Abend im Paradies. Lucia Berlin

Abend im Paradies - Lucia  Berlin


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Ich schlief ein, und sie brachte mich ins Bett.

      Ich wachte auf, als meine Mutter nach Hause kam … lag wach neben ihr, während sie Käsecracker aß und einen Krimi las. Jahre später wurde mir klar, dass meine Mutter allein während des Zweiten Weltkriegs mehr als 950 Schachteln Käsecracker gegessen hatte.

      Ich wollte mit ihr reden, ihr von Mrs. Tapia erzählen, von dem Mann mit den Hunden, wie Sammy uns fifty-fifty beteiligt hatte. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter, Käsecrackerkrümel, und schlief ein.

      Am nächsten Tag gingen Hope und ich zuerst zu den Wohnungen auf der Yandell Avenue. Junge Soldatenfrauen in Lockenwicklern, Morgenmänteln aus Chenille, wütend, weil wir sie geweckt hatten. Keine von ihnen kaufte ein Los. »Nein, ich habe keine fünf Cent.«

      Wir nahmen einen Bus zur Plaza, stiegen in einen Mesa Bus zum Kern Place um. Reiche Leute … Gartengestaltung, Glockenspiele an den Türen. Das war noch besser als die alten Damen. Texanische Junior League, gebräunt, Bermudashorts, Lippenstift und June-Allyson-Pagenfrisuren. Ich glaube nicht, dass sie jemals Kinder wie uns gesehen hatten, Kinder, die die alten Kreppblusen ihrer Mütter trugen.

      Kinder mit Frisuren wie unseren. Hopes Haar floss wie dicker schwarzer Teer an ihrem Gesicht herab, meins stand vom Kopf ab wie ein buschiger, gelber Strandball, der in der Sonne Risse bekam.

      Sie lachten immer, wenn sie begriffen, was wir verkauften, gingen hinein, um »Wechselgeld« zu holen. Wir hörten, wie eine von ihnen mit ihrem Mann sprach … »Komm, das musst du dir ansehen. Richtige Straßenkinder!« Er kam wirklich, und er war der Einzige, der ein Los kaufte. Die Frauen gaben uns einfach Geld. Ihre Kinder starrten uns an, blass, von ihren Schaukeln aus.

      »Lass uns zum Busbahnhof gehen.«

      Dort waren wir schon vor den Karten gewesen … zum Zeitvertreib, um alle küssen und weinen zu sehen, verlorene Münzen zwischen dem Absatz unterm Zeitungsstand aufzuheben. Sobald wir zur Tür herein waren, stießen wir einander in die Seite, kicherten. Warum war uns das nie in den Sinn gekommen? Millionen von Menschen mit Fünfcentstücken, die nichts anderes taten, als zu warten. Millionen Soldaten und Matrosen, die eine Freundin oder eine Frau oder ein Kind mit einem Namen aus drei Buchstaben hatten.

      Wir machten einen Zeitplan. Morgens gingen wir zum Bahnhof. Matrosen hatten sich auf den Bänken ausgestreckt, die Hüte über ihren Augen gefaltet wie runde Klammern. »Hä? Ach, guten Morgen, ihr Süßen! Na klar.«

      Alte Männer saßen herum. Zahlten fünf Cent, um über den anderen Krieg reden zu können, über einen Toten mit einem Namen aus drei Buchstaben.

      Wir gingen in den Warteraum für FARBIGE, verkauften drei Namen, ehe uns ein weißer Schaffner an den Ellbogen gepackt hinauswarf. Die Nachmittage verbrachten wir im USO auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Soldaten gaben uns kostenloses Mittagessen, fade, in Wachspapier gewickelte Schinken-Käse-Sandwiches, Cola, Milky Ways. Wir spielten Tischtennis und Flipper, während die Soldaten die Karten ausfüllten. Einmal gewannen wir jede einen Vierteldollar, indem wir auf den kleinen Zähler schlugen, der zählte, wie viele Soldaten hereinkamen, während die Frau, die das normalerweise machte, mit einem Matrosen irgendwohin ging.

      Mit jedem Zug kamen weitere Soldaten und Matrosen herein.

      Die, die schon da waren, forderten die Neuen auf, unsere Lose zu kaufen. Sie nannten mich Himmel und Hope Hölle.

      Der Plan bestand darin, alle sechzig Karten zu behalten, bis sie abverkauft waren, aber wir bekamen immer mehr Geld und extra Trinkgeld und konnten es nicht einmal mehr zählen.

      Wir konnten es sowieso nicht erwarten, zu sehen, wer gewonnen hatte, auch wenn nur noch zehn Karten übrig waren. Wir brachten die drei Zigarrenschachteln mit Geld und die Karten zu Sammy.

      »Siebzig Dollar?« Verdammt. Sie setzten sich im Gras auf. »Verrückte Kinder. Sie haben es geschafft.«

      Sie küssten und umarmten uns. Jake rollte sich von einer Seite auf die andere, hielt sich den Bauch, quiekte »Gott … Sammy, du bist ein Genie, ein Superhirn!«

      Sammy umarmte uns. »Ich wusste, dass ihr es könnt.«

      Er schaute sich alle Karten an, fuhr sich mit einer Hand durch sein langes Haar, das so schwarz war, dass es beinah nass aussah. Er lachte über die Namen, die gewonnen hatten.

      PFC Octavius Oliver, Fort Sill, Oklahoma. »Hey, wo habt ihr diese Typen gefunden?« Samuel Henry Throper, Überall, USA. Das war ein alter Mann im FARBIGEN Teil, der sagte, wir könnten das Schminkkästchen haben, wenn er gewinnen würde.

      Jake ging zum Sunshine-Lebensmittelmarkt und brachte uns tropfendes Bananeneis am Stiel. Sammy fragte uns nach all den Namen und danach, wie wir es angestellt hatten. Wir erzählten ihm von Kern Place und den schönen Ehefrauen in Hemdblusenkleidern aus Chambray-Stoff, von USO, den Flipperautomaten, dem schmutzigen Mann mit den Dänischen Doggen.

      Er gab uns siebzehn Dollar … mehr als fifty-fifty. Wir nahmen nicht erst den Bus, rannten einfach ins Zentrum zu Penney’s. Weit. Wir kauften Rollschuhe und Rollschuhschlüssel, Zauberarmbänder bei Kress und eine Tüte mit roten, gesalzenen Pistazien. Wir saßen bei den Krokodilen auf der Plaza … Soldaten, Mexikaner, Alkis.

      Hope schaute sich um … »Wir könnten hier verkaufen.«

      »Nein, hier hat niemand Geld.«

      »Außer uns!«

      »Am schlimmsten wird es, die Schminkkästchen vorbeizubringen.«

      »Nein, wir haben Rollschuhe.«

      »Lass uns morgen Rollschuhlaufen lernen … hey, wir können sogar die Talbrücke hinunterfahren und die Schlacke in der Schmelzhütte anschauen.«

      »Wenn die Leute nicht zu Hause sind, legen wir sie einfach hinter die Fliegengittertür.«

      »Hotellobbys wären ein guter Ort zum Verkaufen.«

      Wir kauften tropfende Cony Islands und Rootbeer-Smoothies zum Mitnehmen. Dann war das Geld alle. Wir warteten mit dem Essen, bis wir den leeren Bauplatz am Anfang der Upson Street erreicht hatten.

      Der Bauplatz lag auf einem ummauerten Hügel, hoch über dem Gehweg, überwuchert von struppigen, grauen Pflanzen mit lila Blüten. Zwischen den Pflanzen lag überall auf dem Bauplatz zerbrochenes Glas, das die Sonne in verschiedenen lavendelfarbenen Schattierungen gebleicht hatte. Um diese Tageszeit, am späten Nachmittag, traf die Sonne den Platz in einem Winkel, in dem das Licht von unterhalb zu kommen schien, aus dem Inneren der Blüten, der amethystfarbenen Steine.

      Sammy und Jake wuschen ein Auto. Eine blaue Schrottkarre ohne Dach oder Türen. Wir rannten die letzten Querstraßen, die Rollschuhe polterten in den Schachteln.

      »Wem gehört das?«

      »Uns, wollt ihr mitfahren?«

      »Wo habt ihr das her?«

      Sie wuschen die Reifen. »Von einem Typen, den wir kennen«, sagte Jake. »Wollt ihr mitfahren?«

      »Sammy!«

      Hope stellte sich auf einen Sitz. Sie sah aus, als wäre sie verrückt geworden. Ich verstand es noch nicht.

      »Sammy – wo hast du das Geld für dieses Auto her?«

      »Ach, von hier und da …« Sammy grinste sie an, trank aus dem Schlauch und wischte sich mit dem T-Shirt übers Kinn.

      »Wo habt ihr das Geld her?«

      Hope sah aus wie eine uralte blasse gelbe Hexe. »Ihr hinterhältigen Arschlöcher!«, schrie sie.

      Da verstand ich es. Ich folgte ihr über den Zaun und unter die Veranda.

      »Lucha!«, rief Sammy, mein erster Held, aber ich folgte ihr bis zur Brotbüchse, wo sie sich hinhockte.

      Sie gab mir den Stapel ausgefüllter Karten. »Zähl sie.« Es dauerte lange.

      Mehr als fünfhundert Leute. Wir schauten die durch, hinter denen wir ein X gemacht hatten


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