist mein Gewehr nutzlos! Ohne mein Gewehr bin auch ich nutzlos!
Mein Gewehr verfehlt sein Ziel nie!
Ich muss schneller schießen als mein Feind, denn sonst tötet er mich!
Ich muss ihn erschießen, bevor er mich erschießt! Das werde ich!
Bob sollte jetzt eigentlich in seinem Kinderzimmer in Santa Ana liegen. Schlafend, nicht weinend.
Eine Woche lang hätte ihn seine Mutter bekochen, sein Vater stolz auf ihn sein können. Er hätte mit seiner Freundin Bridget ins Kino gehen können. Stattdessen hatte er sein Auto aus der Garage geholt und einen Brief auf den Küchentisch gelegt. Mitten in der Nacht. Wenige Worte. Er wolle bis zum Abflug allein sein. Der Vater würde es verstehen, die Mutter nicht. Bridget hatte er in diesem Moment ganz vergessen. Keinen Gruß an sie hinterlassen. Keine Schwüre, keine Versprechen. Bridget mit den erdbeerblonden Haaren und dem Lachen eines Zickleins. Sie würde wütend sein, traurig. Immerhin, sie konnte ihren Freundinnen davon erzählen: ›Er hat nicht mal Lebewohl gesagt.‹ Ein Haufen alberner Mädchen würde winzige Schreie des Entsetzens ausstoßen und ›Was für ein Schuft!‹ rufen. ›Was für ein elender Schuft! Arme Bridget. Unfassbar. Unglaublich.‹ Wie ihre eigenen Mütter würden sie klingen. Aber auch ihre Mütter klangen meist nicht wie sie selbst.
Morgen würde der Schuft nach Okinawa, Japan fliegen. Dann Vietnam.
Auf dem Weg von Camp Pendleton nach Santa Ana war die Angst gekommen, vielleicht war sie schon früher da gewesen, nur hatte Bob sie nicht bemerkt. Sie war wie ein unscheinbares Mädchen. Nicht hässlich oder hübsch genug, als dass sie einem gleich auffallen würde. Eines Tages steht sie direkt vor einem und lächelt. Dann lässt man sie nicht mehr aus den Augen.
»Geh nicht, tauch unter«, sagte Collin. »Kanada. Da kann dich niemand finden.«
Bob schüttelte den Kopf. »Vietnam. Vietnam«, flüsterte er, einer todbringenden Zauberformel gleich.
»Ich kannte mal einen Japaner. Ich dachte, er wäre ein Chinese, und ich dachte, ich würde ihn eines Tages heiraten. Aber er war sehr alt und ich nur ein Kind. Er ist tot, schon lange«, sagte Charlotte.
»War das in Vietnam?«, fragte Collin.
»Nein. Warum?«
»Ich dachte nur, weil Bob«, er zeigte auf den Soldaten, »von Vietnam gesprochen hat.«
»Er hat auch etwas über Japan gesagt. Und außerdem ist das ja alles sehr gleich, nicht wahr?«, fragte sie an beide gewandt.
Während Collin nickte, ballte Bob die Hände zu Fäusten. »Ich darf keine Angst haben«, sagte er, »keine Angst.«
»Jeder hat Angst, zumindest ein bisschen, vor … vor bestimmten Dingen«, entgegnete Collin. »Ich … ich habe Angst vor verschlossenen Türen.« Verblüfft über sein eigenes Geständnis, zuckte er zusammen.
Offenbarung. Offenbarung. Doch es folgte kein Gewitter, keine Frage. Götter und Menschen reagierten mit Gleichgültigkeit. Bob hatte nicht zugehört, und Charlotte