Abend im Paradies. Lucia Berlin
spielen.«
Angenehm, der Rest der Reise. Draußen wurde es dunkel. Scherze und Gelächter. Das beruhigende Geräusch des Mischens von Karten. Klapp, klapp, klapp, als sie ausgeteilt wurden. Der Pfiff des Zuges, der gleichmäßige Regen auf dem Metalldach. Klick und Aufflammen des goldenen Zigarettenanzünders von Don Andrés. Seine grauen Augen, die durch den Rauch blinzelten.
Der Tee wurde von vier mozos im Smoking serviert. Ein Samowar mit Tee, eine Kaffeekanne aus Zinn, Sandwiches, cuchuflís mit Karamel. Teresa goss ein. Sie und Laura waren jetzt freundlich zueinander, unterhielten sich über Kaufhäuser. New York. Saks. Bergdorf’s.
Es war dunkel und regnete immer noch, als der Zug in Santa Bárbara anhielt. Sie wurden von Gabriel abgeholt, dem Verwalter der Farm. Ein safranfarbener Huaso in einem dicken Poncho, breitkrempiger Hut, Stiefel mit Sporen. Laura und Don Andrés fuhren im Fahrerhaus, die anderen kletterten auf die Pritsche des Lastwagens, über die eine Plane gespannt war. Gabriel und zwei andere Männer luden das Gepäck ein, Kisten über Kisten voller Lebensmittel.
Der Lastwagen war das einzige Fahrzeug am Bahnhof und auf den schlammigen Straßen. Auf dem Marktplatz gab es zwei Gaslaternen, Frauen in schwarzen Schals eilten zur Vesper in einer von Kerzen erleuchteten Kirche.
Als sie den Marktplatz verlassen hatte, war niemand mehr zu sehen. Dann stundenlang über offenes Land, auf der schlechten Straße, kein einziges Haus oder Licht, auch kein anderes Auto. Keine Windmühle, kein Telefonmast. Rehe und Füchse, Hasen und andere Feldtiere rannten im Scheinwerferlicht davon. Der Regen war das einzige Geräusch. Don Andrés und Gabriel unterhielten sich über das Pflügen, das Pflanzen, über Pferde und Schafe. Wer gestorben war, welche Männer in die Stadt gezogen waren. Santiago war die Stadt. Endlich stießen sie auf blasse, flackernde Lichter, eine Ansammlung von Hütten in einem Hain von Eukalyptusbäumen. Der Lastwagen wurde langsamer, und Don Andrés kurbelte das Fenster herunter. Eine Wolke von Aromonadelbäumen, der Geruch nach Eichenholzfeuer. Seine Tagelöhner wohnten hier. Don Andrés verwendete nicht das chilenische Wort für Bauern, roto, was kaputt bedeutet.
Dann fuhren sie weiter, eine Anhöhe hinauf, hielten vor hohen Eisentoren. Eine Gestalt in einem Umhang öffnete die Tore, winkte sie weiter, meilenweit an Pappeln vorbei, Obstgärten, die bis auf ein blassrosa Gestöber aus Pflaumenblüten kahl waren. Auf der Spitze des Hügels ließ Don Andrés Gabriel den Lastwagen anhalten. Sie stiegen im Regen aus. Weit unten im Tal stand ein steinernes Giebelhaus, gelbe Lichter spiegelten sich in einem See darunter. Sonst gab es im ganzen Umkreis meilenweit nirgendwo ein Licht, aber überall pulsierten im Dunkeln die gelben Haine der Aromobäume. Laura war ergriffen von der majestätischen Aussicht, der Stille, aber sie lachte.
»In einem amerikanischen Film würde man jetzt sagen: All das gehört mir.«
»Aber es ist ein Schwarz-Weiß-Film. Ich kann nur sagen, dass es all das bald nicht mehr gibt.«
Zurück im Lastwagen fragte sie ihn, ob es eine Revolution geben würde, ob die Kommunisten je an die Macht kommen könnten.
»Claro que sí. Das wird bald geschehen.«
»Mein Vater sagt, es kann nicht passieren.«
»Dein Vater ist sehr naiv. Aber das macht natürlich seinen Charme aus.«
Im kopfsteingepflasterten Hof bellten Hunde. Vor der Lampe und dem Kerzenlicht, das aus der offenen Tür fiel, waren die Silhouetten Dutzender Bediensteter zu sehen. Im Inneren, unter persischen Teppichen in üppigen Farben, leuchtete der Parkettboden. Dunkle spanische Gemälde, blasse Gesichter verträumt im Kerzenlicht. Pilar, eine alte Frau, gab allen die Hand. Don Andrés sagte ihr, sie wäre Teresas Anstandsdame, sie sollte Teresa in ihr Zimmer bringen und auspacken. Wo ist Dolores?
Aquí, señor. Ein schönes, grünäugiges Mädchen, nicht viel älter als Laura, mit schwarzen Zöpfen bis zur Hüfte. Sie solle sich um Laura kümmern, sagte er. Laura folgte dem Mädchen die geschwungene Treppe hinauf. Die beiden sprangen leichtfüßig die Stufen hinauf, wie Kinder. Laura versuchte sich vorzustellen, wie das Haus gebaut worden war, wie das Material oder die Arbeiter überhaupt an diesen entlegenen Ort gekommen waren … wie zur Errichtung der Sphinx. Immer wieder blieb sie stehen, um sich die Wandteppiche und Schnitzereien anzusehen. Dolores lachte. »Warte, bis du dein Zimmer siehst!«
Ein Brokatbett mit Vorhang, ein blau gekachelter Kamin, ein ovaler Spiegel über einer antiken Truhe. Das Bad war aus Marmor, das Licht dutzender Kerzen wurde von den Spiegeln zurückgeworfen. Das Wasser war lauwarm, aber neben dem Bett standen kupferne Eimer voll mit kochendem Wasser.
Die welligen alten Glasfenster und die gelben eingetrübten Spiegel verstärkten noch die Illusion eines Traums. Dolores verschwand aus dem Spiegel, aber ihre Stimme war noch da, weich, der Singsang der Huasos. »E’ una hora, ma’ o meno’«, antwortete sie auf die Frage, wann das Abendessen fertig sei. Sie packte Lauras Sachen aus und legte noch ein Scheit aufs Feuer. Sie stand abwartend da, bis Laura nickte. Gracias. Allein zurückgeblieben, zitterte Lauras Spiegelbild; eine alte Sepiafotografie, die im Flackern der Lichter schwankte.
Die anderen waren bereits im riesigen Wohnzimmer. Ein Feuer brannte. Teresa saß am Flügel und spielte Chopins »Regentropfen-Prélude«. Sie spielte es in diesen Tagen ständig. Wann immer Laura sich an Junquillos erinnerte, ging ihr die Melodie wieder und wieder durch den Kopf. Don Andrés reichte ihr ein Glas Sherry.
»Ich bin in dieses Haus verliebt, wie eine englische Gouvernante!«
»Geh nicht in den Ostflügel!« Xavier lächelte. Laura konnte ihn ein bisschen besser leiden, lächelte zurück.
»Ich habe es meinen Träumen entsprechend gebaut«, sagte Don Andrés, »wie in französischen und russischen Romanen. Das Land selbst ist der reinste Turgenjew.«
»… Die Leibeigenen, ja«, sagte Xavier.
»Keine Politik, Xavier. Laura, mein Sohn ist ein Sozialist, ein Möchtegern-Revolutionär. Ein typischer chilenischer Anarchist, redet von der Not der Massen, während ein Diener seinen Mantel bürstet.« Xavier sagte nichts, trank. Pepe blätterte die Noten am Klavier um.
»Laura, was meinst du, wie du dich erst in meine Kutschen verlieben wirst! Ich sammle sie. Du kannst Becky Sharpe, Emma, Madame Bovary spielen.«
»Ich kenne keine davon.«
»Eines Tages wirst du das. Und auf diese Weise wirst du das Buch sinken lassen und an meinen Landauer und mich denken.«
(Oh. Stimmt.)
Auch im Speisezimmer gab es Kamine. Zwei mozos bedienten sie, tauchten auf, von wo immer sie sich gerade aufhielten, und verschwanden in den Schatten des Raums.
Pepe war lebhaft und heiter. Seine Stute hatte gefohlt, es gab Dutzende junge Lämmer. Er und sein Vater sprachen über verschiedene Ereignisse auf dem Besitz … die Tiere, Vögel und Toten unter den Tagelöhnern.
Nach dem Essen spielten Xavier und Teresa im Wohnzimmer Backgammon, Pepe und Laura tranken mit Don Andrés im Arbeitszimmer Brandy und Kaffee. Ein kleines Feuer, das von einem mozo unterhalten wurde, der aus dem Flur hereinkam, sobald es anfing zu schwelen oder ein Scheit mit einem Funkenregen in sich zusammenstürzte.
Zu dritt lasen sie laut vor. Neruda. Ruben Daríos Sonatine »La princesa está triste. La princesa está pálida«.
»Lasst uns Turgenjews Erste Liebe lesen. Du fängst an, Pepe, aber mit mehr Gefühl. Du wirst ein perfekter Priester werden, so eintönig, wie du redest.«
Als Laura an der Reihe war, tauschte sie mit Pepe den Platz, um neben der Lampe zu sitzen. Während des Lesens schaute sie von Zeit zu Zeit zu den beiden Männern ihr gegenüber auf. Pepes graue Augen waren geschlossen, aber Don Andrés’ Augen schauten in ihre, als sie vorlas, wie Zoraida einen Wollfaden um die Hand des armen Vladimir wickelte.
Oh, ihr zarten Gefühle, ihr sanften Töne, du Herzensgüte, wenn die bewegte Seele zur Ruhe kommt und sich freudig den Aufwallungen erster Liebesregungen hingibt, wo seid ihr?
»Pepe schläft.