Ende einer Welt. Claude Anet
fiel vor ihm zum Flusse ab, und drüben am anderen Ufer lag der heilige Boden, den keiner, außer an den Tagen der religiösen Feste, zu betreten wagte. Wohl hätte No dem linken Ufer dieses Flusses folgen können, doch er war jung, knapp achtzehn Jahre, und abergläubischer Schrecken erfüllte seine Seele. Konnte er, ein Kind, wissen, wie man sich gegenüber den unsichtbaren Mächten, die uns umschleichen, zu verhalten hat? Noch war er in die Reihe der Eingeweihten nicht aufgenommen, noch war er nicht im feierlichen Zuge ins Innere jener Grotte geführt worden, die sich in den nahen Felsen barg. Die bösen Geister, die die Gegend durchirren, beunruhigten ihn mehr als alle wilden Tiere, denen er begegnen konnte. So sprang er lieber den halben Abhang entlang über die Steine, auch hier wohl darauf bedacht, alle Gebüsche, von denen bekannt war, daß sie den Geistern zur Wohnung dienten, im Bogen zu umgehen.
Endlich stieg er doch ins Tal nieder, schritt noch etwa fünfhundert Schritte dem Flußlauf entgegen, durchquerte hier in einem kleinen Kahn, den er an einem Baum befestigt fand, mit einigen Ruderschlägen das Wasser und landete auf dem gegenüberliegenden Ufer unter einem vorspringenden Felsen, der gegen Osten zu lag.
Er kletterte durch das Geröll aufwärts, bis er eine breite Terrasse erreicht hatte. Hier, unter dem Schutze eines überhängenden Felsens, war die Nacht noch dunkler. Sechs Feuer brannten mit ruhiger Flamme in gleichmäßigen Abständen voneinander, und ihr Lichtschein fiel auf ebensoviel Hütten, deren Vorderwände in senkrechten Streifen mit lebhafter Farbe bemalt waren. Alles andere verschwamm in der Finsternis. Überall herrschte tiefe Ruhe. Bloß das leise Wimmern eines Kindes oder das tiefe Schnarchen eines Schläfers unterbrach manchmal die Stille. Keinen Wächter gab es vor diesen Wohnstätten, in denen sechs Familien hausten, ein Zeichen für die Sicherheit, in der die Menschen am Flusse seit Jahrhunderten lebten. Die lohenden Flammen vor dem Eingange jeder Hütte genügten, um die Hyänen zu verscheuchen, die sich nachts frech der Niederlassung der Menschen näherten. Das Knacken ihrer starken Kiefer, die die Knochen zernagten, die tagsüber aus den Hütten geworfen worden waren, verriet ihre nächtliche Anwesenheit.
No schlüpfte, ohne zu zögern, in eine der mittleren Wohnstätten. Wie leise er auch eintrat, das scharfe Ohr des Mannes, der nahe dem Eingange lag, vernahm sein Geräusch, der Schläfer richtete sich auf und fragte mit gedämpfter Stimme:
»Etwas Neues?«
»Nichts«, antwortete No. »Ich war weit genug und fragte alle, denen ich begegnete. Den ganzen Fluß entlang ist man beunruhigt.« Er fügte in verändertem Tone hinzu: »Dies hier habe ich erlegt.«
Er zog den Zobelmarder aus seinem Wams und reichte ihn dem Vater hin, der ihn prüfte.
»Ein schönes Stück«, urteilte Timaki befriedigt. Er warf das Tier in den Hintergrund der Hütte, legte sich wieder nieder und setzte seinen Schlaf fort. No hockte indessen beim Feuer nieder, holte ein Stück Fleisch unter einem heißen Stein hervor und begann zu essen. Nach beendetem Mahl ging er einige Schritte weit bis zu einem kleinen Bächlein, das zwischen zwei Hütten rieselte, trank in durstigen Zügen und ließ sich das Wasser noch über Gesicht und Hände laufen. Er blieb eine Weile in den Anblick des aufgehenden Mondes versunken, der auf einer flachen Kuppe, hinter der er hervorkam, zu ruhen schien. Er lauschte den vielstimmigen Geräuschen der Nacht, deren Bedeutung ihm bekannt war. In weiter Ferne klang die Stimme eines jagenden Uhus. Leichtes Knistern in einem Gebüsch verriet ihm ein Tier, das zum Flusse abwärts stieg. »Ein Eber«, murmelte No.
Er trat in die Hütte zurück, schlüpfte in seinen pelzgefütterten Sack, der neben dem seines Vaters lag, und schlief augenblicklich ein.
Im Osten zeigte sich schon ein heller Streifen am Himmel. Heftiger Frost herrschte. No schreckte unruhig aus seinem Schlafe auf und rief:
»Ich habe sie gefunden, während der Nacht habe ich sie gefunden! Ich folgte ihren Spuren, bis mir der Atem versagte.« Und er keuchte wie nach einem rasenden Laufe. »In dieser Richtung, der Quelle des Flusses zu, sind sie davon.«
Und sein Arm wies gegen Nordost.
»Ich werde es sofort dem Häuptling melden«, entgegnete Timaki, der damit beschäftigt war, das Feuer anzufachen.
Durch den Klang ihrer Stimmen geweckt, erhoben sich zwei Frauen, die im Hintergrund der Hütte geschlafen hatten, und kamen zu No. Die ältere war Bahili, eine stattliche Matrone, deren faltiges Gesicht und deren Augen voll Güte waren. Sie näherte sich ihrem Sohn. Stolz und bewundernd blickte sie auf ihn. Wo fand man im ganzen Stamm der Bären, der wegen der Schönheit seiner Männer berühmt war, einen Jüngling, der herrlicher gewachsen, stärker und gelenkiger war? Sicherlich konnte seine Mutter auf ihn stolz sein. Doch ihr Herz krampfte sich schon jetzt bei dem Gedanken zusammen, daß es die letzten Monate waren, die sie gemeinsam verlebten. Im Sommer sollte er zum Manne geweiht und dadurch von ihr getrennt werden.
Hinter ihr reckte ihre Tochter die Arme. Drei Jahre jünger als No, war sie doch wie eine Gerte emporgeschossen, schon entwickelt, mit leicht geschwungenen Hüften. Ihr kleiner Kopf mit den reizvoll feinen Zügen wiegte sich auf einem langen, schmalen Hals. Mah war ihr Name, und nur ein Jahr noch blieb ihr bis zum Hochzeitsreigen. Sie gähnte und zeigte dabei gesunde Zähne, so weiß wie die Narzissen auf der Wiese, und ihr Gähnen ging in ein Lächeln über, mit dem sie ihren Bruder begrüßte. So oft es die gerade in dieser Hinsicht sehr strengen Sitten des Stammes erlaubten, suchte sie seine Gesellschaft und begleitete ihn, wenn er in der Nähe der Hütten umherstreifte. Die Geschwister hatten übrigens eine große Ähnlichkeit, an ihr war Anmut, was bei ihm Kraft war, doch beiden gemeinsam war die freie Haltung, Geschmeidigkeit und Ausdauer, die selbst bei diesem Volk der Jäger, das in langen Märschen und schnellem Lauf geübt war, in solcher Vollendung überraschten. Oft nahmen sie am Spätnachmittag, wenn No Zeit fand und das Wetter günstig war, ihre Harpunen und gingen zum Flusse hinab. Wenn sie dann bei Einbruch der Dämmerung zurückkehrten, glänzten ihre Augen vor Freude, und sie trugen viele prächtige Fische heim, deren Schuppen perlmutterfarbig schimmerten. Die Frauen, an denen sie vorüberkamen, blickten No bewundernd nach, die Männer aber, deren Augen Mah verfolgten, sprachen zueinander: »Glücklich derjenige, der sie als seine Frau entführen wird.« –
Timaki kauerte mit einigen anderen Männern des Stammes am Rande der Terrasse. Sie betrachteten die bleiche Sonne, die auf dem noch winterlichen Himmel ihren Lauf begann. No gesellte sich zu ihnen, denn er mußte Mutter und Schwester die Hütte überlassen, damit sie in Ruhe ihre Morgentoilette beenden konnten. Auch Nos Bruder, der kleine, sechsjährige Knabe, wurde hinausgeschickt, um mit seinen Altersgenossen zu spielen. Nur diese drei Kinder waren Bahili geblieben, und sie war noch glücklich darüber, von sieben Kindern, die sie gehabt hatte, diese behalten zu haben, denn die Säuglinge des Stammes starben in großer Zahl. Allein in der Hütte, entledigten sich die Frauen ihrer Kleider und bestrichen ihre Körper mit feinem Fett, das von wohlriechenden Kräutern duftete, die lange darin gelegen hatten. Die Haare Bahilis waren aufgesteckt und mit kleinen, dünnen Knochen befestigt. Mah dagegen trug sie offen über die Schultern und flocht sie nur zuweilen in Zöpfe.
Als Mah aus der Hütte heraustrat, war sie wie ihr Bruder gekleidet, aber ihr Wams, das nicht so eng anlag, war am Halsausschnitt mit Blaufuchs verbrämt. Zierliche, kleine Knochenstifte, durch Lederösen gesteckt, schlossen es über ihrer jungen Brust. Sie ließ sich mit ihrer Mutter, die den von No erlegten Marder mit herausbrachte, vor der Hütte nieder. No trat zu ihnen.
»In diesem Sommer,« sprach er zu den Frauen, »wenn die Händler vorbeikommen, werden wir gewiß zwei Halsketten für unsere Felle erhalten. Eine benötige ich für den Tag, da ich jenen Ort betreten werde, den man nicht nennt, die andere aber soll für dich sein, Mah.«
Mah klatschte zum Zeichen ihrer Freude in die Hände und begann das Tier abzuhäuten. Sie hatte für diese Arbeit eine ganze Anzahl verschiedengeformte, geschärfte Steine vorbereitet, die zum Abschaben dienten. No saß dabei und aß ein Stück Fisch, während die Frauen fleißig arbeiteten. Er hatte den Marder getötet und damit seine Mannespflicht erfüllt. Nun war es Sache der Frauen, das Fell zu bearbeiten. Bahili und Mah verstanden dies vortrefflich. Durch ihre stete Achtsamkeit verhüteten sie es, daß die Haut zusammenschrumpfte und spröde wurde. Sie wußten sie weich und geschmeidig zu erhalten, und das Pelzwerk behielt, wenn sie es sorgfältig behandelt hatten, stets seinen natürlichen Glanz. Es