Abend im Paradies. Lucia Berlin
bisschen zu schlafen.« Sie hatte diesen Blick, der sagte, dass sie einen Drink haben wollte. Allerdings hatte Laura ihre Mutter noch nie trinken sehen.
»Gute Nacht, Mama.«
Laura schaute noch einmal nach, wie es um die Dinge in der Küche stand, ging aber nicht mehr zum Fest. Ihr Vater habe sie gesucht, sagte María, aber Laura ignorierte sie. In ihrem Zimmer rief sie vor dem Schlafengehen Conchi an. Sie redeten über Quena, wie rechthaberisch und metete sie sei. Laura wusste, dass Quena und Conchi wahrscheinlich erst vor wenigen Minuten über sie gelästert hatten. Wenn sie nicht so schläfrig gewesen wäre, hätte sie Quena angerufen, um darüber zu reden, wie dumm es von Conchi war, mit Lautaro Donoso auszugehen. Er war viel zu alt, hatte Rennpferde. Er ging die ganze Nacht aus, besuchte dann die Dampfbäder und ging, immer noch im Smoking und ohne im Bett gewesen zu sein, zur Morgenmesse.
Die Mädchen trafen sich alle mit Männern, die viel älter waren als sie. Es war selbstverständlich, dass diese Männer ein anderes, völlig getrenntes gesellschaftliches Leben hatten. Mit den jungen, unberührten Mädchen vom Santiago College oder aus den französischen Schulen gingen sie zu Rugby- oder Kricketspielen, spielten Golf und Tennis. Sie führten die Mädchen in die Oper aus, in Begleitung einer Anstandsdame zum Tanz und vor dem Dinner in Clubs. Aber spätabends lebten diese Männer in einer anderen Welt, einer Welt der Nachtclubs, Kasinos und Partys, mit Geliebten oder Frauen von medio pelo. Das würde ihr ganzes Leben so weitergehen, hatte eigentlich schon begonnen, als sie noch Kinder waren. Ihre Mütter, in Pelzen, küssten sie abends vor dem Einschlafen. Aber es waren die Dienstmädchen, die sie fütterten, in den Schlaf schaukelten. María packte Lauras Sachen, während Laura sich unterhielt, und als sie mit Packen fertig war, fing sie an, Laura die Haare zu kämmen. Laura legte die Hand über die Sprechmuschel. Nein, María, du bist zu müde. Hasta mañana. Zu Conchi sagte sie, sie müsse ins Bett gehen, bevor es zu kalt würde. María hatte einen heißen Ziegel ans Fußende gelegt.
Laura wollte gerade das Licht ausschalten, als María mit Kakao zurückkam. Sie küsste Laura auf die Stirn. Buenas noches, mi doña. Von den leeren Straßen draußen hallte der Gesang des Nachtwächters wider … Medianoche y andado. Mitternacht und »gelaufen«. Andado y sereno … Heil und gesund.
Regen schlug auf das Glasdach des dunklen Bahnhofs von Mapocho. Draußen standen schwarz glänzende, schnittige Züge. Schwarze Schirme, schwarz uniformierte Gepäckträger verschwanden im weißen Rauch, der fauchend unter den Zügen hervorquoll. Fotografen waren da, nicht von den Gesellschaftsseiten, wie Conchi gehofft hatte, sondern von der linksgerichteten Zeitung. Der Bergbausenator und der Yankee-Imperialist, die unser Land plündern, beraten sich im Bahnhof Mapocho.
Die beiden Männer begrüßten einander und verabschiedeten sich. Laura stand abseits, unbeholfen, neben Don Andrés’ Sohn Pepe. Er war jung, trug eine schwarze Schuluniform. Er wippte, wurde rot, starrte seine Füße an. Xavier, der älteste Sohn, war das genaue Gegenteil. Schneidig, herablassend, in englischem Tweed. Laura mochte ihn schon jetzt nicht. Warum ist Gelangweiltsein weltmännisch? Elegante Reisende und Theaterbesucher tragen denselben gequälten Ausdruck von Ennui zur Schau. Warum kann man nicht sagen »Eine Reise? Aufregend! Wunderbares Stück!«?
Xavier und seine Verlobte Teresa stritten sich mit Teresas Mutter. Die Mutter war sehr verärgert. Don Andrés’ Schwester Doña Isabel war krank, konnte nicht kommen. Teresas Mutter fand, dass es keine angemessene Anstandsdame gab. Don Andrés überzeugte sie davon, dass seine Haushälterin Pilar zugegen sein würde, um auf Teresa und Laura aufzupassen. Besänftigt verließen die Frauen mit Lauras Vater den Bahnhof.
Don Andrés saß am Fenster auf rotem Samt. Der Schaffner und mehrere Gepäckträger standen redend und lachend bei ihm, die Hüte in den Händen. Auf der anderen Seite des Ganges saßen Xavier und Teresa Laura und Pepe gegenüber. Teresa redete in Babysprache und mit einer hohen Stimme, die nicht zu ihrer matronenhaften Gestalt passte, mit Xavier. Pepe hatte schon angefangen, einen lateinischen Text zu lesen, ehe der Zug überhaupt den Bahnhof verließ.
Xavier erzählte Laura, dass Pepe in zwei Wochen der Priesterschaft beitreten würde. Uns für immer verloren. Aber, natürlich, gefunden. Bist du katholisch? Xavier war groß, sein Haar pechschwarz, ansonsten war er seinem Vater sehr ähnlich, aristokratisch, sarkastisch. Mit größtmöglichem Takt »ordnete« er Laura »ein«. Gute Schule. Protzige Umgebung. Nein, sie kannte Europa nicht. Sie spielte Tennis im Prince of Wales. Gehörte nicht zum El Golf Club. Sommer in Viña del Mar. Sie kannte Marisol Edwards, aber nicht die Dusaillants. Ihr Französisch war gut. Du hast Sartre nicht gelesen?
»Ich habe sehr wenig gelesen. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in Bergbausiedlungen in den Staaten verbracht. Ich bin wie Jemmy Buttons«, sagte Laura. Wenigstens hatte sie Subercaseaux gelesen, wenn schon nicht Darwin.
»Eine hübschere Version des edlen Wilden«, sagte Don Andrés von der anderen Seite des Ganges. »Laura, komm, setz dich zu mir. Ich erzähl dir, wo wir sind.«
Erleichtert setzte sie sich auf den Platz ihm gegenüber, presste die Stirn an die Scheibe, kalt. An der Außenseite war das Glas vom Ruß der Dampfmaschine bespritzt. Gelbe Aromoblüten spiegelten sich im Bío-Bío-Fluss, in Seen, in Pfützen. Don Andrés nannte die Namen der Städte, an denen sie vorbeifuhren, der Flüsse, die sie überquerten, nannte die Namen der Obstbäume, erzählte ihr, was auf den Feldern gesät werden würde. Als der Schaffner vorbeikam und einen Gong fürs Mittagessen schlug, sagte Don Andrés zu den anderen, sie sollten vorausgehen. So einfach war sie, die Verkoppelung von Don Andrés und Laura für die Zeit der Ferien.
Im Speisewagen gab es mehr Kellner und Hilfskellner als Gäste, eine übertriebene Menge an Porzellan, Silberbesteck und Weingläsern für jeden Gang, endlos viele Gänge, die aus einer Bordküche gebracht wurden, die kaum einen Quadratmeter maß.
Don Andrés fragte sie nach den Bergen in Idaho und Montana, den Silber- und Zinkminen. Wie haben die Bergleute gelebt? Wo waren die Schmelzhütten? Sie war froh, dass sie über diese Orte sprechen konnte, hatte Heimweh nach ihnen. Laura hatte es ihrem Vater noch nicht verziehen, dass er den Bergbau verlassen hatte, um Manager und Politiker zu werden. Er hatte das nicht gewollt. Es war Helen, die sich so nach Glanz, Romantik und Geld gesehnt hatte. Und jetzt verließ sie, wie in den Rocky Mountains, kaum mehr ihr Zimmer.
Laura erzählte Don Andrés von der Wüste in New Mexico und Arizona. Ja, es war wie Antofagasta. Sie erzählte ihm, wie sie mit ihrem Vater in den Bergen wandern gegangen war, wie sie in den Bächen Gold gewaschen hatten. Er hatte sie in die Minen mitgenommen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Manchmal in einem normalen Aufzug im Minenschacht; in kleinen Minen auf einem großen Fass, das an einem Seil befestigt war, sie hielt sich am Seil fest, ihr Kopf auf Höhe des rauen Drillichs eines Bergmannknies. Der Geruch der Minen. Dunkel, dunkel. Wie es sich anfühlte, direkt in die Erde hineinzugehen. Der Schock, als sie in Rancagua ihren ersten Tagebau sah, die Anaconda-Kupfergrube. Die gewaltige Spalte, die Schändung.
Sie errötete bei diesem Wort. Sie hatte geredet und geredet, schwindlig vom Wein und der Aufmerksamkeit. Wie peinlich, bitte entschuldigen Sie. Ganz und gar nicht. Bezaubert. Sie und Don Andrés waren die Einzigen, die noch im Speisewagen saßen. Es gab so viele Kellner, dass sie es nicht bemerkt hatte.
Seinen Arm auf der Lehne ihres Stuhles hatte sie nicht bemerkt, wie sein Haar ihre Schulter streifte, als er ihr Glas füllte. Ohne sich ihrer selbst bewusst zu sein, ohne sich überhaupt etwas bewusst zu sein, hatte sie sich in die Gegenwart dieses Mannes hineingleiten lassen. In den Zwischenräumen zwischen den Waggons nahm er ihren Arm, um sie zu stützen, zog sie zu sich, als ein mozo mit Gepäck vorbeikam. Sie reagierte auf diese Intimitäten nicht, was sie bei jedem anderen Mann getan hätte. Sie war einfach eingehüllt.
Das würde ihr nie wieder passieren. Als sie älter wurde, behielt sie immer die Kontrolle, auch wenn sie gefügig war. Das war das erste und letzte Mal, dass jemand die Macht über sie hatte.
Pepe schlief auf der anderen Seite des Ganges von Xavier und Teresa. Sein Gesicht war blass, dunkle Wimpern verschatteten seine Wangenknochen, in den Händen hielt er einen Rosenkranz, das Lateinbuch. Xavier und Teresa spielten Canasta.
»Gut. Wir machen mit.«