Abend im Paradies. Lucia Berlin
sie sich anzog.
Es war taghell, voller Sternschnuppen und die Anden neonweiß. Blut tränkte ihre Verbände. Humpelnd liefen sie vorwärts, erschöpft und mit Schmerzen.
»Lautaro hat nicht gelahmt, oder?«
»Nein.«
Und was ist mit mir?, dachte sie. Verwundet, mit Blasen von den nassen Schuhen, ihre Brust tat vom schnellen Laufen weh. Er hatte sie nicht einmal flüchtig angesehen.
»Was ist mit mir?«, sagte sie laut. »Warum bist du böse auf mich?«
Er wandte sich zu ihr, sah sie aber immer noch nicht an. Blasse graue Augen.
»Ich bin nicht böse auf dich, mi vida. Ich habe dich verdorben und beinahe mein bestes Pferd umgebracht.«
Er rief nach Gabriel. Seine Stimme kam als Echo aus dem riesigen Tal zurück, und dann war es still. Sie gingen weiter.
Verdorben? Bin ich verdorben? Wegen eines so schnellen, verwirrenden Augenblicks? Werden es alle wissen, wenn sie mich anschauen? Ist Dolores verdorben?
Lauras Blasen schmerzten so stark, dass sie ihre Stiefel auszog. Er sagte ihr, das solle sie nicht, aber sie ignorierte ihn, tat so, als würde sie die Steine und Zweige unter ihren Füßen nicht spüren.
Und wenn so viele Frauen das Risiko eingehen, verdorben zu werden, stimmt mit mir vielleicht etwas nicht, weil ich kaum mitbekommen habe, was passiert ist.
Sie musste urinieren. »Mach schon. Ich hol dich ein.« Ihre Unterhose glänzte rot, blutgetränkt. Sie zog ihre nasse Wollhose aus, warf die Unterhose weg, damit Dolores sie nicht sehen würde.
»Apúrate.«
»Mach schon. Ich habe gesagt, ich hole dich ein.«
Sie erklomm den Hügel hinter ihm, Steine rollten unter ihr weg.
»Wenn du böse bist, weil du denkst, dass ich jemandem davon erzähle, musst du dir keine Sorgen machen.« Es gab niemanden, dem sie das erzählen, den sie fragen konnte.
Er blieb stehen und hielt sie an sich gedrückt, küsste ihre Haare, ihre Stirn, ihre Augenlider.
»Nein, daran hatte ich nicht gedacht. Ich versuche, über das nachzudenken, was ich getan habe. Wie ich das wiedergutmachen kann.«
»Bitte küss mich«, sagte sie. »Ich bin noch nie geküsst worden.«
Er drehte sich von ihr weg, aber sie hielt seinen Kopf fest und legte ihren Mund auf seinen. Da öffnete seine Zunge ihre Lippen, und sie küssten sich, bis ihnen schwindlig wurde. Sie setzten sich oben auf den Hügel.
Galoppieren. Sie lauschten, riefen. Ein Antwortschrei. Gabriel auf seinem Pferd, andere Pferde mit sich führend. Ponchos und Brandy. Zigaretten für Don Andrés. Dann nach Hause, die beiden Männer weit vor ihr, sie riefen einander zu, in leichtem Galopp die Hügel hinauf und hinab durch die silbern schimmernde Nacht. Xavier war mit Dolores in der Küche. Zwei malvenfarbene Flecken auf seinen Wangen zeigten, dass er betrunken war. Don Andrés und Laura tranken ebenfalls Brandy, während Dolores Don Andrés die Beine verband. Sowohl er als auch Laura hatten Kratzer und Prellungen von der Kutsche, den Steinen, Lautaros Hufen. Don Andrés beschrieb den Unfall wie ein herrliches Abenteuer, Laura, die sein preisgekröntes Vollblut gerettet hatte. Laura war sprachlos, als sie den Wert dieses Pferdes erfuhr.
»Es muss einen Augenblick gegeben haben, als du dich dafür gehasst hast, diesen Hengst vor den Tilbury zu spannen«, sagte Xavier.
»Mehr als einen Augenblick. Das war absolut unvernünftig von mir.«
Xavier lächelte. »Papá, das ist das allererste Mal, dass du einen Fehler zugegeben hast.«
Laura zog sich aus und stieg in die kerzenbeleuchtete Badewanne. Dolores sammelte ihre Kleidung auf. »Deine Hose ist blutig. ¿Llegó la tía?« Ist deine ›Tante‹ da, deine Periode? Laura schüttelte den Kopf. Die Augen der beiden Mädchen trafen sich im Spiegel.
Laura wachte auf, angsterfüllt, weil sie sich kaum bewegen konnte, aber dann erinnerte sie sich und öffnete die Augen. Es war fast Mittag, dunkel, draußen regnete es. Ein Feuer brannte im Kamin. Dolores brachte ihr Frühstück. »Du sollst im Bett bleiben. Don Andrés hofft, dass es dir nicht allzu schlecht geht.«
»Wo ist er?«
»Er ist früh am Morgen nach Santa Barbara gefahren. Vor heute Abend wird er nicht zurücksein.«
»Wo sind alle anderen?«
»Pilar ist im Bett, krank. Teresa ist im Bett, krank. Pepe ist in seinem Zimmer und liest. Xavier ist im Wohnzimmer. Está tomado.« Betrunken, vergeben. Laura merkte, dass Dolores am Fußende ihres Bettes saß. Das liegt daran, dass wir jetzt gleich sind, verdorben, dachte sie. Dolores musste den Gedanken gespürt haben; sie sprang mit einer Entschuldigung auf.
»Perdóname, Doña Laura. Ich bin sehr müde. Der Morgen ist verwirrend gewesen.«
Laura war beschämt, streckte sich, um Dolores’ Hand zu halten.
»Verzeih mir. Es ist auf jeden Fall ein verwirrender Morgen. Zum einen ist es schon Nachmittag. Mir tut alles weh. Oh! Schau mein Gesicht an!« Im dunklen Spiegel war auf einer Wange ein grober Kratzer, ein Auge war grün und blau. Laura brach in selbstmitleidige Schluchzer aus. Auch Dolores begann zu weinen. Die Mädchen hielten einander fest, wiegten einander, und dann verließ Dolores das Zimmer.
Im Haus war es still. Der einzige Jagdhund, der im Haus bleiben durfte, lief über die glänzenden Flure, seine Krallen klickten. Ein einsames Geräusch, als klingelte ein Telefon in einem leeren Haus.
Xavier schlief im Arbeitszimmer seines Vaters. Er wachte auf, als Laura an ihm vorbeiging, um das Buch von Turgenjew zu holen.
»Da ist ja unsere edle Wilde! Atalanta, die in die eisigen Fluten sprang, um das verreckende Biest zu retten!«
»Halt die Klappe.«
»Tut mir leid, gringuita. Dir muss es scheußlich gehen. Komm, setz dich zu mir.«
Pepe tauchte in der Tür auf. Er hatte sich gerade rasiert, war blass.
»Laura! ¡Pobrecita! Welch ein furchtbarer Unfall. Geht es dir gut? Und Xavier, stimmt was nicht? Was ist los?«
»Komm rein, Pepito. Du siehst genauso schlecht aus wie wir. Hast du Angst? Deine Meinung geändert?« Xavier stand auf, schenkte drei Gläser Sherry ein, legte ein Scheit aufs Feuer.
»Es ist sicher schon spät genug zum Sherrytrinken. Wie spät ist es?« Wie auf Kommando kam ein mozo herein, um sie zu fragen, ob sie Mittagessen wollten. »Gott, nein.«
»Ich meine, wir wollen doch nichts essen, oder? Im Ernst, Pepe, geht es dir gut?«
Pepe nickte. »Ja. Ich bin nur dabei, mich zu verabschieden. Aber es ist, als wäre ich schon gegangen.«
»So geht es mir auch. Aber wenigstens weißt du, wo du hingehst. Ich sage nur auf Wiedersehen.«
»Wem?«
»Allem. Teresa. Dem Gesetz. Papá. Allem, was bis jetzt war.«
»Du meinst es ernst. Was wirst du tun?«
»So weit bin ich noch nicht. Es ist das letzte Mal, dass ich in Junquillos bin, so viel weiß ich.«
»Ai, Xavier.« Die Brüder standen da, in einer Umarmung, und dann saßen die drei schweigend beieinander. Das Feuer. Regen an den Fensterscheiben. Verwaschener gelber Aromo am See.
»¿Y tú, gringa? Du wirst wiederkommen, ganz bestimmt«, sagte Xavier.
»Nein. Werde ich nicht.«
»Natürlich wirst du das«, sagte Pepe. »Papá hat dich so gern.«
Xavier lachte. »Und Laura, wem sagst du auf Wiedersehen? Deiner Unschuld?«
»Ja, Xavier, das tue ich«, sagte Laura.
»Xavier,