Abend im Paradies. Lucia Berlin

Abend im Paradies - Lucia  Berlin


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Meine Mutter und Großpapa aßen, wenn sie überhaupt aßen, jeder in seinem Zimmer oder auswärts.

      Manchmal waren alle im Wohnzimmer. Um Jack Benny oder Bob Hope oder Fibber McGee und Molly zuzuhören. Aber auch dann redete niemand. Jeder lachte allein und starrte das grüne Auge des Radios an, so wie die Leute heutzutage den Fernseher anstarren.

      Was ich sagen will, ist, dass Hope oder ich noch nie etwas von der Sommersonnenwende gehört hatten oder davon, dass es in El Paso im Sommer immer regnete. Niemand redete bei mir zu Hause je von den Sternen, sie wussten wahrscheinlich nicht einmal, dass es im Sommer manchmal Sternschnuppenschwärme am nördlichen Himmel gab.

      Schwere Regenfälle überfluteten die Arroyos und die Abflussgräben, zerstörten Häuser in Smeltertown und spülten Hühner und Autos davon.

      Als es anfing zu blitzen und zu donnern, reagierten wir mit simpler Angst. Zusammengekauert auf Hopes Vorderveranda, in Decken gewickelt, lauschten wir voller Furcht und Fatalismus dem Krachen und Grollen. Wir konnten allerdings auch nicht wegsehen, drängten uns zitternd aneinander und ließen uns gegenseitig hinschauen, wenn die Pfeile über der ganzen Länge des Rio Grande aufleuchteten und ins Kreuz von Mount Cristo Rey einschlugen, im Zickzack in den Schornstein der Schmelzhütte fuhren, blitz blitz. Wumm. Zur gleichen Zeit brach die Straßenbahn durch einen Kurzschluss in eine Funkenkaskade aus, und alle Passagiere kamen herausgerannt, als es gerade anfing zu regnen.

      Es regnete und regnete. Es regnete die ganze Nacht. Die Telefone fielen aus, und die Lichter gingen aus. Meine Mutter kam nicht nach Hause, und Onkel John kam nicht nach Hause. Mamie machte im Holzofen ein Feuer an, und als Großpapa nach Hause kam, nannte er sie eine Idiotin. Der Strom ist ausgefallen, du Dummkopf, nicht das Gas, doch sie schüttelte den Kopf. Das verstanden wir vollkommen. Keiner Sache war zu trauen.

      Wir schliefen auf Pritschen auf Hopes Veranda. Wir schliefen tatsächlich, obwohl wir beide schworen, wir wären die ganze Nacht wach gewesen und hätten den Regenvorhängen zugesehen, die herunterkamen wie Fenster aus Glasbaustein.

      Wir frühstückten in beiden Häusern. Mamie machte Biskuit und Soße, bei Hope aßen wir kibbe und syrisches Brot. Ihre Großmutter flocht unsere Haare in feste französische Zöpfe, sodass unsere Augen für den Rest des Vormittags nach außen gezogen wurden, als wären wir Asiaten. Wir verbrachten den Morgen damit, im Regen herumzuwirbeln, bis uns kalt wurde, wir uns abtrockneten und wieder hinausgingen. Unsere beiden Großmütter kamen heraus, um zuzuschauen, wie ihr Garten gänzlich weggespült wurde, die Mauern hinab, hinaus auf die Straße. Rotes kalkhaltiges Lehmwasser schwoll rasch bis über den Gehweg an und stieg bis zur fünften Stufe der Betontreppen unserer Häuser hoch. Wir sprangen ins Wasser, das warm und dick wie Kakao war und uns mehrere Seitenstraßen weit mit sich trug, schnell, unsere Zöpfe trieben oben. Wir sprangen raus, rannten im kalten Regen zurück, an unseren Häusern vorbei und bis zum Ende der Straße, sprangen zurück in den Fluss der Straße und wurden wieder fortgerissen, noch mal und noch mal.

      Die Stille verlieh dieser Flut eine besonders gespenstische Magie. Die Straßenbahnen fuhren nicht, und tagelang sah man keine Autos. Hope und ich waren die einzigen Kinder in der Straße. Sie hatte sechs Brüder und Schwestern, die aber größer waren und entweder im Möbelladen helfen mussten oder einfach immer irgendwo anders waren. Auf der Upson Avenue wohnten hauptsächlich Schmelzhüttenarbeiter im Ruhestand oder mexikanische Witwen, die kaum Englisch sprachen, frühmorgens und abends in die Holy Family zur Messe gingen.

      Hope und ich hatten die Straße für uns allein. Zum Rollschuhfahren und Himmel-und-Hölle und Jacks spielen. Früh am Morgen oder abends gossen die Frauen ihre Pflanzen, aber die übrige Zeit blieben sie drinnen, hielten Fenster und Fensterläden fest geschlossen, damit die furchtbare texanische Hitze, vor allem aber der rote Kalkstaub und der Rauch der Schmelzhütte nicht hineindrangen.

      Jede Nacht verbrannten sie in der Schmelzhütte Holz. Wir saßen draußen unter den Sternen, und dann schossen die Flammen aus dem Schornstein, gefolgt von gewaltigen, üblen Ausstößen schwarzer Rauchwolken, die den Himmel verdunkelten und über alles um uns herum einen Schleier legten. Eigentlich war es ziemlich entzückend, die Schwaden und Wogen am Himmel, aber unsere Augen brannten, und der Geruch nach Schwefel war so stark, dass wir würgen mussten. Hope machte das immer, aber sie tat nur so. Damit man eine Vorstellung davon hat, wie beängstigend das jede Nacht war: Als in der Wochenschau im Plaza Kino die erste Atombombe gezeigt wurde, brüllte ein mexikanischer Witzbold: »Mira, die esmelter

      Der Regen hörte kurz auf, und da geschah die zweite Sache. Unsere Großmütter schaufelten den Sand weg und fegten ihre Gehwege. Mamie war eine furchtbare Haushälterin. »Sie war an farbige Haushaltshilfen gewöhnt, deshalb«, sagte meine Mutter.

      »Und du hattest Daddy!«

      Sie fand das nicht lustig. »Ich werde meine Zeit nicht damit verschwenden, diese kakerlakenverseuchte Bude sauberzumachen.«

      Aber Mamie gab sich Mühe mit dem Hof, fegte Stufen und Gehweg, goss ihren kleinen Garten. Manchmal stand sie direkt dort am Zaun, wo auf der anderen Seite Mrs. Abraham stand, aber sie ignorierten einander komplett. Mamie traute Ausländern nicht, und Hopes Großmutter hasste Amerikaner. Mich mochte sie, weil ich sie zum Lachen brachte. Eines Tages standen alle Kinder in einer Reihe am Herd, und sie gab ihnen kibbe auf frischgebackenem warmem Brot. Ich stellte mich einfach an, und bevor es ihr klar wurde, hatte sie mir ein Stück gegeben. Auf diese Weise wurde auch mein Haar jeden Morgen gekämmt und geflochten. Beim ersten Mal tat sie so, als würde sie es nicht bemerken, sagte auf Syrisch zu mir, ich solle stillhalten, schlug mir mit der Bürste auf den Kopf.

      Neben dem Haus der Haddads gab es einen leeren Platz. Im Sommer war er von Unkraut überwuchert, schlimme Disteln, durch die man nicht hindurchlaufen wollte. Im Herbst und im Winter sah man, dass der Platz mit zerbrochenem Glas bedeckt war. Blau, braun, grün. Meistens von Hopes Bruder und seinen Freunden, die mit Luftgewehren auf Flaschen schossen, aber auch von weggeworfenen Flaschen. Hope und ich suchten nach Flaschen, die wir gegen Pfand zurückbringen konnten, und die alten Frauen trugen Flaschen in ihren ausgebleichten mexikanischen Körben zum Sunshine-Lebensmittelmarkt. Aber damals warfen die meisten, wenn sie eine Limonade getrunken hatten, die Flasche irgendwohin. Ständig flogen Bierflaschen aus Autofenstern, gefolgt von kleinen Explosionen.

      Ich verstand jetzt, dass es mit der Sonne zusammenhing, die so spät unterging, erst, nachdem wir beide Abendbrot gegessen hatten. Wir waren wieder draußen, hockten auf dem Gehweg und spielten Jacks. Nur wenige Tage lang konnten wir von unserer Position dicht am Boden in dem Augenblick unter das Unkraut auf dem Platz sehen, in dem die Sonne den Mosaikteppich aus Glas traf. Sie schien in einem bestimmten Winkel durch das Glas wie durch das Fenster einer Kathedrale. Diese magische Vorführung dauerte nur wenige Minuten, ereignete sich nur an zwei Tagen. »Schau!«, sagte sie beim ersten Mal. Wir saßen da, gebannt. Ich hielt die Metallsternchen fest umschlossen in meiner verschwitzten Hand. Sie hielt den Golfball hoch in die Luft, wie die Freiheitsstatue. Wir sahen zu, wie sich das Kaleidoskop aus Farben schillernd vor uns ausbreitete, dann weich und verschwommen wurde, dann verschwand. Am nächsten Tag geschah es wieder, aber am Tag darauf wurde die Sonne nur still zu Staub.

      Irgendwann, kurz nach dem Glas, oder vielleicht war es auch vorher, machten sie die Feuer in der Schmelzhütte frühzeitig. Natürlich machten sie sie immer zur selben Zeit. Um neun Uhr abends, aber das war uns nicht klar.

      Am Nachmittag hatten wir bei mir auf den Stufen gesessen und die Rollschuhe abgeschnallt, als das große Auto vorgefahren war. Ein glänzend schwarzer Lincoln. Ein Mann saß auf dem Fahrersitz, er trug einen Hut. Er ließ das Fenster an unserer Seite heruntergleiten. »Elektrische Fenster«, sagte Hope. Er fragte, wer im Haus wohnen würde. »Sag’s ihm nicht«, sagte Hope, aber ich sagte es ihm. »Dr. Moynahan.«

      »Ist er zu Hause?«

      »Nein. Niemand ist zu Hause, außer meiner Mutter.«

      »Ist das Mary Moynahan?«

      »Mary Smith. Mein Vater ist ein Leutnant im Krieg. Wir bleiben solange hier«, sagte ich.

      Der Mann stieg aus dem Auto. Er trug einen Anzug mit Weste und einer Uhrenkette, ein gestärktes weißes Hemd. Er gab jedem von uns einen


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