Abend im Paradies. Lucia Berlin

Abend im Paradies - Lucia  Berlin


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schnaubte. »Mit welchem Geld? Solche Spieluhr-Schminkkästchen gibt’s doch sowieso nicht. Hast du jemals von einem Spieluhr-Schminkkästchen gehört?«

      Sie öffnete die Brotbüchse und nahm die zehn unverkauften Karten heraus. Sie war verrückt, kroch im Staub unter der Veranda herum wie ein sterbendes Huhn.

      »Was machst du, Hope?«

      Keuchend und zusammengekrümmt hockte sie in der Öffnung, die durch die Heckenkirsche zum Hof führte. Sie hielt die Karten hoch, wie den Fächer einer wahnsinnigen Königin.

      »Sie gehören jetzt mir. Du kannst mitkommen. Fifty-fifty. Oder du kannst hierbleiben. Wenn du mitkommst, heißt das, dass du mein Partner bist und dein ganzes Leben lang nie wieder mit Sammy reden darfst, oder ich ermorde dich mit einem Messer.«

      Sie ging weg. Ich legte mich in den feuchten Schmutz. Ich war müde. Ich wollte einfach nur da liegen, für immer, und nie wieder irgendetwas tun.

      Ich lag dort eine lange Zeit, und dann kletterte ich über den Holzzaun in die Gasse. Hope saß auf dem Bordstein an der Ecke, ihre Haare wie ein schwarzer Eimer auf dem Kopf. Vornübergebeugt wie eine Pietà.

      »Lass uns gehen«, sagte ich.

      Wir gingen den Hügel in Richtung Prospect Road hinauf. Es war Abend … die Familien waren alle draußen, wässerten den Rasen, Gemurmel von den Verandaschaukeln, die so rhythmisch knarzten wie die Zikaden.

      Hope stieß hinter uns ein Tor auf. Wir gingen über den nassen Beton auf die Familie zu. Eistee, auf den Stufen sitzen, der Absatz. Sie hielt ihnen eine Karte hin.

      »Suchen Sie sich einen Namen aus. Zehn Cent das Los.«

      Am nächsten Morgen zogen wir zeitig mit dem Rest der Karten los. Wir erzählten nichts von dem neuen Preis oder von den sechs Karten, die wir am vergangenen Abend verkauft hatten. Vor allem erzählten wir nichts von unseren Rollschuhen … zwei Jahre lang hatten wir uns Rollschuhe gewünscht. Wir hatten sie noch nicht einmal anprobiert.

      Als wir an der Plaza aus dem Bus stiegen, sagte Hope noch einmal, dass sie mich töten würde, wenn ich jemals wieder mit Sammy sprechen würde.

      »Niemals. Willst du Blut?« Wir schnitten uns immer in die Handgelenke und besiegelten Versprechen.

      »Nein.«

      Ich war erleichtert. Ich wusste, dass ich eines Tages wieder mit ihm reden würde, und ohne Blut wäre es nicht so schlimm.

      Das Gateway Hotel wie aus einem Dschungelfilm. Spucknäpfe, klickende Pankhas, Palmen, sogar ein Mann im weißen Anzug, der sich selbst Luft zufächerte wie Sydney Greenstreet. Alle wedelten uns weg, schüttelten ihre Gesichter wieder zurück hinter die Zeitungen, als wüssten sie über uns Bescheid. Menschen, so anonym wie Hotels.

      Draußen, über den hitzeweichen Teer der Straße, um einen Omnibus nach Juarez zu erwischen. Mexikaner in rebozos – sie rochen wie amerikanische Papiertüten und Candy Corn von Kress, gelb-orange.

      Unvertraute Gegend … Juarez. Ich kannte nur die verspiegelten Bars mit den Fontänen, die »Cielito Lindo«-Gitarrenspieler der Kriegswitwennächte meiner Mutter, als sie mit den »Parker Girls« ausgegangen war. Hope kannte nur die Dirty-Donkey-Filme. Mrs. Haddad schickte sie immer mit, wenn Darlene mit einem Soldaten verabredet war, damit nichts passierte.

      Wir blieben auf der in Juarez gelegenen Seite der Brücke, lehnten wie die Taxifahrer, die Verkäufer der Holzschlangen an den Jalousien von Follies Bar, drängten uns nach vorn wie sie, wenn die Touristengruppen, die wippenden Soldatenjungen von der Brücke kamen.

      Einige lächelten uns an, unsicher vor Angst, bezaubert zu sein, zu bezaubern. Zu sehr in Eile und zu verlegen, um unsere Karten anzuschauen, schoben sie uns Pennys, Fünfcentstücke, Zehncentstücke zu. »Hier!« Wir hassten sie; als ob wir Mexikaner wären.

      Am späten Nachmittag spritzten sie auseinander, verschwanden die Soldaten und Touristen von der Rampe, trappelten den Gehweg entlang in den langsamen, heißen Wind aus schwarzem Tabak und CartaBlanca-Bier, rotgesichtig, voller Hoffnung … was werde ich sehen? Sie strömten an uns vorbei, drückten uns Fünf-, Zehncentstücke in die Fäuste, ohne unsere erhobenen Karten überhaupt anzuschauen oder in unsere Gesichter zu sehen.

      Uns war taumelig, schwindlig vom nervösen Lachen, vom Wegtorkeln, blitzartigen Ausweichen. Wir lachten, mutig jetzt, wie die Verkäufer der Holzschlangen und Tonschweine. Unverschämt stellten wir uns ihnen in den Weg, zerrten an ihnen. »Oh, bitte, nur zehn Cent … Kaufen Sie einen Namen, zehn Cent … Hey, reiche Dame, lausige zehn Cent!«

      Staub. Müde und verschwitzt. Wir lehnten an der Wand, um das Geld zu zählen. Die Schuhputzerjungs beobachteten uns, machten sich über uns lustig, obwohl wir sechs Dollar verdient hatten.

      »Hope, lass uns die Karten in den Fluss werfen.«

      »Was, und betteln wie diese kranken Penner?« Sie war aufgebracht. »Nein, wir werden jeden Namen verkaufen.«

      »Wir müssen irgendwann was essen.«

      »Stimmt.« Sie rief einen der Straßenjungen … »Oye, wo kriegen wir was zu essen?«

      »Essen, mierda, gringa.«

      Wir verließen die Hauptstraße von Juarez. Man konnte sie hinter uns sehen, sie hören, riechen, ein riesiger verschmutzter Fluss.

      Wir fingen an zu rennen. Hope weinte. Ich hatte sie noch nie weinen sehen.

      Wir rannten wie Ziegen, wie Fohlen, die Köpfe gesenkt, klapper, klapper über den matschigen Gehweg, dann leichter Galopp, gedämpft. Die Gehwege aus hartem rotem Schmutz.

      Ein paar Lehmstufen hinunter ins Gavilán-Café.

      In El Paso hörte man damals, 1943, viel vom Krieg. Mein Großvater klebte den ganzen Tag lang Ernie Pyle in Einklebebücher, Mamie betete. Meine Mutter arbeitete als freiwillige Helferin im Krankenhaus, spielte Bridge mit den Verwundeten. Sie brachte blinde oder einarmige Soldaten zum Abendessen mit nach Hause. Mamie las mir aus dem Buch Jesaja vor, wie eines Tages alle ihre Schwerter zu Pflugscharen machen würden. Aber ich dachte nicht an den Krieg. Ich vermisste und verklärte einfach nur meinen Vater, der ein Leutnant irgendwo auf der anderen Seite des Atlantiks war … Okinawa. Ein kleines Mädchen, zum ersten Mal dachte ich an den Krieg, als wir ins Gavilán-Café gingen. Ich weiß nicht, warum, ich erinnere mich nur daran, dass ich an Krieg dachte.

      Es schien, als wäre jeder im Gavilán-Café ein Bruder, Cousin oder Verwandter, obwohl sie getrennt voneinander an Tischen oder an der Bar saßen. Ein Mann und eine Frau, die diskutierten, sich berührten. Zwei Schwestern, die hinter dem Rücken der Mutter flirteten. Drei Brüder, schlank, in Arbeitskleidung aus Drillich, die gebeugt und mit der gleichen, fallenden Bruder-Haarlocke über ihren Tequillas saßen.

      Es war dunkel, kühl und still, obwohl alle redeten und jemand sang. Das Lachen war ungezwungen, privat, intim.

      Wir saßen auf Hockern an der Bar. Eine Kellnerin kam, sie trug ein Tablett mit einem blaulila Pfau darauf. Ihr hennagefärbtes, an den Wurzeln schwarzes Haar war zu welligen Hügeln aufgetürmt, festgesteckt mit Kämmen aus Gold, gehauenem Silber und zerbrochenen Spiegeln. Fuchsiafarben vergrößerter Mund. Grüne Augenlider … ein Kruzifix aus blaugrünen Schmetterlingsflügeln glitzerte zwischen ihren konischen, gelben Satinbrüsten. »Hola!« Sie lächelte. Glanz der Goldkopfzähne, roter Gaumen. Umwerfender Paradiesvogel!

       »¿Qué quieren, lindas?«

      »Tortillas«, sagte Hope.

      Die Vogeldame-Kellnerin lehnte sich vor, fegte Krümel mit ihren blutroten Nägeln weg, murmelte uns immer noch in ihrem grünen Spanisch zu.

      Hope schüttelte den Kopf … »No sé.«

       »¿Son gringas?«

      »Nein.« Hope zeigte auf sich. Syrisch. Dann redete sie syrisch, und die Kellnerin hörte zu, ihr fuchsiafarbener Mund bewegte sich zu den Worten. »He!«

      »Sie


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